Nelkenblatt

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Nelkenblatt
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Über dieses Buch

Die alte Elsa braucht nach einer Herzoperation eine Rundumbetreuung, ins Pflegeheim wollte sie nicht. Jetzt steht da in ihrer Küche Pina, eine junge Migrantin, Flüchtling aus politischen Gründen, die ihr Studium unterbrochen hat. Sie soll im Haus wohnen und Elsa helfen vom Aufwachen bis zum Einschlafen.

Oder mehr als helfen: Elsas Tochter Luzia weiß genau, was für ihre Mutter gut ist, sie müsse unbedingt mehr essen und jeden Tag an die frische Luft. Sicherheitshalber schickt sie Rezepte per SMS.

Aber Elsa mag sich nichts vormachen, sie spürt ihre innere Uhr. Viel lieber will sie Pina kennenlernen, woher sie kommt, warum sie im Exil ist, wie ihre Mutter gestorben ist, ob sie liebt oder geliebt hat. Und so entsteht eine feine Verbindung zwischen den beiden Frauen, der jungen Pina, die eine Krise des Exils durchlebt, und Elsa, die ihrem letzten Aufbruch entgegensieht.


Foto EJY/Limmat Verlag

Yusuf Yeşilöz, geboren 1964 in einem kurdischen Dorf in Mittelanatolien, kam 1987 in die Schweiz. Heute lebt er mit seiner Familie in Winterthur und arbeitet als freier Autor, Übersetzer und ­Filmemacher. Seine Bücher wurden mehrfach ausgezeichnet und in mehre­­­re Sprachen übersetzt. Sein Roman «Hochzeitsflug» wurde 2020 von Gitta Gsell unter dem Namen «Beyto» ­verfilmt.

Yusuf Yeşilöz

Nelkenblatt

Roman

Limmat Verlag

Zürich

Luzia lehnte sich mit einer Tasse Kaffee in der Hand an die marmorne Küchenablage.

«Mama, Pina hat gute Referenzen. Frau Stalder lobt sie in höchsten Tönen», sagte sie und betonte die letzten beiden Wörter etwas überdeutlich.

Ihre Mutter Elsa saß am runden, lackierten Tisch. Luzia setzte sich zu ihr und stellte die Tasse auf einen Untersatz neben der vollen Wasserkaraffe.

Pina stand unsicher da. Die Vermittlerin hatte ihr gesagt, vielleicht würden es sechs Monate, vielleicht aber auch nur ein paar Tage sein, man wisse ja nicht, wie lange die betagte Frau noch lebe.

«Wer ist Frau Stalder?», fragte Elsa Gubler mit leiser Stimme. Ihr Blick war auf Pina gerichtet.

«Das ist die Frau, die Pina für uns gefunden hat. Mama, weißt du das nicht mehr? Frau Stalder hat dich vor drei Wochen in der Klinik besucht. Sie schreibt, dass sie für dich eine sehr kompetente und vertrauens­würdige und vor allem liebenswürdige Person gefunden hat. Soll ich es dir vorlesen?»

«Ach so, diese Frau …»

«Soll ich dir zwei, drei Sätze über Pina vorlesen, Mama?»

«Warum willst du mir die vorlesen? Muss das unbe­dingt sein?»

«Überhaupt nicht, Mama. Aber du warst ja sehr skeptisch, dich von einer fremden Person pflegen zu lassen.»

«Ich wollte meine Selbständigkeit in meinen vier Wänden nicht aus der Hand geben, Luzia. Das war der Grund meiner Ablehnung. Nicht, weil ich mich nicht mit einer Betreuerin anfreunden wollte. Der nächste Schritt ist, dass ich gefüttert werde wie ein junger Vogel. Auch das kommt noch auf mich zu.»

Sie lachte über ihren eigenen Satz.

«Mit ihr anfreunden musst du dich nicht gerade, ihr müsst euch einfach verstehen. Das ist das Mindeste, was ich verlange. Es ging ja allein nicht mehr, Mama …»

Elsa schnitt ihr das Wort ab.

«Wir werden sehen. Ich bin sowieso im Warteraum des Todes, Luzia, weißt du, was in mir passiert?»

«Mama, wir wollen dich noch lange bei uns haben. Manuels Praktikum ist in sieben Wochen fertig. Dein lieber Enkel will dir noch von seinen Erfahrungen in Wien erzählen. Er ist dort glücklich.»

«Bleibt er noch so lange dort?»

Luzia kam auf das Schreiben zurück.

«Mama, laut Frau Stalder hat Pina sehr gute Refe­renzen, sie passt gut zu dir, sie schreibt, dass Pina …»

«Nicht nötig, Luzia, nicht nötig, mir das Schreiben vorzulesen. Ich kann Pina ja nicht mehr zurückschicken. Es ist bereits entschieden, dass sie bei mir ist. Ich und sie, wir zwei Schicksalsgenossinnen werden uns finden müssen. Lass mich ins Gesicht von Pina schauen. Mein erster Eindruck ist die beste Refe­renz.»

Luzia und Pina, die sich jetzt hinsetzte, aber etwas Abstand zum Tisch hielt, schauten einander an und lächelten.

«Hat diese Pina je einen Garten gehabt?», fragte Elsa, während sie mit zittrigen Händen das Wasserglas aus Luzias Hand nahm.

Luzia lachte gekünstelt.

«Das weiß ich nicht, Mama. Das musst du sie selber fragen. Sie kann gut Deutsch, das war uns wichtig.»

Pina warf ein: «Ja, meine Mutter hatte im Dorf einen schönen, gepflegten Garten. Nachbarinnen sind oft vorbeigekommen, um ihn zu bewundern.»

Elsa trank einen Schluck Wasser, Luzia nahm ihr das Glas aus der zitternden Hand.

«Was hatte sie alles im Garten?», fragte Elsa, während sie auf den Holztisch starrte.

«Ich erinnere mich an ihre vielen Nelken. Lilien. Auch Sonnenblumen.»

«Weiß Pina, wie zerbrechlich Nelkenblätter sind?»

Pina schaute sie an und lächelte.

«Wie zerbrechlich sind sie? Sagen Sie es mir!»

«So zerbrechlich wie ein Herz.»

«Das ist die beste Referenz für Pina.»

Elsa streckte ihre Hand aus, nahm die rechte Hand ihrer Betreuerin zwischen ihre beiden und schaute ihr in die braunen Augen.

Elsa sprach leise, es war unklar, zu wem.

«Wäre Pina eine Böse, habe ich mir gestern gedacht, wäre sie nicht bereit, eine alte, schwache Frau zu pflegen.»

Luzia begleitete Elsa ins Bett. Pina schaute zu, wie die Tochter, die sie um die fünfzig schätzte, ihrer Mutter vorsichtig aus dem Rollstuhl half und sie ins Bett legte. Sie deckte sie halb zu, stellte mit einer Fernbedienung das Kopfende des Pflegebetts höher und legte ein dünnes Buch mit gelbem Umschlag auf ihren Schoß. Elsa hielt die Augen geschlossen. Ihr breites, reifes Gesicht war bleich.

Als Luzia sie fragte, ob sie noch etwas brauche, öffnete sie kurz die Augen. Aber statt zu klagen, wie Pina erwartete, verlangte sie ihren Lippenstift und den ovalen Spiegel, der auf dem Nachttisch lag. Luzia hielt den Spiegel, Elsa legte mit zitternden Händen eine dünne Schicht auf. Ihre Lippen glänzten im Deckenlicht. Sie reichte den Lippenstift zurück und schloss die Augen. Pina nahm ihn ihr aus der Hand und begann, Elsa zu bewundern.

*

Zurück in der Wohnküche, nahm Luzia eine Sichtmappe aus ihrem Rucksack und legte mehrere Blätter auf den Esstisch. Es ergäben sich viele Formalitäten, meinte sie, darunter auch welche für die Behörden. Verträge und sonstiger Papierkram. Ihr sei es sehr wichtig gewesen, dass ihre Mutter sie akzeptiert habe, und sie sei glücklich darüber, dass Elsa, die stur wie ein Bock sein könne, kein Theater gemacht habe.

Pina setzte ihre Unterschrift auf sieben Blätter. Luzia händigte ihr eine Geldbörse, ein liniertes Notizheft und einen leeren Briefumschlag aus, darin habe sie die Quittungen der eingekauften Waren aufzubewahren. Sie müsse auf jede Quittung eine Nummer schreiben und diese ins Heft eintragen, zusammen mit dem Datum, dem Betrag und den Einkäufen. Luzia habe für ihre Mutter eingekauft, bevor sie ins Krankenhaus gekommen sei, aber weil sie momentan kaum etwas Richtiges esse, habe sie später fast alles entsorgen müssen, was sie sehr bedaure, da vielerorts Menschen sehr viel Mühe hätten, überhaupt etwas zu essen zu finden. Pina müsse darauf achten, dass nicht zu viel eingekauft werde. Mutter werde wahrscheinlich wie ein Vögelchen essen wollen. Pina solle aber schauen, dass sie mehr esse und zu Kräften komme.

«Ich gebe mir Mühe», sagte Pina.

Luzia reichte ihr noch eine Liste von Dingen, die Elsa noch einigermaßen esse: Suppen, Omelette, pürierte Kartoffeln, hart gekochte Eier, ab und zu weich gekoch­tes Gemüse, Pudding jederzeit. Sehr reichhal­tig sei die Liste nicht, fand Pina. Luzia sagte, sie könne sich selbst gerne etwas anderes gönnen.

«Mir ist auch wichtig, Pina, dass es dir gutgeht», fügte sie mit Nachdruck hinzu.

«Du kannst dir sicher sein, dass ich mit deiner Mutter so umgehe, als wäre sie meine eigene», antwortete Pina.

Luzia schaute auf ein Blatt. Elsa sei erst heute aus der Klinik nach Hause entlassen worden, und auch nur, weil Luzia den Ärzten beweisen konnte, dass sie eine Betreuung gefunden hatte. Ansonsten hätte man sie in ein Pflegeheim verlegen müssen, was Elsa auf keinen Fall wollte. Eine Betreuung zu Hause sei das kleinere Übel. Ihre Mutter sei noch sehr müde von einem Eingriff am Herzen, sie habe an Vorhofflim­mern gelitten. Ein sogenanntes Schirmchen sei ihr einge­setzt worden, das sie vor einem Schlaganfall bewah­ren solle. Das Schirmchen riegle den Gefah­renbereich ab und schütze vor der Bildung von Blutgerinnseln.

Als sie sah, dass Pina mit den Begriffen überfordert war, sagte Luzia, sie sei auch nicht vom Fach, das alles habe ihr der Arzt geschrieben. Sie steckte die Papiere in ihre Tasche, stand auf und zog ihren sandfarbenen Mantel an, den sie zuvor über die Stuhllehne gelegt hatte.

Die letzten zwei Jahre sei sie fast nur mit der Mutter beschäftigt gewesen, erzählte sie weiter, und sie hoffe, sich dank Pina eine Verschnaufpause gönnen zu können. Ihre Mutter habe allein gelebt, immer wieder habe sie in der Nacht kommen müssen, weil irgendetwas gewesen sei, mal eine Blutung, mal eine Herzrhyth­mus­störung. Es sei nicht mehr auszuhalten gewesen. Ginge es nach ihr, hätte sie ihre Mutter schon beim ersten Zusammenbruch in ein Heim gebracht, wo sie Tag und Nacht betreut gewesen wäre. Aber Elsa sei stur und habe bis zum letzten Moment darum gekämpft, nicht aus ihrem Haus zu müssen. Morgen verreise sie für vier Tage mit ihrem Partner. Das sei ein erster Versuch seit Monaten, für Elsa nicht jederzeit erreichbar zu sein.

 

Ob Pina noch eine Frage habe, wollte Luzia am Schluss wissen, während sie an der Türe ihre braunen Halbstiefel anzog.

Elsa habe am Tisch zwar nicht geklagt, sagte Pina, sich aber auch kaum interessiert gezeigt. Ob sie immer so sei? Auf was sie achten solle?

Luzia meinte, dass ihre Mutter sehr neugierig sei, sie werde sich schon öffnen, wenn sie sich erholt habe.

«Das Wohl der anderen war ihr immer sehr wichtig. Sie wird an deinem Leben noch Anteil nehmen wollen, wenn sie sich von den Strapazen der letzten Tage erholt hat», fügte Luzia am Schluss hinzu.

Pina verabschiedete sich von Luzia mit einem starken Händedruck, diese wiederholte unter der Tür leise, Pina sollte darauf achten, dass Elsa mehr esse. Die Kran­kenschwestern in der Klinik hätten gesagt, dass sie bei ihnen Tag für Tag weniger gegessen habe, am Schluss fast gar nichts mehr.

«Ich gebe mein Bestes!», versicherte ihr Pina.

Pina schloss die Wohnungstür und ging vor die halb offene Tür von Elsas Schlafzimmer. Sie lag da wie zuvor, mit geschlossenen Augen. Ob sie schlief, wusste Pina nicht.

Sie ließ sich einen Kaffee aus der Maschine, setzte sich an den Küchentisch und schrieb ihrer Schwester eine Nachricht. Die erste Prüfung habe sie bestanden, ihr erster Eindruck sei, dass sie eine elegante, alte Dame mit Stil betreuen würde.

«Besser eine elegante Dame pflegen als vor einer verrosteten Maschine hocken», schrieb ihre Schwester umgehend zurück. Sie selber scanne in der Fabrik Etiketten von Kleidern für die Auslieferung, das sei viel langweiliger.

*

Pina hatte den Tisch für das Abendessen gedeckt. Kaum hatte Luzia die Wohnung verlassen, schickte sie Pina aus dem Tram eine SMS, wie sie eine Tomatensuppe zu kochen habe. «Salz ein Viertel eines Kaffeelöffels, möglichst wenig Butter.» Pina befolgte die Anweisungen genau.

Dann holte sie Elsa aus dem Bett, wo sie fast zwei Stunden gelegen hatte. Elsa konnte mit Pinas Hilfe die rund zehn Meter von ihrem Zimmer zum Tisch gehen. Sie war einen halben Kopf grösser als Pina, war sehr leicht und ging nach vorne gebeugt. Pina setzte sie am Küchentisch mit Blick auf die Straße.

Elsa bedankte sich, dass Pina den Tisch so schön dekoriert habe. Sie nahm aber nur drei Löffel von der Suppe und zwei Bissen von der Brotscheibe, bedankte sich erneut für den schön gedeckten Tisch und meinte, dass Pina die Suppe wohl nach Luzias Rezept gekocht habe. Sie habe deren Geschmack jedenfalls gut getroffen.

Pina wusste nicht, was sagen.

Elsa überraschte sie mit ihrer sanften, brüchigen Stimme.

«Sie scheinen anzuerkennen, dass Luzia Ihre Chefin ist. Aber ich werde Ihre Fehler nicht verpetzen. Sie müssen nicht alles befolgen, was meine strenge Tochter sagt. Vor allem beim Essen nicht.»

«Nein, nein, denken Sie bitte nicht so!», sagte die überrumpelte Pina.

Elsa hob ihren Kopf vom Teller und gab Pina ein Zeichen, dass sie abräumen konnte.

Ob sie nicht etwas mehr essen wolle, fragte Pina zurückhaltend.

«Viel Essen darf man einer alten Frau nicht auf­zwin­­gen!», antwortete Elsa lächelnd und gab Pina mit ihrem Blick zu verstehen, dass es nichts zu diskutieren gab.

Später, nachdem Pina in der Küche fertig war, ließ Elsa sie den Atlas aus dem Bücherregal im Wohnzimmer holen. Sie solle ihr ihren Geburtsort auf der Karte zeigen. Elsa wollte den Ort nicht auf Pinas Smartphone, sondern auf einer richtigen Karte sehen, wie sie betonte.

Aber die Ortschaft Samhirada war zu klein, um im Atlas verzeichnet zu sein. «Vielleicht finden wir es morgen», sagte Elsa, bevor sie mit zittrigen Händen das großformatige, schwere Buch zuklappte. Danach richtete sie ihren Blick nachdenklich auf den silbernen Serviettenhalter auf dem Tisch.

Pina setzte sich mit einem Glas Wasser an den Tisch. Elsa hatte sich bisher nicht beklagt. Frau Stalder hatte ihr eingeschärft, sie solle sich von den vielen Klagen alter Personen nicht demoralisieren lassen, weil diese immer Schmerzen hätten, jeden Tag andere Schmerzen, schlimmere als die am Vortag. Man müsse einfach zuhören, sich aber unbedingt interessiert zeigen. Pina erinnerte sich an die alte Nachbarin im Dorf, deren Schmerzen an der Leber bis zum Dorfbrunnen reichten, wie sie sagte. Hundert Meter. Sie lächelte vor sich hin.

Elsa unterbrach die Stille und fragte, wie es Pinas Eltern gehe.

«Beim letzten Telefongespräch ging es meinem Vater gut.»

«Und Ihre Mutter? Haben Sie denn keine mehr?»

«Sie ist zu den Sternen gegangen. Sie schaut von oben auf mich herunter.»

Elsa schaute nach oben. Nach einer langen Pause, als würde sie sich Zeit nehmen für eine Frage, sprach sie leise und mit einem Lächeln auf den Lippen.

«Ich sehe nur die helle Decke meiner Stube. Woran ist sie gestorben?»

«An einer Nierenerkrankung. Sie hat viele Jahre gelitten, bis beide Nieren gänzlich versagt haben.»

«Wann war das?»

«Es ist zwei Jahre her, in meiner Erinnerung aber scheint noch kein Tag vergangen zu sein. Im Winter konnte sie eine ganze Woche nicht zur Dialyse, weil die Straße wegen des vielen Schnees gesperrt war und der defekte Apparat nicht zur Reparatur in die Hauptstadt gebracht werden konnte. Vater hatte die Familie Jahre zuvor, als die Krankheit meiner Mutter diagnostiziert wurde, in diese Stadt gebracht, angeblich in die Nähe der Ärzte.»

«Das tut mir sehr leid. Hatte sie wenigstens einen schönen Tod? Wer hat sie in den Tod begleitet?»

«Mein Vater hat mir am Telefon gesagt, dass er ihr ihr Lieblingslied ins Ohr gesungen hat, bevor er sie in die Hände des Engels gegeben hat. ‹Meine Liebe, wenn ich im Herbst sterbe, begrabt mich unter dem Walnussbaum.›»

«Warum am Telefon? Konnten Sie nicht an ihre Beerdigung?»

Pina zögerte.

«Sie sind nicht hingegangen?»

«Nein, weil die Grenzen von vielen Männern mit geladenem Gewehr bewacht sind.»

«Von solchen möchte ich nichts mehr hören. Mein schwaches Herz erträgt das nicht mehr, Pina. Von viel Grausamem dort habe ich in der Zeitung gelesen. Und aus Wut auf den Tisch geschlagen.»

Sie zeigte auf die Zeitung auf dem Holztischchen vor dem Sofa im Wohnzimmer.

«Heute lese ich in der Zeitung nur noch die Todesanzeigen, mit Hilfe einer Lupe. Wie weit weg ist Ihr Her­kunftsort von hier?»

«Laut Internet sind es 3890 Kilometer. Wenn ich ohne Pause fahre, dauert es achtzig Stunden, sagt das Internet.»

«Das ist aber sehr weit. Man kann doch dorthin fliegen?»

Pina lachte, sie zögerte mit einer Antwort.

«Nur die Kraniche fliegen über das Dorf, wenn sie in den warmen Süden ziehen. Sie machen im Dorf keinen Halt mehr, seit vor vielen Jahren Jäger auf sie geschossen haben.»

«Auch von Jägern möchte ich nichts mehr hören. Die mochte ich sowieso nie. Welche letzten Erinne­rungen haben Sie an Ihre Mutter?»

«Wir haben kurz vor meinem Weggang ‹Fünf Steine› gespielt. Sie hatte mich als Kind immer gewinnen lassen. Ich ertappte sie dabei, dass sie mich auch jetzt vor meiner Ausreise gewinnen lassen wollte. Nachdem sie gewonnen hatte, zeigte sie auf die Dreierreihe auf dem Holzbrett, diese sei gegen Angriffe geschützt und nicht zerstörbar, ich solle im Leben immer eine solche von außen unangreifbare Reihe aufstellen. Das sei ein Bollwerk, eine Panzerung gegen Verletzungen im Leben, aber auch eine Quelle für Geborgenheit und Kraft bei der Bewältigung der Herausforderungen unserer Welt. Den vierten Stein könne ich die Welt beobachten lassen, mit dem fünften sogar experimentieren.»

«Wie geht das? Das müssen Sie mir nochmals erklären!»

Pina wiederholte alles, dann schwiegen sie. Bis Pina in die Stille sagte: «Beim Abschied durfte ich nicht weinen. Mutter zitierte nichts aus dem heiligen Buch, sondern Rumi. ‹Einen Ort gibt es, jenseits des Bösen. Ich und du, wir werden uns dort wiedersehen.›»

Elsa löste den Blick vom Tisch, schaute sie an.

«Nehmen Sie mich auch mit zum Treffen in dieser Oase.»

Pina klatschte ihre Hände geräuschvoll zusammen.

«Abgemacht, aber nur unter der Bedingung, dass Sie etwas mehr essen!»

Elsa zog die Augenbrauen zusammen und wirkte im Nu energisch.

«Sie scheinen sich endgültig auf Luzias Seite geschlagen zu haben! Ich esse, was ich kann und will. Wenn Sie in dieser Angelegenheit nicht auf mich achten, sondern auf Luzia hören, werden wir die Zeit miteinander nicht genießen können.»

«Sie haben aber sehr wenig gegessen! Das tut mir wirklich weh.»

«Lassen Sie das, ich kenne meinen Körper und meine Bedürfnisse noch immer besser als Luzia.»

Pina entschuldigte sich.

«Was macht Ihr Vater jetzt?», fragte Elsa.

«Nach dem Tod meiner Mutter ist er in sein Dorf zurückgegangen, an seinen Lieblingsort.»

«Hat er schöne Pferde, die er um sein Dorf herum zureitet?»

«Nein. Leider nicht. Vor Jahrzehnten war das Dorf laut meinem Vater für seine Märchen und schönen Pferde berühmt. Schon in meiner Kindheit gab es keine Pferde mehr. Ihre Aufgaben übernahmen Motorräder und Jeeps. Und die Märchen wurden vom Fernsehen verdrängt.»

«Zu wem ist er dann überhaupt zurück ins Dorf?»

«Er liebt den Herbst im Dorf mit seinen Farben. Bestimmt steht er jetzt vor einem Haufen Granatäpfel und kocht die Kerne im großen Zinnkessel und presst sie dann durch ein dünnes Tuch zu einem sauren Sirup. Wenn wir als Kinder unserer Mutter bei dieser Arbeit nicht geholfen haben, hat sie gedroht, uns wie Granatapfelsaft durch ein dünnes Tuch aus Tüll auszupressen.»

«Eine harte Drohung!»

«Mutter und ich waren lieb miteinander, konnten aber auch übel streiten. Unsere Sterne haben sich nicht immer verstanden.»

«Genau wie meine Sterne mit denen Luzias. Lassen wir das heute beiseite. Granatapfelsaft habe ich mal genossen in …»

Elsa konnte auch nach langem Überlegen nicht sagen, ob sie den sauren Saft tatsächlich probiert oder es bloß in einem Film gesehen hatte.

«Vielleicht habe ich auch in einem Märchen davon gelesen», sagte sie schließlich. «Können Granatapfelbäume lachen, Pina?»

«Ja, wie jeder Baum das kann.»

«Wie denn?»

«Ach … Wenn die Sonne scheint und angenehme Winde wehen. Wenn Honigbienen sich von seinen frischen Blüten ernähren und sicher auch, wenn er gute Früchte trägt.»

«Kann er auch Geschichten erzählen?»

«Ja, wie jeder Baum das kann.»

«Kennen Sie eine?»

«Nur eine. Die Prinzessin wurde schwer krank, weil sie nicht mit ihrem Geliebten zusammen sein durfte. Der König meinte, dieser Schurke sei ihrer nicht würdig. Dank süßsauren Granatapfelkernen aus Shiraz, die ihr Vater in einer vierzigtägigen Reise kommen ließ, wurde sie geheilt.»

«Mich heilen auch Granatäpfel nicht mehr. Warum müssen Sie mich pflegen, Pina?»

«Ich muss nicht!»

«Doch», sagte Elsa gedehnt. «Sonst würden Sie sich nicht bereit erklären, einer alten, Ihnen unbekannten Frau die Fingernägel zu schneiden. Luzia macht das ja nicht für mich. Sie ist Juristin, hat eine gute Arbeit beim Staat, drei Tage in der Woche geht sie arbeiten, den Rest kann sie genießen.»

Nach einer Pause fügte sie mit Schalk in der Stimme hinzu: «Momentan genießt die Arme ja nichts, sie ist mit Gedanken über meine Pflege und Gesundheit beschäftigt und ausgefüllt.»

«Ich kann mir wie viele andere auch das unbe­küm­merte Leben einer Studentin nicht leisten. Ich musste mein Studium verlängern, wegen meiner Sprachschwierigkeiten, vielleicht auch wegen meiner Trägheit. Ich meldete mich bei Frau Stalder. Der Plan ist, dass ich das Studium ruhen lasse und eine Zeit lang arbeite.»

Auf die Nachfrage von Elsa erzählte sie, dass sie im drittletzten Semester ihres Studiums der Kulturanthro­pologie sei.

«Was soll das schon wieder sein? Zu meiner Zeit kannten wir so was nicht. Meine Schwester und ich wollten nur Lehrerin werden.»

«Das musste ich meinem Vater am Telefon auch erklären. Es geht darum, wie Menschen ihr Leben aushandeln, gestalten und ihm Sinn verleihen.»

«Das tönt aber schön, was können Sie damit arbeiten?»

«Das steht noch in den Sternen. Ich muss zuerst das Studium abschließen.»

«Machen Sie denn im Moment gar nichts anderes, als mich zu pflegen? Seien Sie sich sicher, ich gehe immer früh schlafen.»

«Ich muss noch vieles nachlesen für das Studium. Wenn ich neben der Arbeit bei Ihnen dazu komme. Es sind sehr anspruchsvolle Texte.»

 

«Ich habe in der Schublade in Ihrem Zimmer viele Hefte und Bleistifte, bedienen Sie sich für Ihre Notizen. In einigen Heften habe ich Tagebuch geführt, es gibt aber sicher noch ungebrauchte dabei.»

«Das ist nett von Ihnen, aber ich habe einen kleinen Computer dabei.»

«Luzia hat auch immer einen im Rucksack, in der Klinik nahm sie ihn ständig raus, als wäre er ein Lippenstift.»

Elsa lächelte und streichelte ihre Lippen mit dem rechten Zeigefinger.

«Wovon haben Sie vorher gelebt, Pina?»

«Von allem Möglichen. Zuletzt habe ich in der Schulkantine die Kasse bedient.»

«Haben Sie das nicht gern gemacht?»

«Diese Frage stellte sich gar nicht, ich muss irgendwas arbeiten.»

«Ich hoffe, dass die Arbeit bei mir Ihnen etwas mehr Freude bereitet als die Schulkantine. Warum sind Sie eigentlich weg aus Ihrem Land, Pina?»

«So wollte es das Schicksal.»

«Nicht etwa um mich, eine alte Frau, zu pflegen?»

«Bei uns sagte man: Wenn ein Hund sterben will, ge­­­nügt es, an die Mauer der Moschee zu pissen.»

Zum ersten Mal lachte Elsa an diesem Tag.

«Helfen Sie mir, diesen eigenartigen Satz zu verstehen.»

«Ich meine damit, dass ich fest überzeugt war, es sei meine Aufgabe, eine Erneuerin zu werden, und ich war in Dinge verwickelt, die gefährlich wurden. Wir waren alle Anfang zwanzig und haben geglaubt, wir könnten die Welt verändern, und zwar so schnell, wie man ein Glas Wasser austrinkt.»

«Was haben Sie denn verbrochen?»

«Wir haben versucht zu verhindern, dass für Frauen an der Universität ein separater Eingang gebaut werden sollte. Die Obrigkeit meinte, wir würden gegen ihre Gesetze verstoßen, und hat Felsen auf uns regnen lassen.»

«Felsen? Ist Ihre Geschichte eine schmerzhafte?»

«Wie jede Fluchtgeschichte ist auch meine schmerz­haft, aber der Beginn war hoffnungsvoll.»

«Was meinen Sie damit?»

«Ich bin in die Ungewissheit geflohen, aber einer Hoffnung entgegengereist.»

«Haben sich Ihre Hoffnungen wenigstens erfüllt?»

«Ich habe früh genug aufgehört, mich das zu fragen. Die Frage war später vielmehr: Wie finde ich mich zurecht an einem neuen Ort?»

«Anspruch haben auf ein friedliches Leben ist ja auch eine Hoffnung», meinte Elsa nach einer langen Pause. «Erzählen Sie mir Ihre ganze Geschichte?»

«Auch die traurigen Seiten?»

«Mein schwaches Herz kann nur die schöneren ertragen. Die traurigen können Sie laut denken.»

Pina lachte etwas gekünstelt. Sie begleitete Elsa zum Sofa und goss in der Küche einen Kräutertee auf. Sie legte die unberührte Zeitung auf den Boden und stellte die zwei weißen Porzellantassen auf den Holztisch. Elsa nahm mit zitternden Händen einen ersten Schluck, nachdem sie sich vergewissert hatte, dass der Tee mehr als zehn Minuten lang gezogen hatte.

Erst kurz vor den Abendnachrichten durfte Pina den Fernseher einschalten. Neben politischen Diskus­sio­nen über den Bau eines langen Tunnels kündigte die Moderatorin zwei Beiträge über einen Krieg an, dazu liefen im Bildschirm hinter ihr Aufnahmen von Panzern und Männern in khakifarbenen Uniformen an einem staubigen Ort ohne Häuser und Bäu­me. Elsa schaute den Apparat zunächst wie hypnotisiert an und forderte dann Pina auf, ihn auszuschalten, bis der Wetterbericht komme. Die beiden Frauen schwiegen zwanzig Minuten und tranken Tee.

Dann ließ Elsa den Apparat wieder einschalten. Pina war erstaunt, wie gut Elsa die Zeit geschätzt hatte. Elsas Freude über das schöne Herbstwetter war nicht zu übersehen. Als sich der Moderator verab­schiedete, ließ Elsa den Fernseher ausschalten.

«Ist Ihr Vater an einem dieser Kriegsorte, Pina?»

«Nein, zum Glück nicht.»

«Das freut mich. Wie weit ist der Krieg von ihm weg?»

«Dort sind die Kriege stets nur einen Steinwurf entfernt gewesen.»

«Das ist aber nicht allzu weit.»

Nach einer Pause sprach Elsa weiter:

«Wovon lebt Ihr Vater, Pina?»

«Eine kleine Rente und ein bescheidenes Einkom­men dank der Plantagen genügen ihm. Er sagte, dass allein die Luft und die Geräusche von Vögeln und Insekten ihm zum Leben reichten, seit er aus der grauen Stadt zurück sei.»

Pina erzählte, dass sie noch heute stolz darauf sei, dass sich ihretwegen der Umzug ihrer Familie aus dem grünen Dorf in die graue Stadt mit den vielen Betonhäusern um zwei Tage hinausgezögert hatte.

In jenem Sommer hielt eines Morgens ein Lastwa­gen mit roter Fahrerkabine und blauem Laderaum vor dem Hof der Familie. Noch bevor die Männer den Hausrat einladen konnten, trugen zwei Nachbarinnen ihre Mutter zur Fahrerkabine. Sie würden in die Stadt ziehen, hieß es. Wegen Mutters Krankheit müssten sie in der Nähe eines Krankenhauses wohnen, versuchte ihr Vater sie zu beruhigen, als sie zu toben begann.

Vier Geschwister waren bereits ausgezogen, nur eine Schwester von Pina, Zania, lebte noch bei ihnen. Die Familie ihres Verlobten plante für den Herbst die Hochzeit.

«Du bist schnell wie eine Stute in die Steppe hin­aus­gerannt», sagte ihr Vater später. Die Familie suchte nicht nach ihr, weil sie Pina ohnehin nicht gefunden hätten. Nach zwei Tagen hatte sie Hunger und Durst und kehrte ins Dorf zurück. Der Lastwagen stand noch immer voll beladen vor dem Haus. Sie hatte sich zu früh gefreut. Mutter, Vater und ihre Schwester hatten bei Verwandten geschlafen und auf sie gewartet.

Sie waren ihr nicht einmal böse. Vater reichte ihr ein gerolltes Fladenbrot mit frischem Schafskäse, und die Fahrt konnte beginnen. Sie saßen im Laderaum auf dem weichen Bettzeug. Einmal wurden sie von Militärkonvois überholt.

Elsa wollte wissen, wohin diese Militärs fuhren und zu welchem Zweck.

Das wusste Pina nicht, sie wusste aber, dass sie sich mit der Geschwindigkeit eines Lastwagens von ihrer unbeschwerten Kindheit und den Sternen im Dorf entfernt hatte.

Am Ende des Tages bat Elsa Pina, die Vogeltränke auf der Terrasse jeden Morgen mit frischem Wasser aufzufüllen.

«Die Vögel können daraus nur trinken, solange ich noch da bin. Luzia und Michel werden das Haus nach meinem Tod verkaufen. Vielleicht reißt der Käufer es ab und baut ein modernes mit mehreren Wohneinheiten, meinten sie.»

Erst jetzt erfuhr Pina, dass Elsa noch einen Sohn hatte. Er wohne in der französischen Schweiz und habe sie drei Tage vor ihrer Entlassung in der Klinik besucht. Er werde sicher bald anrufen oder an einem freien Tag vorbeikommen. Er habe nicht viele freie Tage.

Nachdem Pina sie zu Bett gebracht und das Licht gelöscht hatte, wollte Elsa nur noch eines: Pinas Handrücken küssen. Pina zog sich in ihr Zimmer zurück.

Sie saß auf ihrem Bett, schaltete ihren Laptop ein und klappte ihn wieder zu, als sie den Ordner «Studium» erblickte. Sie griff zum Smartphone und begann mit ihrer Schwester Zania zu chatten, die für sie das Fenster in die ferne Heimat war.

Dem Vater gehe es gut, schrieb Zania, er schicke ihr jede Woche eine Flasche Granatapfelsirup mit den Leuten, die aus dem Dorf in die Kreisstadt auf den Markt kämen. Bald habe sie keinen Platz mehr in den Schränken. Der Vater sei der glücklichste Mensch der Welt mit seiner Produktion. Im Winter würden aber wieder die grauen Wolken ihre Schatten auf ihn werfen, weil er nichts zu tun haben werde und es draußen kaum mehr als ein Grad warm sei.

*

Am nächsten Tag erwachte Pina erst, als das Tageslicht in ihr Zimmer drang. Sie hatte entgegen der Warnungen von Frau Stalder durchschlafen können. Der Funk, der sie in ihrem Zimmer im ersten Stock mit Elsas Zimmer im Parterre verband, war still geblieben. Sie hatte sogar geträumt, von einem Waldrapp, der über einen Fluss hin und her flog.

Sie zog sich an, öffnete das Fenster zur Straße, richtete ihr Bett, legte die hellblaue Decke, die nach irgendetwas Altem roch, darauf, ging ins Badezimmer, wusch sich das Gesicht, kämmte vor dem Spiegel die langen, kastanienbraunen Haare, band sie mit einem dünnen Gummi im Nacken zusammen und stieg leise die Treppe hinunter.

Als sie vor Elsas Tür stand, war diese schon wach. Sie lag auf dem Rücken und rieb sich die Augen.

Sie begrüßte Pina mit einem «Guten Morgen, schöne junge Frau» und wünschte, Pina leere als Erstes den Topf, bevor der Gestank das ganze Zimmer, ja das ganze Erdgeschoss verpeste.

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