Der Wünscheerfüller

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Sie war eine einfache, aber lebenskluge Frau. Als Leiterin der Einrichtung hatte sie von meinen kleinen Gesetzesübertretungen Kenntnis erhalten und ohne Vorurteile reagiert. Nach einem besonders gelungenen Bohneneintopf nahm sie mich beiseite und fragte geradeheraus, wie ich in einen solchen Schlamassel habe geraten können. Ich antwortete gewohnt einsilbig und defensiv und war umso überraschter, als sie bei der Erwähnung der Zahl Vier in helle Aufregung verfiel. Sie hielt mir keine Predigt von Tugend und Verzicht und trug nicht das Hohelied der Disziplin wie eine professionelle Dompteuse vor sich her. Nein, sie regte sich über die von mir berechnete Quersumme auf. „Das war der Fehler“, rief sie mit einem Leuchten im Gesicht und klatschte mir ihre Hand auf meinen Oberschenkel, der ängstlich zur Seite zuckte und froh war, dass das Klatschen weit genug von der Körpermitte entfernt stattfand. Wie sich herausstellte, war Susi Amateurnumerologin, die sich in kabbalistischen Zahlendeutungen ebenso gut auskannte wie in der Runenkunde und anderen esoterischen Berechnungstechniken. Sie gab mir den Glauben zurück. Sie war hinreißend, als sie mir mit Pathos in der Stimme erklärte, dass die Quersumme des Tagesdatums etwas für blutige Amateure sei und man vielmehr bestimmte entscheidende Schlüsselwörter und persönliche Schicksalsdaten, wie das Geburtsdatum, zahlenmagisch umsetzen müsse. Ihrer geschätzten Meinung nach war ich am Tag meiner Demütigung aus purer Unwissenheit und falsch berechneter Selbstsicherheit in ein kosmologisch bedingtes Störfeld hineingeschliddert, das ich bei genauer Berechnung hätte vermeiden können. Und damit war die Sache für sie erledigt. Ich liebte sie dafür.

Kein Wunder, dass ich mich ihrer annahm, als sie Kummer hatte. Zufällig belauschte ich an einem lausig kalten Tag ihre Unterhaltung mit einem ausgezehrten Geschöpf, das in der Küche für die Ausgabe des Obstes zuständig war. Susi hatte Probleme mit ihrem Mann. Er hinterging sie. Er machte sie traurig und sie vernachlässigte den Krautsalat.

Genügend Gründe für mich einzugreifen. Es war ein erhebender Moment. Ich war auf dem Weg ein Altruist zu werden. „Altruist“ war besser als „Menschenfreund“. Es war ein mächtiger, fast in Vergessenheit geratener Ausdruck aus dem Lateinischen. Er war geeignet für die Zahlenmagie. „Altruist“ ist zwei, und zwei kann ein großes Arschloch sein.

Sie werden es sehen.

IV.

Sie glauben vielleicht, die Aufschlüsselung des Begriffes „Altruist“ in die Zahlenwerte seiner Buchstaben und das Ziehen der Quersumme seien eine zu dünne Grundlage für meine künftigen Unternehmungen gewesen. Seien Sie beruhigt. Ich erwartete keineswegs, dass mich meine Zahl wie ein magischer Schutzschild begleitet und mir den Weg ohne mein Zutun ebnet. Diesem Stadium der Wundergläubigkeit brauchte ich nicht zu entwachsen, denn ich hatte mich nie in einem solchen Stadium des Denkens befunden. Ich bin ein überaus rationaler Mensch, der sich gewissen Fingerzeigen nicht verschließen will, nur weil sie aus der nicht-stofflichen Welt stammen. Das macht mich noch nicht zu einem Anhänger von Wahnideen. Im Gegenteil. Babylonier, Ägypter und Juden bauten auf die Zahlenkunde und selbst die fortschrittsgläubigen Römer besaßen einen der neun Schlüssel der Numerologie. Mathematik, Vernunft und experimentelle Nachweise beweisen die Existenz der neun Erhöhungen des Geistes, die die neun Schlüssel sind, welche das Tor der Weisheit öffnen. Die „Zwei“ ist „absolute Weisheit“. Weisheit ist angewandte Erkenntnis zum Guten. Ich war der Anwender und es sollte gut werden.

Haben Sie eine Vorstellung davon, wie einfach es ist, sich konzentrierte Salzsäure zu beschaffen und wussten Sie, dass sie im Magensaft in geringer Konzentration vorkommt? Letzteres erzählte mir der onkelhafte Typ mit der Eulenbrille, der am Tresen des Fachhandels stand und die Brusttasche seines weißen Kittels mit Kugelschreibern zugeparkt hatte. Ich wette, er wäre gerne wieder ein Chemiestudent gewesen, wie ich es angeblich war. Bevor Sie mich rügen, möchte ich anfügen, dass das Annehmen einer falschen Identität weniger eine Lüge als eine erlaubte Kriegslist war. Ich hatte mich auf alles vorbereitet und mir eine Legende zurechtgelegt, die alle Fragen nach meinen Lebensumständen und Motiven ausreichend beantwortete. Das Einzige, was den Mann zu interessieren schien, war die gewünschte Konzentration der Säure. Ich machte einen halbherzigen Versuch, von Experimenten mit unedlen Metallen und dem Entstehen von Metallsalzen zu berichten, erntete aber lediglich ein halbherzig zustimmendes Brummen, das zwischen Flaschen und Phiolen davonhuschte und kaum als Dialog bezeichnet werden kann.

Der Mann war auf der Fläche zwischen seinen wässrigen Augen und den schartigen Fingernägeln auf Mitteilsamkeit gepolt. Ich ließ ihn gerne gewähren, solange sich außer seinen feuchten Lippen auch seine Hände bewegten, die meinen Einkauf herrichteten. Konzentrierte Salzsäure sei nichts im Vergleich zu den chemischen Kampfstoffen, die dem winzigen Bombardierkäfer zur Verfügung stünden, der bei Bedrohung aus seinem Hinterteil bis zu hundert Grad heißen, mit ätzenden Substanzen angereicherten Wasserdampf verschießen könne – und das mit bis zu fünfhundert Dampfstrahlen pro Sekunde, dozierte der Verkäufer.

Meine Bedienung schmatzte anerkennend mit den Lippen. Auf der Halbglatze des Mannes hatten sich Schweißperlen gebildet, die offensichtlich auf die überwältigende Erregung zurückzuführen waren, die die Schilderung dieses Wunders der Bionik bei ihm auslöste. Für einen Moment stellte ich mir vor, wie Horden von ein Millimeter großen Käfern mit aufgestellten Hinterteilen die Weltherrschaft an sich rissen. So hatte ich die Sache noch nie betrachtet. Ich nickte und zahlte und bekam so nicht mehr ganz mit, welche Verdauungssäfte in dem Magen eines unschuldig reizenden Rotkehlchens tobten, das aus Samen, Fliegen und Würmern eine mehrfarbige Fäkalie braute, die sich durch Autolacke fressen konnte. Dennoch würden Vögel nie die Weltherrschaft erobern, weil sie es einfach nicht darauf anlegten. Bei mir verhielt sich das anders.

Aber die machbaren Dinge zuerst. Ich hatte nicht gedacht, dass es so aufregend sein könnte, ein Fahrzeug zu stehlen. Gut, es war nicht ein Fahrzeug im eigentlichen Sinne und der Vorgang des Eindringens beschränkte sich auf einen kurzen Einsatz des Bolzenschneiders, den ich zuvor im Baumarkt organisiert hatte. Aber immerhin. Einige Seitenblicke und eine schnelle Anstrengung später hatte ich mein Fahrrad. Es war ein veritables Retro-Modell, ein Kaltblüter unter den Fahrrädern mit stabilen Verstrebungen und einem Gepäckträger, der die Säureflasche und den Bolzenschneider in der Wolldecke mit seinem Drahtmaul festhielt. Wenn man einen Entschluss gefasst hat, macht man sich keine Gedanken um Äußerlichkeiten und so radelte ich auf asthmatisch pfeifenden Reifen durch den Nieselregen hinaus zum Stadtpark. Ich war ein seit Kurzem volljähriger Start-up-Unternehmer mit einer Mission.

Eine knappe halbe Stunde später war ich froh, dass Anoraks nie so richtig passten. Der meine war definitiv für einen anderen Mann geschnitten und schlang sich um mich wie eine Schlingpflanze. Die Kapuze verdeckte das halbe Gesicht und schränkte meinen Horizont so weit ein, dass ich ständig auf meine Beine starrte, die in den unendlichen Weiten des olivgrünen Textils strampelten wie gehorsame Kolben. Der gefütterte Sattel hatte mit meinen Hoden einen Nichtangriffspakt geschlossen und das bisschen Regen konnte mich nicht aus der Fassung bringen. Der Tag war zu einem fahlen, schwefligen Schein reduziert, als ich das Fahrrad in eine dichte Buschlandschaft schob, die in immergrüner, verschwenderischer Pracht über eine erkleckliche Ansammlung von Abfällen und tierischen Ausscheidungen wachte.

Mit klammen Händen packte ich die handliche Flasche mit dem Symbol für ätzende Flüssigkeiten aus und wog sie in der Hand. Sie war glatt und beruhigend. Die farblose Flüssigkeit schaute sich gemeinsam mit mir die Umgebung an. Nicht viel los heute und die wenigen Menschen, die unterwegs waren, hatten sich in Mäntel und Schals gewickelt und begegneten dem Regen mit aufgespannten Regenschirmen und unterdrückten Verwünschungen. Ich war viel zu früh, weil ich es kaum abwarten konnte, die Aufmerksamkeit der wichtigsten Frau in meinem Leben zu gewinnen. Erst dann würde ich wieder ruhig schlafen können.

Der schlammige Rasen saugte mit einem satten Geräusch an meinen Boots und die Gehwege ertranken in wild verstreuten Wasserlöchern. Die blauen Nylonseile eines Klettergartens weinten mit dem Regen um die Wette und die Obdachlosen, die die Parkbänke unter sich verteilten, waren schon längst zu trockenen Plätzen aufgebrochen. Übrig blieben die unvermeidlichen Pendler, die Salzsäure und ich. Bald würde noch ein weiterer Akteur hinzukommen, aber der würde mich nicht sehen. Korrekt ausgedrückt würde er mich am Anfang nicht sehen und wenn er mich am Schluss überhaupt noch sehen konnte, würde er verdammtes Glück gehabt haben. Eine 37-prozentige Lösung von Chlorwasserstoff in Wasser kann auf der Haut und in den Augen verheerende Schäden anrichten. Dies gilt natürlich auch für den Schlund und die Atemwege, wenn man die stark stechend riechenden Dämpfe einatmet oder die rauchende Flüssigkeit schluckt.

Es war beruhigend, dass es so viele Möglichkeiten gab. Mit etwas Glück konnte ich zu einer klitzekleinen Modifikation der Statistik beitragen, dass die meisten Unfälle im Haushalt passieren. Einen Unfall konnte man sehr wohl auch im Stadtpark erleiden, dort am fernen Ende des Parks, neben dem Grillplatz und dem Kiosk, die nach der Sommersaison geschlossen wurden. Ich schaute hinüber und die bizarr verwinkelten Äste der Rosskastanien nickten als Zeichen des Wiedererkennens zurück.

Ich hatte mich einige Male in der Gegend aufgehalten, um den Mann zu beobachten, der das Objekt meiner Begierde war. Er war eines der bedauernswerten Geschöpfe, die dem Joggen verfallen waren. Mit hängendem Kopf und schlurfenden Schrittes zog er seine Bahnen wie an der Schnur gezogen. Er tat es zu jeder Jahreszeit und bei jedem Wetter und immer in den scheußlichsten Trainingsanzügen, die es für Geld zu kaufen gab. Nach exakt vier großen Runden kehrte er zu seinem Wagen zurück, den er unweit des Kiosks parkte, und kasteite sich mit einer Serie bandscheibengefährdender Gymnastikübungen, die so ziemlich alles an seinem Körper dehnten, außer seinem Verstand.

 

Langsam wurde ich unruhig. Ein ungnädig aussehender Rottweiler zog eine ältliche Dame an mir vorbei und führte sie Gassi. Der Dauerregen hatte mich in ein faltiges, tropfendes Gebilde verwandelt, das in Selbstauflösung begriffen war. Ich war bereit damit anzufangen, mir leidzutun. Dann kam er. Präzise gesagt, er fuhr vor. Die Scheinwerfer schnitten schräg über die Rasenfläche bis hinunter zum See, der in Wirklichkeit ein dekorativ überwucherter Tümpel war, in dem die Enten zuerst großflächige Rodungen vornehmen mussten, um zum Wasser zu gelangen. Ich hatte es nicht eilig. Ein Lichtpunkt entfernte sich vom Grillplatz in Richtung des Minigolfplatzes, der im Sommer Heerscharen von Kindern anlockte. Es gelang mir, die Taschenlampe des Läufers im Auge zu behalten, während ich rutschend und fluchend einen sanften Abhang hinunter glitt, um mich an der Uferböschung entlang in Richtung Kiosk zu tasten. Ich stieß mit den Füßen an eine Wurzel und fiel auf die Knie. Der Anorak war ein nasser, schwerer Lumpen und behinderte mich beim Gehen. Ich tastete nach der Flasche und fand sie unversehrt. Brackiges Wasser sickerte in meine Jeans. Meine Füße waren kalte Blöcke in feuchten Socken. Das Licht bewegte sich in meinem Rücken im Gegenuhrzeigersinn. Noch war alles gut. Es war sogar bestens. In der Dunkelheit fühlte sich der Regen kälter an und die Konturen des Kiosks verschwammen im Blauschwarz des Himmels.

Wahrscheinlich hätte ich frieren sollen, aber ich schwitzte. Es war die Jagd, die mich auf Trab hielt. Die Jagd mit einer bauchigen Flasche konzentrierter Salzsäure. Auf der Haut ruft sie Rötung, Blasen und brennende Schmerzen hervor. Vergessen Sie James Bond und die Säurebäder der Filmbösewichte. So schnell löst sich kein Mensch auf. Und in meinem Fall wünschte ich mir einen Zeitlupenablauf. Ich hätte keinen Moment später an dem Kiosk ankommen dürfen. Auf den Jogger hatte das unangenehme Wetter offenbar eine beschleunigende Wirkung. Ich wusste, dass er kurz nach rechts leuchten würde, um sich zu vergewissern, dass sein Auto noch am Platz stand. Der von mir ausgewählte Platz, an dem ich ihn erwarten würde, lag schräg hinter der Hütte auf dem Scheitel des Abhangs. Ich sah, wie sich der Lichtkegel der Taschenlampe bei jedem Schritt aufbäumte und glaubte das Keuchen des Läufers über dem gleichmäßigen Rauschen des Regens zu hören, während sich die schiefe Ebene des grasigen Abhangs nach mir ausstreckte, meine Schuhe verschluckte und sich so unnachgiebig seifig gab, dass an einen eleganten Aufwärtssprint nicht zu denken war.

Das hüpfende Licht kroch um die letzte Kehre und riss helle Löcher in meine Umgebung. Ich umarmte die Erde mit einer hingebungsvollen Anbetungsgeste und vergrub mich in schleimigen Grassoden und reichlich Matsch. Einen Augenblick war ich mir nicht sicher, ob mein Herz so laut hämmerte oder ob sich der Schritt des Läufers verlangsamt hatte. Ich versuchte ruhig zu atmen und bemerkte, dass ich im wahrsten Sinne des Wortes ins Gras gebissen hatte. Dann war es vorbei und die Schritte entfernten sich mit einem fetten Schmatzen und nahmen das Licht mit. Ich hob den Kopf und spuckte aus. Der geparkte Wagen hatte sich das Ganze von seinem Logenplatz aus angesehen. Er wirkte weder amüsiert noch beunruhigt.

Als sich endlich die magersüchtige Mondsichel bequemte, in meine Richtung zu schauen, spiegelte sich das schemenhafte Äußere des Monsters aus der Lagune in der Seitenscheibe des Wagens. Hätte ich ein halbes Dutzend blickdichter Nylonstrümpfe über meinen Schädel gezwängt, wäre ich weniger gut getarnt gewesen als mit der breiig teigigen Schmutzmasse, die aus einem aufstrebenden Jungunternehmer einen wild blickenden Ureinwohner Papua Neuguineas machte. Der Ureinwohner fror erbärmlich.

Die dritte Laufrunde wollte nicht enden und als sie endlich zu Ende war, musste ich zwei Anläufe unternehmen, um mit meinen klappernden Kiefern meinen Spruch aufzusagen. Ich hatte den Text selbst geschrieben und gut behalten. Er lautete: „Hallo Bert“.

Ich weiß wirklich nicht, was mich an Bert mehr störte. War es sein überhebliches Grinsen oder die Art, wie er mit seiner fetten Zunge geräuschvoll Essensreste aus den Zähnen pulte oder aber sein ewiges Gelaber über Disziplin, Respekt und seine großartigen Geschäfte mit den Drahtziehern im Hintergrund, das mit jedem weiteren Schluck Alkohol in ein verwaschenes, aggressives Krakeelen überging? Ich konnte es einfach nicht auf den Punkt bringen. Wahrscheinlich störte mich alles an ihm.

Es wäre gelogen, wenn ich behaupten würde, dass ich ihm einen enormen Schrecken eingejagt hatte. Sein Sweatshirt klebte an seiner bulligen Figur und schrie mich mit roten Glitzerbuchstaben an. „Karate King“, sagte es und löste nicht gerade Ehrfurcht in mir aus. Der Strahl der Taschenlampe erfasste mein mit Dreck verkrustetes Erscheinungsbild. Auf der nach oben offenen Besudelungsskala wäre ich mühelos bei einem Wert zwischen elf und zwölf gelandet. Wir standen uns im Abstand von vielleicht zwei Metern gegenüber. Ich war in seinem Rücken aufgetaucht und hatte die präzise berechnete Position eingenommen. Keine Panne an dieser Stelle.

„Hau ab, du Penner“, sagte Bert und machte Anstalten, seine Rumpfbeugen wieder aufzunehmen. Ich habe keine Ahnung, was mit dem Mann los war. Müdigkeit, Gleichgültigkeit, übersteigertes Selbstbewusstsein? Ich hätte mir gewünscht, dass er die Atmosphäre latenter Bedrohung wahrgenommen und sich drehbuchgemäß verhalten hätte. Zumindest der Gebrauch seines Namens hätte ihn hellhörig machen müssen. Stattdessen senkte er die Taschenlampe, kurz bevor der Strahl die Flasche in meiner Hand erfasste, ab und schüttelte sich eine Kaskade von Wassertropfen aus den Haaren wie ein Hund. Er hatte mich nicht erkannt.

Es ist schwer die Gedanken eines Mannes zu erraten, dessen Gehirnströme kaum messbar sind, aber ich versuchte mein Bestes. „Nimm das“, brüllte ich mit meiner besten Wutstimme und riss den Wurfarm nach oben. Sicher, Sie mögen meinen, dass die Inszenierung ein wenig zu martialisch war, aber mir lag sehr daran, Bert zu beunruhigen, bevor ich ihn verstümmelte, und „Nimm das“ ist ein klassischer Text. Außerdem verzichtete ich auf den Zusatz „du Schurke“, um eine unzeitgemäße Melodramatik zu vermeiden. Bert schrak tatsächlich zusammen und machte instinktiv eine abwehrende Handbewegung. Wohl tausend Mal hatte ich mir vorgestellt, wie ich den Wurf aus der Schulter ansetzte und ihm die Flasche ins Gesicht schmetterte, nachdem ich den Verschluss gelockert hatte. Den Rest können Sie sich vorstellen.

Der Mensch denkt und Gott lenkt, pflegte meine alte Mathematiklehrerin zu sagen und so ist es auch. Ein tief hängender Ast neidete mir die flüssig vorgetragene Aktion und prellte mir die Flasche mit unnachgiebig passivem Widerstand aus der Hand.

Ich hörte das Klirren der Flasche, die am Stamm der Kastanie zerschellte. Der stechende Geruch der Säure verbreitete sich augenblicklich. Ich war viel zu sehr mit dem Schmerz in meinem Handgelenk und dem Astteil beschäftigt, das ich in meinem Übereifer vom Baum geholt hatte. Bert jedenfalls schien jetzt ernsthaft beunruhigt zu sein. Sein Kopf drehte sich mehrfach vom Baum zum Auto und er umkrampfte die Taschenlampe, als habe er einen Entschluss gefasst. Ich verfluchte meine Nachlässigkeit. Mit der Rohrzange in der Hand wäre mein Problem gelöst gewesen. So aber kuschelte das unnütze Ding zusammen mit dem Fahrrad im Buschwerk. Ich bückte mich und tastete nach dem Aststück. Was ich aus dem nassen Laub grub, war ein mächtiger Holzprügel, den meine Handschuhe kaum halten konnten. Bert hatte sich ohne ein Wort auf den Weg gemacht. Sein Sweatshirt glitzerte sich aus meiner Reichweite. Sein Träger keuchte in Richtung seines Wagens, der die Aufforderung des Schlüsselsignals mit einem lauten Fiepen und einem Feuerwerk grellen Lichts beantwortete.

Mein improvisierter Knüppel traf die Waden des Enteilenden mit einem satten Geräusch. Bert stürzte durch das Scheinwerferlicht. Er stöhnte. Der Wehlaut beflügelte mich und der nächste Hieb saß zwischen den Schulterblättern. Ich hatte ihn mit voller Wucht geführt, konnte aber mit dem Ergebnis nicht zufrieden sein. Noch agierte ich zu unkoordiniert und überhastet. In Ermangelung einer präzise ausleuchtenden Lichtquelle überschlug ich hastig, wo bei dem sich windenden Bündel der Kopf sitzen musste und unternahm einen weiteren Versuch. Korrekt ausgedrückt unternahm ich noch eine Reihe weiterer Versuche, die immer besser gelangen. Dies mochte daran gelegen haben, dass ich mich mit gesteigertem Selbstbewusstsein warm prügelte oder daran, dass ich in einen Prügelrausch verfiel oder daran, dass der Dialog mit dem Liegenden, der aus angestrengten Grunzlauten meinerseits und wimmernden Schmerzensbekundungen seinerseits bestand, sich nach einer Weile zu meinen Gunsten zu einem einseitigen Monolog entwickelte.

Mein Prügel war der Erste, der aufgab. Er brach an mehreren Stellen auseinander und verabschiedete sich in ein morsches Rentnerdasein. Mir fällt es schwer, mich mit den Ergebnissen von Gewalt auseinanderzusetzen, auch wenn sie von mir ausgeht. Meine Genstruktur hat mich mit einem schwachen Magen gestraft und so stellte ich aus einer gewissen Entfernung lediglich fest, dass ich den halben Oberkörper meines Sparringspartners in den aufgeweichten Boden gestampft hatte. Trotz seiner eigenwilligen Ruheposition wirkte er friedlich und ausgeglichen. Das war der Zustand, in dem ich ihn am liebsten sah. Mittlerweile schwitzte ich zur Abwechslung wieder. Ich würde eine dicke Erkältung bekommen. Das war wieder so eine Sache, mit der sich Bert in Zukunft nicht mehr auseinandersetzen musste.

Die ungewohnte Anstrengung hatte mich vollkommen erschöpft und ich dankte Gott auf den Knien, dass ich den Beruf eines feinsinnigen Privatiers gewählt hatte und nicht als Malocher im Straßenbau fast täglich solchen widrigen Verhältnissen ausgesetzt war. Die Wagenschlüssel blinkten mir entgegen und enthoben mich der Sorge, was ich mit dem stummen Bert anfangen sollte. Dummerweise hatte ich nicht wirklich einen Plan B. Ursprünglich wollte ich mich nach dem erfolgreichen Wurf der Säureflasche unerkannt aus dem Staub machen, ohne mich mit weiteren Szenarien zu belasten. Jetzt erschien mir diese Vorgehensweise zu wenig ausgereift. Ich öffnete den Kofferraum des Geländewagens, der überraschend aufgeräumt und neuwertig wirkte. Er enthielt im Wesentlichen eine angebrochene Dose Autolack, zwei dicht verschweißte Pakete Banknoten und diverse Kleinigkeiten.

Der Hilferuf war schwach wie der einer neugeborenen Katze. Er kam mit einer lang gezogenen, zitternden Betonung des „i“ und brach ansatzlos ab. Es war, als würde sich der Rufende aus einer tiefen Bewusstlosigkeit befreien. Einem Kind am Tisch hätte man verboten, mit vollem Mund derartige Geräusche zu machen. Ein Kauz fühlte sich angesprochen und antwortete. Er schien an Geschmacksverirrung zu leiden.

Ich löste mit einiger Anstrengung meinen Blick von den Geldbündeln und hastete zurück. Bert war ein zäher Vogel, das musste man ihm lassen. Ich glaube, in der Boxersprache nennt man das Nehmerqualitäten. Er hatte es geschafft, sich auf die Unterarme zu stemmen und miaute mit lose pendelndem Kopf den Boden an. Seine öligen schwarzen Locken schleiften über die Grasnarbe wie eine schlecht sitzende Perücke. Ich war ihm wirklich nicht böse. Er kostete mich zwar Zeit und Nerven, aber er hatte mir auch ein ansehnliches Erbe in seinem Kofferraum hinterlassen, wie es aussah. Wir waren also quasi quitt. Da durfte man wegen etwas Mehrarbeit nicht kleinlich sein.

Als ich nach einem geeigneten Ast zu stöbern begann und schon überlegte, ob ich nicht doch die Rohrzange holen sollte, fiel mir auf, dass ich die Dose Autolack mit mir trug. Improvisation ist eines meiner Talente und ein vehementer Tritt in die Rippen des Kauernden machte aus einem gezirpten „Hilfe“ ein gezischtes „Hiaah“, was weit weniger einfallslos wirkte und den Jogger in eine aufnahmefähige Rückenlage versetzte. Der Deckel der Dose löste sich beim ersten Ruck. Man mag mir verzeihen, aber ich machte mir nicht die Mühe, den Farbton und die Qualität des intensiv riechenden Gebräus zu prüfen. Mit der Linken drückte ich dem Schießbudenboxer die Kehle zu und beobachtete, wie sich seine Pupillen nach oben verdrehten. Sie waren das Einzige, was an ihm weiß und unversehrt geblieben war. Was aus seinem nach Luft schnappenden Mund troff, möchte ich Ihnen lieber ersparen. Schließlich sollen Sie nicht schlecht über mich denken. Außerdem war es egal, denn ich goss mit großer Sorgfalt einen Schwall Lack in seine Kehle und lockerte den Griff um den Hals. Er schluckte reflexartig. Ich sorgte für Nachschub, bevor er sich aufbäumen und geifern und all die anderen Dinge tun konnte, die dafür sorgten, dass ich doch Lack verschüttete und mein Anorak reif für den Müll war.

 

Im vermutete, dass der Lack die Farbe „charcoal“ hatte wie sein Geländewagen. Anscheinend kam er mit dem Farbton nicht zurecht, denn sein pfeifendes Atemholen verflachte zu einem Rasseln und nach einem letzten Gurgler als Abgesang gab er auf. Ich hatte durch technischen K.o. gewonnen. Nicht dass ich mich als Triumphator fühlte. Dazu war es zu nass, zu kalt und die Lackdämpfe hatten mir genauso wenig gut getan wie ihm. Was mich wärmte war der Gedanke an den unerwarteten Geldsegen und die Aussicht auf ein heißes Bad.

Sie können mir glauben, dass es noch ein gutes Stück Arbeit war, die gröbsten Spuren zu beseitigen und den unhandlichen Körper von Bert in den Kofferraum zu falten. Ich bepflasterte alle Körperöffnungen und das, was ich an Brennbarem finden konnte mit Grillanzündern, die sich für die nächste Sommerzeit in die Seitentaschen der Wagentüren verkrochen hatten und produzierte einen zaghaft züngelnden Schwelbrand, den ich päppelte und beaufsichtigte, bis ich glaubte, ihn alleine lassen zu können. Die Geldpäckchen hatte ich an mich genommen, weil ich nicht wollte, dass ihnen etwas passierte oder sie in schlechte Hände gerieten.

Später schrieben die Zeitungen, Bert sei bei lebendigem Leib in seinem Auto verbrannt. Ich halte das für übertrieben. Glauben Sie mir, ich war dabei. Er hatte eine heiße Nacht.

Der Rückweg fiel mir leicht. Ich war beladen wie ein Packesel und schob das Fahrrad. Ab und zu hüpfte ich und stimmte den Refrain zu „I ’m singing in the rain“ an. Ich bin bestimmt kein Fred Astaire, aber an jenem Abend machte ich eine gute Figur. Als ich fast zuhause war, rückte die Feuerwehr Richtung Stadtpark aus.

Es musste jemand gezündelt haben.