Mord aus heiterem Himmel

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Mord aus heiterem Himmel
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Achim Kaul



Mord aus heiterem Himmel





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Inhaltsverzeichnis





Titel







1. Kapitel







2. Kapitel







3. Kapitel







4. Kapitel







5. Kapitel







6. Kapitel







7. Kapitel







8. Kapitel







9. Kapitel







10. Kapitel







11. Kapitel







12. Kapitel







13. Kapitel







14. Kapitel







15. Kapitel







16. Kapitel







17. Kapitel







18. Kapitel







19. Kapitel







20. Kapitel







21. Kapitel







22.Kapitel







23. Kapitel







24. Kapitel







25. Kapitel







26. Kapitel







27. Kapitel







28. Kapitel







29. Kapitel







30. Kapitel







31. Kapitel







32. Kapitel







Impressum neobooks







1. Kapitel











Mord aus heiterem Himmel





23. Juli



Melinda Zick knallte ihren halb vollen Kaffeebecher auf den Frühstückstisch. Sie war wütend auf ihre Mutter, die ihr diesen bescheuerten Namen gegeben hatte. Sie war wütend auf ihre Nachbarn, die jeden, aber auch wirklich jeden Abend auf dem Balkon unten grillten und die sie im Treppenhaus immer so unverschämt musterten. Sie war wütend auf ihren Chef, der eisern darauf bestand, jeden Morgen um halb neun eine Besprechung abzuhalten. Sie war wütend auf die letzte Nacht, wütend auf diesen elenden, immer wiederkehrenden Albtraum, wütend auf das verdammte Messer in diesem Albtraum. Sie war wütend auf sich. Mit geschlossenen Augen atmete sie tief durch, sprang, immer noch wütend, vom Tisch auf, riss ihre Jacke von der Stuhllehne und floh aus ihrer Wohnung, nicht ohne die Eingangstür ordentlich krachen zu lassen. Als sie das Treppenhaus hinunterrannte verhallte das Echo ihrer Tür allmählich, was ihr ein gutes Gefühl gab. »Für eine Veganerin bin ich ganz schön aggressiv«, dachte sie und musste beinahe schmunzeln.




Zwei Stunden davor betrat Ferdinand Alba den Kurpark. »Ein fabelhafter Morgen«, dachte er. Der Himmel blank gefegt, die frische Morgenluft Balsam für seine Seele. Kein Ton war zu hören im Kurpark. Die Pfauen und Goldfasane träumten in ihrer Voliere von fernen Ländern. Die große Wiese, eingerahmt von gewaltigen Platanen, Ahorn- und Mammutbäumen, lag unberührt vor ihm. Zu dieser frühen Stunde war das nicht anders zu erwarten. Sechs Uhr war eine gute Zeit für ihn, um sich unbeobachtet seinen Qi-Gong-Übungen widmen zu können. Nur flüchtig erklang ein entferntes Fauchen, ein merkwürdiges Geräusch, welches er nicht einordnen konnte. Er zog seine Leinenschuhe aus und lief barfuß über das feuchte Gras, bis er einen geeigneten Platz gefunden hatte. Dort stellte er sich locker hin, fokussierte einen größeren Ast am Rand der Wiese, vermutlich ein Opfer des nächtlichen Gewittersturmes, holte tief und langsam Atem und begann mit den Atemöffnern. Die gleichmäßigen und konzentrierten Bewegungen ließen ihn zur Ruhe kommen. Nachdem er anschließend die acht edlen Übungen jeweils fünf Mal wiederholt hatte, verbeugte er sich. Er warf einen Blick zu dem dunklen Ast hinüber. Etwas hatte seine Neugier geweckt. Er schien nun anders dazuliegen als zuvor. Aus der Entfernung von etwa sechzig Metern war das schwer zu beurteilen. Er näherte sich dem Schatten am Wiesenrand. Was er nun zu sehen glaubte, konnte nicht wahr sein. Seine Schritte verlangsamten sich, wurden kleiner. Schließlich stand er vor dem vermeintlichen Ast und blickte fassungslos in das starre Gesicht Professor Mindelburgs. Ihm wurde schwindlig, seine Knie gaben nach. Er schwankte und gleich darauf lag er neben der Leiche.




»Zweifel, jetzt reicht es allmählich«, sagte Alois Klopfer. Der Chef des Kommissars redete wie immer, wenn er sich aufregen musste, besonders leise. Kommissar Adam Zweifel lehnte sich bequem in seinem Stuhl zurück und streckte die langen Beine aus. Die Arme hinter seinem kahlen Kopf verschränkend musterte er seinen Vorgesetzten mit der ganzen Gelassenheit seiner 48 Jahre.



»Wie viele sind es diesmal?«, fragte er mit müdem Unterton. Sein Chef, der einige Jährchen jünger war, warf ihm einen scharfen Seitenblick zu.



»Sie könnten die Angelegenheit ruhig ein bisschen ernster nehmen.«



»Als ob wir sonst keine Probleme hätten.«



»Sie sind es, der unnötig Probleme produziert, mein Lieber. Wenn schon die Presse ihre Messer wetzt, dann – und darauf können sie ihre Riesterrente verwetten – wird mir morgen der Polizeipräsident mit ein paar deutlich ausgesprochenen Verhaltensmaßregeln behilflich sein.«



»Wegen ein paar Smartphones, die zufällig Bekanntschaft mit Newtons Gesetz gemacht haben? Abgesehen davon hab’ ich keine Riesterrente.«



»Zweifel, sie sind zwar Gesetzeshüter, aber die Naturgesetze sind davon nicht betroffen.«



»Sie lassen sich aber so leicht anwenden.«



»Ich wiederhole mich äußerst ungern, Zweifel, es reicht! Ich verbiete Ihnen hiermit ein für alle Mal, unschuldigen Passanten die Handys aus der Hand zu schlagen.«



»Ich kann nun mal den Anblick nicht ertragen. Den Kopf permanent über so ein dämliches Teil gesenkt mitten durch die Menschenmassen latschen, ohne auf andere zu achten. Das ist krankhaft. Die sind alle wie ferngesteuert. Sie müssen die mal beobachten, wenn …«



»Mir ist ihr gestörtes Verhältnis zur modernen Kommunikationstechnik hinreichend bekannt, mein Lieber. Vielleicht können wir uns jetzt über – ja, was ist denn?«



Die Bürovorsteherin, Frau Lucy, kam, wie immer ohne anzuklopfen, herein. Sie wedelte lässig mit einem Blatt Papier.



»Arbeit für den Kommissar«, flötete sie.




Melinda Zick fuhr gerade mit ihrem Fahrrad, das gegen mindestens fünf verkehrstechnische Vorschriften verstieß, auf den Hof der Polizeiinspektion, als ihr Handy klingelte.



»Mel, du musst mir helfen.« Es war ihr Bruder Zacharias. Ihre Mutter hatte ein eigenartiges Talent bei der Namensfindung ihrer Kinder bewiesen. Nach Mels fester Überzeugung war sie damals komplett unzurechnungsfähig gewesen. Und objektiv betrachtet, bestanden berechtigte Zweifel daran, dass ihr Geisteszustand sich seither geändert hatte. Ihre Mutter war und blieb eine Spinnerin. Leider schien ihr Bruder einiges von ihr geerbt zu haben.



»Zack«, sie wusste, dass er diese Abkürzung hasste, »was glaubst du wohl, was ich heute den ganzen Tag zu tun habe?«



»Du musst mir helfen, Mel.« Pause. »Und nenn’ mich nicht Zack, verdammt.«



»Wieso bist du überhaupt schon wach? Ist doch gerade mal halb neun.«



»Das ist ja der Punkt. In einer halben Stunde stehen die Typen von der Bank bei mir auf der Matte.«



»Seit wann kommen die persönlich vorbei? Dein Kontostand muss ja unterirdisch sein.«



»Mel, du hörst mir einfach nie zu. Die kommen doch wegen meines Projektes.« Schlagartig fiel ihr ein, dass ihr Bruder ja einen Laden aufmachen wollte. »DESSERT INN – vegane Desserts vom Allerfeinsten«. Sie stieg vom Rad. »Ich hab’ doch keine Ahnung, wie ich mit denen reden soll.«



»Sei einfach höflich und beantworte alle Fragen. Aber phantasier’ nicht rum.«



»Mel, das würd’ echt viel bringen, wenn du, also wenn eine von der Polizei, mit dabei …«



»Ich kann nicht!«, fiel sie ihm ins Wort und schloss gleichzeitig ihr Rad ab. Gerade kam Zweifel um die Ecke und winkte sie zu sich. »Du packst das schon allein. Bis dann.« Sie legte auf und packte ihr Handy weg.

 



»Morgen Melzick«. Adam Zweifel war der Einzige, der sie so nannte. Sie hatte sich nie darüber beschwert. Insgeheim gefiel ihr diese Anrede ganz gut. Hatte für sie irgendetwas Straßenkämpferisches.



»Zweifellos ein guter Morgen«, war ihre Standardantwort darauf.



»Wir haben einen Kunden.«



»Wer ist es?«



»Steigen Sie ein, ist nicht weit. Kurpark.«



»Jemand im Kneipp-Becken ersoffen?«



»Melzick – nicht in diesem Ton!«



Einige Minuten später waren sie dort.




Alles an dem imposanten Gebäudekomplex atmete Reichtum: die edlen, in Kaisergelb gehaltenen Fassaden mit den raumhohen, doppelflügeligen, strahlend weiß gerahmten Sprossenfenstern, die säulenverzierten, weitläufigen Terrassen, die smaragdgrünen, kunstvoll geschmiedeten Balkonbrüstungen, die großzügig und erhaben geschwungenen Kuppeln aus hellem Marmor, welche die beiden Penthäuser krönten, sowie der reichlich prätentiöse Fahnenmast, der für jedes der Gebäude anzeigen mochte, ob die jeweilige Königin anwesend war. Die wimmelnden Blätterschatten der hochherrschaftlichen, altehrwürdigen Baumsenioren spielten millionenfach auf den kostbaren Mauern, die speziell für das Morgenlicht entworfen zu sein schienen. In der Ferne, in blassem Blau schimmernd, die Diamanten der Alpenkette. Reine Luft wie aus Seide. Ein trügerisch friedlicher Anblick. Zwei eisgraue Augen blickten aus einem der Panoramafenster des südlich gelegenen Penthauses und nahmen den feinen Schleier wahr, der sich über die Stadt zu senken begann.




»Wer ist das?«, fragte Kommissar Adam Zweifel den Mann in der dunkelblauen Uniform. Dieser bemühte sich, ruhig und sachlich zu schildern, was er wusste. Es gelang ihm nicht.



»Wahnsinn, das ist einfach der Wahnsinn!«



»Nein, ich meine die alte Dame dort auf der Bank und den jungen bleichen Herrn daneben«, versuchte Zweifel die Aufregung mit ernstem Ton zu dämpfen. Es gelang ihm. Max Kater, so hieß der junge Mitarbeiter des Wachdienstes, riss sich zusammen.



»Natürlich, selbstverständlich, sie haben recht. Äh, Augenblick.« Er holte ein Notizbuch aus seiner hinteren Hosentasche und schlug es hastig auf.



»Das ist Frau Eichhorn, Anna Eichhorn, 82 Jahre«, sagte er nach kurzem Blättern. »Sie hat die beiden gefunden.«



»Wie jetzt – gibt es zwei Leichen?«, fragte Melzick.



»Was, äh, nein, nein …«



»Junger Mann, wie lange muss ich denn noch hier rumsitzen? Es wird langsam Zeit für mein Frühstück«, meldete sich die alte Dame zu Wort. Kater schaute sie mit großen Augen an.



»Das äh, das müssen Sie, äh, ich glaube der Herr Kommissar kann …«



»Nur ein paar Minuten Geduld, wenn ich Sie darum bitten dürfte.« Der Kommissar hatte den richtigen Ton getroffen. Sie musterte ihn aus hellblauen Augen. Dann lehnte sie sich schweigend zurück und verschränkte die Arme über einer dezenten, sündhaft teuren Perlenkette.



»Also«, wandte sich Zweifel an den etwas unbeholfen wirkenden Wachdienstler und nahm ihn für ein paar Schritte zur Seite, »wer sitzt da neben Frau …, Frau …«



»Eichhorn. Ja.« Wieder blätterte er in seinem Notizbuch. »Da handelt es sich um Ferdinand Alba«, sagte er. »Frau Eichhorn hat ihn und den Toten gefunden. Angeblich lag er bewusstlos neben ihm.« Er kratzte sich heftig am Kopf und fuhr sich mit der flachen Hand übers Gesicht, als könnte er immer noch nicht fassen, womit er es hier zu tun hatte.



»Was ist mit ihm?«, fragte Zweifel, »klappt der uns zusammen? Haben Sie einen Arzt gerufen?«



»Ja, ja, hab’ ich. Der Doktor war schon vor Ihnen da und hat ihn sich angesehen. Und ihm eine Spritze gegeben.«



»Und wo ist der Doktor jetzt?«



»Da drüben, bei dem Toten.« Er zeigte mit dem Finger kurz in die Richtung.



»Gut. Tun Sie mir bitte den Gefallen und bleiben Sie bei unseren beiden Hübschen hier.« Kater nickte eifrig und Zweifel überquerte das Gras, gefolgt von Melzick.



»Ist die Spurensicherung schon verständigt?«, wandte er sich an sie.



»Keine Ahnung, aber ich ruf gleich mal an«, erwiderte sie und zückte ihr Smartphone. Sie blieben kurz stehen. »Hallo Penny, hier ist Mel. Wir haben Arbeit für dich. Im Kurpark. Die große Wiese. Gut, bis gleich.« Sie steckte das Smartphone wieder in die Gesäßtasche Ihrer schwarzen Jeans.



»Wer ist Penny?«, fragte Zweifel.



»Ach, das wissen Sie noch gar nicht? Wir haben eine Urlaubsvertretung bekommen. Penelope Stock. War mit mir auf der Polizeiakademie und hat sich dann spezialisiert. Sie kümmert sich jetzt lieber um Leute, die nicht mehr vor ihr davonlaufen können.«



»Verstehe«, sagte Zweifel. Zwanzig Meter entfernt saß ein Mann, etwa Mitte sechzig, von äußerst umfangreicher Gestalt auf einer Bank. Seine für sein Alter erstaunlich dichten, hellgrauen Haare hatte er zu einem Pferdeschwanz gebändigt. Die Bank lag im Morgenschatten einiger mächtiger Koniferen. Er bewegte sich nicht, als der Kommissar und seine Assistentin auf ihn zukamen. Sein Blick war seitlich auf eine orangefarbene Decke gerichtet, die nicht weit entfernt von ihm auf dem noch feuchten Gras lag. Darunter zeichnete sich undeutlich ein menschlicher Körper ab. Zwei Beamte sicherten den Fundort. Als Zweifel und Melzick vor dem dicken Grauhaarigen stehen blieben, wandte er sein Gesicht mit den großen dunklen Augen ihnen zu und stand schwerfällig auf.



»Dr. Wollmaus«, sagte er. Er reichte ihnen nicht die Hand.



»Kommissar Zweifel, meine Assistentin Zick.« Er nickte.



»Sie kennen den Toten?« Abermals nickte er.



»Professor Abraham Mindelburg.« Zweifel ging zu der orangefarbenen Decke und schlug sie zurück. Professor Mindelburg lag auf der Seite, wobei »liegen« nicht ganz der richtige Ausdruck ist. Sein Körper hatte sich einige Zentimeter tief in den weichen Untergrund eingegraben.



»Plötzlicher Herztod«, sagte Dr. Wollmaus. »Dürfte vor schätzungsweise drei Stunden passiert sein.« Zweifel betrachtete die Lage des Körpers genauer. Melzick stand daneben. Die ganze rechte Seite war in der lockeren Erde verschwunden, so dass der Kopf flach auf dem Boden lag. Es war ein rätselhafter Anblick, so als läge der Professor halb versunken in einem Moor. Auf den ersten Blick waren keinerlei Verletzungen zu erkennen.



»Er war bereits bei den Engeln, als sein Körper aufschlug. Er hat sich im Fallen zu Tode erschreckt«, sagte Dr. Wollmaus.



»Was meinen Sie damit?«, fragte Melzick und schaute in den Morgenhimmel. »Er kann ja wohl nicht aus heiterem Himmel heruntergefallen sein.«



»Nein«, sagte Dr. Wollmaus bedächtig in seiner tiefen Stimme, »von so hoch oben wohl nicht. Ich schätze aber, ein paar hundert Meter werden es gewesen sein.« Zweifel sah ihn fragend an. Dr. Wollmaus erwiderte den Blick. »Nur so lässt sich seine Lage erklären. Oder haben Sie eine andere Idee?«



Zweifel kratzte nachdenklich sich an der Nase. »Der Boden ist durch das Unwetter heute Nacht sehr aufgeweicht. Sie könnten richtigliegen, Doktor.«



»Natürlich liege ich richtig.«



»Fragt sich allerdings, von wo er herabfiel«, sagte Zweifel, »und vor allem ob mit oder ohne Absicht.« Abermals nickte Dr. Wollmaus und starrte vor sich hin.



»Er war über achtzig und hatte ein schwaches Herz. Im Übrigen habe ich meinen besten Schachpartner verloren. Er machte überaus unterhaltsame Fehler. Auf hohem Niveau natürlich. Er liebte es, seine Figuren zu opfern.«



»Und Sie, Doktor?«



»Nun, ich ziehe es vor, die Figuren meiner Gegner zu opfern.« Zweifel nickte.



»Ganz nach Tartakowers Devise.« Dr. Wollmaus griff nach seinem Arztkoffer und schaute Zweifel überrascht an.



»Sie spielen Schach, Herr Kommissar?«



»Sagen wir, mich interessieren Menschen, die ihre geistigen Fähigkeiten auf die Spitze treiben.«



»Ich verstehe.« Er warf noch einen Blick auf die orangefarbene Decke, die der Kommissar wieder sorgfältig über den Toten gebreitet hatte. Dann räusperte er sich.



»Ich weiß, es ist ungewöhnlich, aber wenn es für Sie in Ordnung ist, dann möchte ich die Obduktion durchführen.« Zweifel blinzelte verblüfft zu ihm hinüber.



»Sie sind Gerichtsmediziner?«



»Ich war es, mehr als zwanzig Jahre lang.«



»Und danach?«



»Das tut nichts zur Sache. Ich kenne übrigens Ihren zuständigen Kollegen, Dr. Kälberer. Und mir ist klar, dass er die Leiche zu untersuchen hat.« Er machte eine Pause, um Zweifel Zeit zum Nachdenken zu geben. »Ich kann mit ihm reden.« Zweifel winkte ab.



»Nicht nötig. Ich denke, das geht in Ordnung.«



»Gut. Den ausführlichen Bericht haben Sie gestern. So ist doch immer noch die Zeitvorgabe, stimmt’s? Bis dann also.«



»Ach Doktor«, rief ihm Zweifel nach«, Sie wissen sicher, ob der Professor Angehörige hat und wo er wohnt.«



»Ja, das weiß ich natürlich.« Zweifel notierte Namen und Adressen. Dr. Wollmaus entfernte sich und der Kommissar warf seiner Assistentin einen Blick zu.



»Muss ich mir diesen Namen, Tarta-irgendwas, merken?«, fragte Melzick, nachdem der Arzt außer Hörweite war.



»Nein, müssen Sie nicht. Dieser Tartakower war mal ein außergewöhnlicher Schachgroßmeister, berühmt für seine geistreichen Attacken und Aphorismen. Ist lange her, irgendwann in den Zwanzigerjahren. Damals gab es noch kein Internet.« Melzick schaute ihn an.



»Kann man sich gar nicht vorstellen, wie die Leute damals kommunizierten.«



»Auf die primitive Art, würde ich sagen. Frontal. Von Angesicht zu Angesicht. Die harte Tour eben.«



»Also völlig ungeschützt. Schreckliche Vorstellung.« Zweifel schloss ergeben die Augen und sagte nur: »Melzick!« Sie grinste. Dann sprach sie kurz mit den beiden Beamten. Sie würden sich um den Abtransport kümmern, sobald Penny Stock, die mit ihren Leuten von der Spurensicherung jeden Moment auftauchen musste, mit ihrer Arbeit fertig sein würde.






2. Kapitel



Kurz darauf wandte sich der Kommissar an die alte Dame, die im Beisein Max Katers geduldig ausgeharrt hatte.



»Sie sind also Frau Eichhorn. Ich bin Kriminalkommissar Adam Zweifel.«



»Ein sehr passender Name«, sagte Frau Eichhorn nicht im Mindesten beeindruckt.



»Wen haben Sie denn nun wann gefunden? Erzählen Sie mal.« Der Junge neben ihr auf der Bank schien bei diesen Worten noch mehr in sich zusammenzusinken. Sie schaute den Kommissar mit ihren hellblauen Augen offen an.



»Ich ging im Walde so für mich hin … ach nein – das ist aus einer anderen Geschichte.« Sie kicherte leise und zwinkerte ihm zu. »Entschuldigung, Herr Zweifel, ich bin nicht mit allem einverstanden, was ich sage, müssen sie wissen.« »Na prima«, dachte Melzick bei sich, »noch eine Spinnerin.« Sie betrachtete sie etwas genauer: dunkelblaue Seidenbluse, strahlend weiße Hose, gelber Seidenschal, es sah alles sehr teuer aus. Silbergraues langes Haar, zu zwei Zöpfen geflochten, gebräuntes Gesicht mit erstaunlich wenigen Falten, flinke Augen, ein auffallender Pigmentfleck auf der rechten Schläfe. Alles in allem eine sehr eigenwillige Person mit viel Gold an den alten Fingern.



»Also ich war auf meinem Morgenspaziergang«, fuhr sie fort. »Genau genommen mache ich den nur jeden zweiten Morgen. Ich muss mir meine Kräfte einteilen.« Unwillkürlich warf Zweifel einen Blick auf den Rollator, der neben der Bank parkte.



»Wie üblich kam ich an dem Ententeich vorbei, dessen Ufer im Übrigen gerade von einem Biber neugestaltet wird. Zumindest will uns das ein Schild weismachen, welches die Kurverwaltung schon vor einem Jahr dort aufgestellt hat. Na – soll mir recht sein.« Sie hob kurz die Schultern und versank dann in Schweigen. Zweifel wartete. Er musterte den Jungen neben ihr, der einen jämmerlichen Anblick bot. Dann schaute er auffordernd zu seiner Assistentin hinüber.



»Das war jetzt aber noch nicht alles, oder?«, warf Melzick ein. Die Alte zuckte zusammen, als ob sie erst jetzt ihre Anwesenheit bemerkt hätte. Sie hüstelte etwas verlegen.



»Natürlich nicht, junge Dame«, überspielte sie den Moment. »Ich blieb für einen Moment stehen, warf einen Blick in die Runde und überlegte, bei wem ich mein Mittagessen einnehmen sollte. Sie müssen wissen, ich habe einen großen Bekanntenkreis und möchte niemanden benachteiligen.« Melzick zog die Augenbrauen hoch und schüttelte leicht verwundert den Kopf.



»Was meinen Sie damit?« Die alte Dame bedachte sie mit einem prüfenden Blick. Die hennaroten Dreadlocks, welche Melzicks Kopf zierten, fielen ihr erst jetzt auf.

 



»Nun, ich möchte reihum jedem meiner Freunde und Freundinnen das Vergnügen meiner Anwesenheit während der wichtigsten Mahlzeit des Tages bescheren. Wie klingt das in Ihren Ohren?«



»Ziemlich raffinierte Methode, um sich durchzufuttern.«



»Oh, Sie lieben klare Worte. Ich glaube, das gefällt mir.« Kommissar Zweifel lauschte geduldig diesem Dialog, dann räusperte er sich.



»Das Frühstück«, sagte er. Frau Eichhorn zuckte erneut zusammen.



»Was meinen Sie, Herr Kommissar?«



»Nun ja, je eher Sie uns alles erzählt haben, desto schneller kommen Sie zu ihrem Frühstück.«



»Ach ja – das Frühstück.« Sie betrachtete den Kommissar nachdenklich von oben bis unten. »Sie haben nicht zufällig etwas …« Zweifel hob abwehrend die Hände.



»Also gut, dann eben in aller Kürze. Ich ging an der großen Wiese vorbei, dort wo die höchsten Bäume im Park stehen. Und da sah ich ihn im Schatten liegen.« Mit diesen Worten versetzte sie dem Jungen, der mit geschlossenen Augen neben ihr kauerte, einen sanften Rippenstoß. Er kippte sofort zur Seite. Melzick sprang gerade noch rechtzeitig zu ihm hin und stützte ihn. Er öffnete die Augen und schaute verständnislos jeden der Reihe nach an. »War ein ziemlicher Schock für mich, Herr Kommissar, das können Sie mir glauben«, sagte die Alte und zupfte an den Ärmeln ihrer dunkelblauen Seidenbluse. »Vor allem, weil neben dran noch etwas lag. Ich blieb stehen wie angewurzelt. Ja – und dann bewegte er sich und …«, der Junge ließ ein Stöhnen hören. Melzick hatte ihn wieder gerade hingesetzt und hielt ihn mit einer Hand an der Schulter fest. »Und ich sah den anderen dort liegen«, sagte Eichhorn und nickte langsam.



»Haben Sie ihn erkannt«, fragte Zweifel. Sie richtete sich gerade auf.



»Ich kenne weder den Toten«, Pause, Seitenblick auf Ferdinand Alba zu ihrer Linken, »noch den Scheintoten hier.« Noch bevor der Kommissar etwas darauf erwidern konnte, war lautes Rufen aus der Richtung des Ententeichs zu vernehmen. Gleich darauf sahen sie eine ganz in schwarz gekleidete, große, hagere Frauengestalt mit wehenden graublonden Haaren quer über die Wiese laufen, wobei sie heftig mit beiden Armen winkte.



»Anna«, war zu hören, »Anna, Anna!«



»Da kommt mein Frühstück«, sagte Anna Eichhorn und nickte, als sei sie sehr einverstanden mit dieser Unterbrechung. Kurz darauf war die Ruferin bei ihnen angelangt. Auf den letzten Metern hatte sie merklich ihre Schritte verlangsamt und blickte nun misstrauisch und schwer atmend auf die Personen, die, womöglich in böser Absicht, ihre Freundin umzingelten.



»Hier bist du also«, stieß sie hervor. »Was sind das für Leute? Warum bist du nicht gekommen? Brauchst du Hilfe?« Bei der letzten Frage schaute sie den Kommissar feindselig an. Dies war Serafina Moor pur. Max Kater, der junge Mann vom Wachdienst, der sich bisher dezent im Hintergrund gehalten hatte, versuchte, sich mit wenigen Schritten noch etwas weiter zu entfernen, als ihr Habichtblick auf ihn fiel.



»Kater«, bellte sie, »was ist hier vorgefallen?« Der Angesprochene zuckte leicht zusammen und blieb stehen. Kommissar Zweifel verlor etwas an Geduld. Er zückte seine Marke und hielt sie kurz in die Luft.



»Adam Zweifel, Kriminalpolizei. Sie heißen?« Es folgte ein kurzer Blickkontakt zwischen den zwei Damen. Dann fixierte Serafina Moor den Kommissar.



»Darf ich Ihre Marke noch einmal etwas genauer sehen?« Melzick schüttelte leicht verwundert den Kopf, ohne dabei die Hand von der Schulter des Jungen zu nehmen, der regungslos und mit geschlossenen Augen der Dinge harrte. Zweifel griff nochmals, allerdings betont langsam, in die Innentasche seines Jacketts.



»Also, bevor das hier eskaliert, Serafina, lass es gut sein. Das ist wirklich ein echter Kommissar, ohne Zweifel«, sagte Anna Eichhorn. »Wir sind hier sowieso fertig, denn ich habe alles gesagt, was ich zu sagen hatte.« Serafina Moor hob eine Augenbraue.



»Worüber?«



»Später.«



»Ganz wie du meinst«, schnaubte ihre Freundin. Und, gegen den Kommissar gewandt: »Mein Name ist Moor, Serafina Moor.« Dies wurde mit geschlossenen Augen in einem herablassenden Ton hingeworfen. Zweifel ignorierte sie fürs erste, ebenso die letzte Behauptung Anna Eichhorns.



»Frau Eichhorn, ist Ihnen bevor, oder nachdem Sie die beiden dort liegen sahen, etwas Bemerkenswertes aufgefallen?«



»Es war ja zu erwarten, dass Sie danach fragen. Mir ist tatsächlich etwas aufgefallen. Kurz nachdem ich im Park angekommen war, am nördlichen Ende, dort wo das Labyrinth ist, Sie wissen schon, der Barfußpfad, die Leute laufen da im Kreis mit bloßen Füßen über alles Mögliche, schreien ab und zu vor Schmerz und finden es ganz toll.«



»Und da war also jemand?«



»Nein – da war Stille, keine Menschenseele. Daher fiel mir auch das Geräusch auf.«



»Was für ein Geräusch?«



»Das kann ich Ihnen nicht sagen. Es kam irgendwie von weit her. Als ob jemand ein riesiges Gebläse laufen ließe und doch irgendwie anders. Es war nur kurz zu hören und dann nicht mehr, aber ich habe keine Ahnung, von wo es kam.« Sie zuckte mit den Schultern und machte Anstalten, aufzustehen. Ihre Freundin Serafina stützte sie am Ellenbogen. Anna Eichhorn machte mit dem Kopf eine leichte Bewegung in Richtung des Kommissars.



»Und das ist wirklich alles, Herr Zweifel. Wenn Sie in den nächsten Tagen das Bedürfnis haben sollten, mit mir zu plaudern, so bin ich sicher, dass Sie mich finden werden. Ich gehe jetzt.« Sie schnappte sich mit Hilfe Serafina Moors ihren Rollator und setzte sich mit ihr zusammen in Bewegung, einen verdutzten Herrn Kater und einen schmunzelnden Kommissar zurücklassend. Ferdinand Alba unterdessen schlug plötzlich die Augen auf.



»Sie sind weg«, sagte er mit einer unerwartet kräftigen Stimme. Melzick, deren Hand sich an seine Schulter gewöhnt hatte, ließ ihn los. Kommissar Zweifel bedachte den aus seinem Scheintod Erwachten mit einem langen, nachdenklichen Blick aus seinen fast schwarzen Augen. Dann fasste er einen Entschluss.



»Melzick, ich schlage vor, Sie bringen Herrn Alba nach Hause.« Dabei nickte er ihr zweimal kurz zu. Sie arbeiteten lange genug zusammen. Melzick verstand sofort. Sie sollte den Jungen alleine befragen.



»Können Sie aufstehen?«, fragte sie ihn.



»Jetzt schon«, sagte er.



»Herr Kater, wenn Sie noch einen Moment Zeit hätten«, sagte Zweifel nach einem kurzen Blick auf dessen Namensschild. »Wir treffen uns nachher in meinem Büro, Melzick.« Sie hob die Hand.



»Ay Käpt’n.« Zweifel wartete bis die beiden sich entfernt hatten. Dann drehte er sich zu Kater um.



»Schon lange dabei?« Kater zuckte die Schultern.



»Ich hab’ vor acht Monaten angefangen.«



»So so, gerade mal acht Monate. Aber Sie sind doch von hier? Ich meine, Sie kennen den Ort?« Kater schaute den Kommissar fragend an und nickte dann. »Sie kennen die Gerüchte, Sie wissen, wer mit wem, Sie haben Einblick in die Keller, wo die Leichen liegen …« Kater grinste und nickte abermals. »Hm, Hm.« Zweifel strich mit der flachen Hand über seinen kahlen Schädel, während er sich umblickte. Dann legte er dem Jungen eine Hand auf die Schulter. »Ich möchte, dass Sie mir einen Gefallen tun, Kater. Dieser Fall, wenn es denn einer ist, hat gerade erst begonnen. Es ist gut möglich, dass Sie mir später behilflich sein können, sozusagen als vorgeschobener Horchposten. Wollen Sie das tun?« Kater machte ein ernstes Gesicht und nickte nach kurzem Zögern. »Diese Frau Moor scheint Sie ja zu kennen.«



»Sie wohnt am Stadtrand in der alten Villa Fontenay. Hässlicher Kasten, wenn Sie mich fragen, aber ein wunderbarer Park drum herum. Ich war da mal Gärtner, aushilfsweise. Sie kommandiert gerne herum. Und sie hat ein gutes Namensgedächtnis. Leider.«



»Ist sie schon lange in Bad Wörishofen?«



»So zwei Jahre ungefähr.«



»Und woher kam sie?«



»Aus dem Norden. Sylt, soviel ich weiß. Prominentenviertel. Ihr verstorbener Mann hatte dort in Kampen ein riesiges Anwesen.« Zweifel schaute ihn anerkennend an.



»Sie sind wirklich gut informiert.« Sie tauschten ihre Mobilfunknummern aus, dann streckte er dem jungen Mann die Hand hin. »Auf gute Zusammenarbeit.«



Melzick und Ferdinand Alba liefen schweigend nebeneinander her. Er hatte die Hände in den Taschen seiner viel zu we