Mord aus heiterem Himmel

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»Sieht so aus, als ob wir es hier mit etwas Bösem zu tun haben, Melzick«, sagte er und füllte sein Glas wieder. »Der Doktor hat an den Schultern und Oberarmen des Professors schwere Blutergüsse festgestellt. Hier war eindeutig Gewalt im Spiel.«

»Welcher Doktor hat das festgestellt?«, fragte Melzick.

»Ach so – ja, hier gab es wohl eine kurzfristige Programmänderung. Wenn wir Dr. Kälberer glauben dürfen, dann hat Dr. Wollmaus beim Anblick des Professors auf dem Seziertisch einen leichten Schwächeanfall erlitten. Dr. Kälberer kam wohl gerade noch rechtzeitig, um ihn aus ›seiner‹ Pathologie zu entfernen.« Zweifel trank einen Schluck und schüttelte den Kopf. »Er hat wirklich eine sehr drastische Art, seinem Ärger Luft zu machen.« Melzick nickte. Sie wusste um die gegenseitige Antipathie.

»Dr. Wollmaus hat ihm von unserer Abmachung erzählt und das hat er wohl in den falschen Hals bekommen.«

»Na prima – was haben wir also?«, sagte Melzick und legte die Hände zusammen. »Der Professor wurde heute Morgen höchstwahrscheinlich kurz vor sechs Uhr aus einem Heißluftballon geworfen. Wer das getan hat, riskierte, dabei beobachtet zu werden. Eine sichere Flucht wäre nicht möglich gewesen.«

Zweifel legte seinen Kopf schief und stellte sein Glas ab.

»Tatsache ist aber, dass wir bis jetzt niemanden haben, der etwas beobachtet hat. Wir könnten eine Anzeige schalten und um Mithilfe bitten. Und wir müssen uns um die Ballonfahrer hier in der Gegend kümmern. Da fällt mir ein – ich wollte den Doktor noch etwas fragen. Seine Behauptung, dass der Professor bereits während seines Sturzes an Herzversagen gestorben wäre, kommt mir etwas voreilig vor. Außerdem stellt sich die berühmt-berüchtigte Frage: Hatte Mindelburg Feinde, denen ein Mord zuzutrauen ist? Seine Schwester konnte oder wollte keinen konkreten Verdacht äußern. Hat Alba etwas dazu gesagt?«

»Nein. Er meinte nur, dass er mit einigen schrägen Vögeln aus der Kunstszene zu tun hatte.«

»Um die wir uns ebenfalls kümmern werden«, warf Zweifel ein. Er strich sich mit der linken Hand über seine Glatze und legte einen Finger an seine Nase.

»Wie lief Mindelburgs letzter Tag ab, was hat er getan, wohin ist er gegangen, wen hat er getroffen, mit wem hat er telefoniert? Wir müssen seine Wohnung untersuchen. Und vor allem möchte ich wissen, warum man ihn ausgerechnet auf diese Art und Weise umgebracht hat. Wollte der Mörder ein Zeichen setzen, jemanden warnen, oder schnupperte er einfach nur gerne Höhenluft?«

»Dabei fällt mir ein«, sagte Melzick, »Frau Eichhorn hat behauptet, sie hätte das Fauchen gehört, als sie im Park angekommen war. Kurz darauf fand sie die beiden. Alba sagte, er hätte das Fauchen zu Beginn seiner Übungen gehört. Dazwischen lagen aber mindestens 40 bis 50 Minuten. Daraus ergeben sich drei Möglichkeiten: die Eichhorn täuscht sich, oder sie lügt, oder es war noch ein zweiter Ballon da, den sie hörte.«

»Sie werden nochmal mit ihr reden dürfen, Melzick. Wahrscheinlich finden Sie sie bei dieser Serafina Moor. Und die wohnt in der Villa Fontenay, wie mir Herr Kater geflüstert hat. Vielleicht nehmen Sie was zu essen für die Dame mit.«

»Gute Idee«, sagte sie ungerührt und schaute auf ihre Uhr. »Ich könnte eigentlich selbst etwas vertragen. Wann wollen wir uns wieder treffen?«

»Rufen Sie mich an, wenn Sie mit der Eichhorn gesprochen haben, und wenn Sie die Ballonfahrer hier in der Gegend ausfindig gemacht haben.«

»Da wird es nicht viele geben.«

»Gut, ich rede mit Dr. Wollmaus. Womöglich kann er mir ja auch ein paar Namen nennen. Die Wohnung des Professors schauen wir uns dann gemeinsam an.« Er trank aus. »Sind Sie eigentlich schon mal in einem Ballon gefahren?«, fragte er sie. Sie schüttelte den Kopf. Dies war ihre erste Lüge an diesem Tag.

5. Kapitel

Als sie weg war ging Zweifel hinüber zur Bürovorsteherin Frau Lucy.

»Alles gut?«, fragte er gut gelaunt, wie er es meistens war zu Beginn eines Falles. Frau Lucy schaute ihn über ihre schmale Lesebrille hinweg an, lehnte sich in ihrem Kingsize-Bürostuhl zurück, verschränkte die massigen Arme über ihrem gewaltigen Busen und reckte ihre zwei bis drei Kinne stolz nach oben.

»Seit dem Urknall nimmt die Unordnung im Universum in jeder Sekunde zu, das wissen Sie sicher, Herr Kommissar. Dieses Büro ist der Beweis dafür.«

»Das nennt man Entropie«, gab Zweifel zurück.

»Von mir aus. Jedenfalls – Sisyphos würde Herkules zu Hilfe rufen, hätte er meine Arbeit zu bewältigen«, schnaufte sie zufrieden.

»Wusste gar nicht, dass Sie sich mit der griechischen Mythologie auskennen.«

»Ach Gott ja, die Griechen.« Sie zwinkerte ihm zu. »Das ist ja überhaupt der größte Mythos, dass die was mit der Arbeit am Hut haben.«

»Vorsicht, Lucy.« Zweifel nannte sie von jeher so, auch wenn er nicht wusste, ob das ihr Vor- oder Nachname war. Genau genommen wusste dies keiner im ganzen Kommissariat. »Wir wollen doch Zeus nicht erzürnen.«

»Apropos Zeus, Herr Kommissar, kennen Sie schon den neuen griechischen Imbiss in der Fußgängerzone gleich neben dem Café Habsburg? Sollten Sie mal ausprobieren. Die Dolmades mit Oliven in Knoblauch sind einfach göttlich.«

»Glaube ich Ihnen aufs Wort, Lucy. Danke für den Tipp. Könnten Sie mich vorher noch kurz mit diesem Dr. Wollmaus verbinden?«

»Schon wieder Arbeit!« Sie kicherte und griff in ihre rechte Schublade, wo stets ein ausreichender Vorrat an Nussschokolade lagerte – ausreichend für eine ganze Grundschulklasse. Sie brach ein ordentliches Stück ab.

»Muff daff gleif fein«, fragte sie der Ordnung halber.

»Sobald Sie runtergeschluckt haben«, versetzte Zweifel und ging wieder in sein Büro zurück. Was würde er wohl ohne sie anfangen. Einige Minuten später klingelte sein Telefon.

»Den Doktor kann ich gerade nicht erreichen«, sagte Frau Lucy mit einem tadelnden Unterton. Zweifel war nicht ganz klar, ob sie ihn wegen des Auftrags, oder Dr. Wollmaus wegen seiner Nichterreichbarkeit tadelte. In Wahrheit wollte sie gelobt werden, wie Zweifel wusste.

»Trotzdem besten Dank für Ihre Mühe und die schnelle Antwort.« Sie ließ ein abschließendes Schnaufen hören und legte auf. »Da ist wohl gleich noch ein Stück Schokolade fällig«, vermutete Zweifel und steckte sein prähistorisches Notfallhandy ein, mit dem man tatsächlich nur telefonieren konnte (nicht einmal die Uhrzeit zeigte es an). Es stammte noch aus der Zeit, als Manfred Krug Werbung für die Telekom machte. Er verließ sein Büro. Im Vorbeigehen nickte er Frau Lucy zu, die auf beiden Backen kaute.

»Ich versuch mal den Griechen«, meinte er.

»Laffen Fie eff fiff fmecken«, rief sie ihm hinterher. Er hatte schon fast das Polizeirevier verlassen, als er noch einmal umdrehte. Frau Lucy verschluckte sich fast vor Schreck, als er plötzlich wieder vor ihrem Tresen stand. Sie kaute zwar immer noch, war aber gerade dabei, eine frische Tafel aufzureißen. Zweifel sparte sich einen Kommentar und diktierte der ertappten Perle des Büros einen weiteren Auftrag.

»Lucy, sorry, ich hab’ doch noch etwas für Sie. Setzen Sie doch bitte eine Anzeige in alle relevanten Zeitungen.« Sie ließ die Schokotafel fallen und schnappte sich ihren Stenobleistift. »Wer hat am Montag, den 23.07. morgens ab …«, hier überlegte er kurz, »wann wird’s zurzeit gerade hell?« Sie zuckte mit den Achseln. »Halb fünf?« »Also gut, morgens ab halb fünf einen Heißluftballon über Bad Wörishofen und Umgebung beobachtet. Egal, ob in der Luft, oder am Boden. Hinweise bitte unverzüglich an blablabla … okay?« Frau Lucy nickte. »Also dann bis dann.« Und weg war er. Als er das klimatisierte Gebäude verließ, traf ihn die Hitze des Sommertages mit voller Wucht. Nach wenigen Minuten hatte er die Fußgängerzone erreicht, die sich um die Mittagszeit zunehmend bevölkerte. Der griechische Imbiss lag ganz am anderen Ende. Er verlangsamte seine Schritte. Links und rechts eilte man an ihm vorbei. Gegenüber von einem Café standen einige freie Stühle im Schatten einer Kastanie. Er setzte sich, nahm seine Sonnenbrille ab und begann über Marie-Theres Mindelburg und ihren Butler nachzudenken, der womöglich noch etwas mehr war, als nur ihr Chauffeur. Der Kellner des Cafés hatte ihn erspäht und kam herüber. Er kannte ihn bereits.

»Ganz schön heiß heute, Herr Kommissar. Wie wär’s mit einem Weißbier, natürlich alkoholfrei?«

»Danke, Hubert, ich nehme lieber einen doppelten Espresso.«

»Kommt sofort.« Hubert verschwand im Innern des Cafés. Zweifels Augen schweiften über die Fassade der gegenüberliegenden Gebäude, über die Fenster und Blumenkästen, während er versuchte, seine Gedanken zu ordnen. Ein älteres Ehepaar, offensichtlich Kurgäste, setzte sich wortlos auf die benachbarten Stühle. Er versuchte, ihr Alter zu schätzen. Darin war er sehr gut. Bei Marie-Theres Mindelburg indes war er sich nicht ganz sicher, aber sie konnte nicht viel jünger als 80 sein. Sonderlich schockiert war sie nicht gewesen. Eine Frau, die sich zu beherrschen weiß. Und die weiß, wie man andere beherrscht. Das Eine war wohl die Voraussetzung für das Andere. »Nicht philosophisch werden«, mahnte er sich, als Hubert von gegenüber mit einem kleinen Tablett auf ihn zukam.

»Hier draußen dürfen wir eigentlich gar nichts servieren, Sie wissen schon, wegen der Konkurrenz. Aber bei Ihnen mach ich eine Ausnahme, die soll sich ruhig ein bisschen ärgern«, murmelte er mit einem Seitenblick auf das ältere Ehepaar. Die beiden waren offensichtlich eingenickt.

»Danke, Hubert. Ich bring das Tablett nachher vorbei«, sagte Zweifel und gab ihm einen Fünfeuroschein. Neben dem doppelten Espresso und einem Glas Quellwasser lagen ein paar von den hausgemachten Pralinen auf einer kleinen Serviette. »Nachtisch vor dem Mittagessen! Warum eigentlich nicht?«, dachte Zweifel. Er nippte an seiner Tasse und rief sich die Szene am Hauptbahnhof in Erinnerung, wovon er Melzick noch gar nicht berichtet hatte. Nachdem er ausgestiegen war, hatte er einfach etwas abseits gewartet. Willoughby hatte den Wagen gestartet und war bereits fast in die Arnulfstraße abgebogen, als Zweifel die roten Bremslichter der Limousine aufleuchten sah. Gleichzeitig beobachtete er, wie ein elegant gekleideter schwarzhaariger Managertyp, Mitte dreißig, sich mit raschen Schritten näherte, einen schmalen Aluminiumkoffer in der Hand. Er stieg ein und Willoughby bog um die Ecke. »Dieser Willoughby«, dachte Zweifel und schob sich eine Praline in den Mund. »Very british, mit seinen weißen Chauffeurhandschuhen und seinem tadellosen Benehmen. War das nicht reichlich exzentrisch, ein waschechter Butler im tiefsten Allgäu?« Zweifel kamen seine wachsamen Blicke im Rückspiegel in den Sinn, während ihrer Fahrt nach München. Da war irgendetwas verborgen hinter dieser perfekten Fassade. Vorläufig nicht zu greifen, doch Zweifel hatte eine Witterung aufgenommen. Es war gut, dass dies gleich zu Beginn seiner Ermittlungen passierte. Dieser Fall würde ohnehin schwierig werden. Ein Kunstprofessor wird aus einem Heißluftballon geworfen und landet im Kurpark von Bad Wörishofen. Er konnte sich ausmalen, was die Presse daraus machen würde. Mit all den Komplikationen, die sich daraus ergeben würden. Aus seiner Berliner Zeit war er derlei gewohnt und hatte einen Weg gefunden, damit umzugehen. Allerdings war dies ein harter Lernprozess gewesen. Irgendwann hatte er aus reinem Selbstschutz beschlossen, sich von niemandem mehr in seine Arbeit hineinreden zu lassen. Sämtliche von außen herangetragenen Appelle, Verhaltensmaßregeln, gut gemeinten Ratschläge und böse gemeinten Beurteilungen seiner Arbeitsweise, die Politiker, Presse, Vorgesetzte, Kollegen, oder Nachbarn ihm zuteilwerden ließen, perlten an ihm ab wie Regentropfen an einer Glasscheibe. Er nahm sie hin, beachtete sie nicht weiter und verfolgte seinen eigenen Weg. Was er brauchte, war ein Gegenüber, das nicht auf den Kopf gefallen war und mit dem er sich austauschen konnte. Das hatte er in Berlin gehabt, bis zu jenem schwarzen Tag. Und das hatte er hier in Melzick gefunden. Er leerte seine Tasse, warf die letzte Praline ein und trug das Tablett zum Café hinüber. Hubert kassierte gerade drinnen einen Tisch ab, sah ihn durch die Scheibe und hob kurz die Hand. Zweifel setzte seine Sonnenbrille auf. Als er sich umdrehte wäre er beinahe mit einer jungen Frau zusammengestoßen, die gesenkten Kopfes eifrig auf ihr Smartphone eintippte und ihn ignorierte. Das weckte seinen Jagdinstinkt. Er schlenderte gemächlich Richtung Griechenimbiss und hatte schon bald eine andere Kandidatin entdeckt: Eine junge Mutter, die einen Kinderwagen vor sich herschob und ganz in ihr Smartphone vertieft war. Das Baby schrie in immer kürzeren Intervallen, was sie jedoch nicht zu kümmern schien. Zweifel folgte ihr und wartete ab – immerhin wollte er ihr eine Chance geben. Sie nutzte sie nicht. Sie hatte weder Auge noch Ohr für ihr Kind. Kurz entschlossen war er mit zwei schnellen Schritten neben ihr und schlug von unten gerade so stark gegen ihre Hände mit dem verflixten Gerät, dass es in hohem Bogen in einem Blumenbeet verschwand.

 

»Heh, sind Sie verrückt geworden, verdammt?!«, schrie sie und stürzte zu den Rosen.

»Ihr Baby hat eine ›CLM‹ für sie«, sagte Zweifel. Sie kniete bereits auf dem Boden und wühlte, vorsichtig die Dornen meidend zwischen den Blättern und im Rindenmulch.

»Was ist los?«, schrie sie ihn in unverminderter Lautstärke über die Schulter hinweg an. »Was soll das sein?« Ihr Baby hatte wohl die kräftige Stimme von ihr geerbt und stellte dies als Untermalung ihres Geschreis immer deutlicher unter Beweis. Einige Fußgänger waren mittlerweile stehen geblieben.

»Kennen Sie das nicht?«, fragte Zweifel die junge Frau seelenruhig. »CLM, nicht SMS. Gibt’s schon sehr lange. Crying Loud Message.« Damit drehte er sich um. Einige der Umstehenden lachten. Eine ältere Frau meinte: »Nun nehmen Sie doch endlich mal Ihr Kind raus!« Zweifel ging weiter ohne sich umzudrehen. Nach einiger Zeit verstummte das Babygeschrei. Die »CLM« war wohl angekommen. Auf dem Weg zu seinem Mittagessen konnte Zweifel noch ein weiteres Opfer attackieren – einen schmalbrüstigen jungen Mann in einem viel zu engen, blau glänzenden Polyesteranzug, der ihm frontal in den Weg lief. Zwei kleine weiße Kopfhörer in den Ohren, virtuelle Tomaten auf den Augen. Auch hier ein geübter Schlag von unten gegen die simsenden Hände, nicht zu stark, nicht zu schwach. Auch hier ein in die Höhe steigendes, in der Sonne funkelndes Smartphone auf einer elliptischen Bahn. Reaktionsschnell fing es jedoch der Displayjunkie mit einer Hand auf, stöpselte lässig die Kopfhörer wieder ein und setzte seine lebensnotwendige Tätigkeit unbeeindruckt fort. Zweifel sah es mit Staunen und Respekt, schob sich seinen kirschkerngroßen Ärger in die Backentasche und ließ es gut sein für heute. Wenig später stand er an einem kleinen runden Bistrotisch, vor sich einen Teller, gefüllt mit in Knoblauchöl getränkten, glänzend schwarzen, köstlichen Oliven, auf denen zwei bis drei Dolmades-Röllchen thronten. Nach zwei Gabeln klingelte sein Handy. Das konnte nur Melzick sein. Er fingerte es aus der Innentasche seines Sakkos.

»Melzick!«

»Ja Chef, wo sind Sie gerade?«

»Vor einem Teller Dolmades mit Oliven.«

»Oh – ja, kann ich mir denken. Frau Lucys Geheimtipp. Den Knoblauch kann ich bis hier riechen.«

»Ach – das ist ja interessant.« Zweifel nahm eine neue Gabel voll in Angriff. »Haben Sie sonst noch etwas zu bemerken?«

»Allerdings. Ich komm’ gleich bei Ihnen vorbei. Schön langsam kauen, Chef.« Zweifel legte auf. Er kannte die ernährungstechnischen Ratschläge seiner veganen Assistentin zur Genüge. Und manchmal befolgte er sie sogar.

6. Kapitel

Als es etwa eine halbe Stunde zuvor an der Tür der Villa Fontenay, dem Domizil von Serafina Moor, klingelte, schaute Anna Eichhorn mit hochgezogenen Augenbrauen zu ihr hinüber. Beide saßen auf der weitläufigen, von Bambussträuchern eingerahmten Terrasse und waren gerade dabei, hochkonzentriert mehrere alte Fotoalben durchzublättern.

»Wer kann das bloß …?«, flüsterte Anna Eichhorn, doch Serafina Moor brachte sie mit einem schnellen Wink zum Schweigen. Sie warteten einen Moment. Dann klingelte es erneut. Melzick war wieder einmal kurz davor, die Geduld zu verlieren. Sie drückte energisch ein drittes Mal und außerdem deutlich länger auf den Messingknopf unter dem reich verzierten, quadratischen Messingschild, auf dem in schwungvoller Schrift der Name der alten Villa prangte. Serafina Moor warf einen strengen Blick auf Anna Eichhorn.

»Ich kann mir schon denken, wer das ist. Diese Impertinenz!« Sie schnaubte mit wohldosierter Verachtung durch die Nase. Dann erhob sie sich. »Du weißt was wir besprochen haben. Die Zeit …« Sie hielt es für überflüssig, den Satz zu beenden und hob stattdessen vielsagend ihre rechte Augenbraue. Anna Eichhorn erwiderte den Blick mit einem nervösen Zwinkern. Dann ging Serafina Moor, um Melzick selbst die Tür zu öffnen. Für irgendwelches Personal hatte sie keinen Nerv, noch nie gehabt. Melzick bemerkte einen Schatten hinter dem schmalen Streifen aus farbigem Bleiglas, der rechts von der pompösen Mahagonitür bis zum dunklen Granitboden reichte. »Halleluja«, dachte sie und atmete tief durch. Die Tür ging auf und Serafina Moor stand vor ihr, einen schwarzen Haarreif in der graublonden Mähne, die Herablassung in Person.

»Oh!«, mehr sagte die Moor nicht zur Begrüßung.

»Guten Tag. Ist Frau Eichhorn hier?« Serafina Moor nahm sich die Zeit, verschränkte ihre Arme und warf einen langen Blick auf die zu einem kleinen Turm verschlungenen hennaroten Dreadlocks auf Melzicks Kopf.

»Sagen Sie, muss man das eigentlich regelmäßig gießen, oder wie behält das die Form?« Melzick vereiste augenblicklich.

»Das ist reine Körperbeherrschung. Mehr braucht es nicht«, antwortete sie betont langsam, als würde sie einer senilen Seniorin den Weg erklären. Die Fronten waren also geklärt. Serafina Moor machte einen Schritt zur Seite und Melzick trat ein. Ein irritierend starker Lavendelduft beherrschte die dunkle Eingangshalle.

»Geradeaus durch, wenn ich bitten darf!« Melzick folgte ihr durch einen schmalen Flur, der zu einem großzügig geschnittenen, hellen Raum führte. Eine bestimmt vier Meter hohe Decke mit zarten, verblassten Fresken, lediglich zwei ausladende Ohrensessel, cremeweiß bezogen, auf dem edel in der Farbe alten Cognacs schimmernden Parkett, ein einziger flacher Couchtisch im Kolonialstil von sehr dunklem Braun zwischen ihnen, zart gelbe, duftige Volants an den weit geöffneten Terrassentüren, die Wände in honigfarbenem Holz getäfelt, keine Bücher, keine Bilder, keinerlei Nippes. Melzick konnte nur mit Mühe bewundernde Blicke vermeiden. »Der Salon also«, dachte sie grimmig. Serafina Moor war, ohne ein weiteres Wort zu verlieren, vorausgegangen und hatte sich an einen riesigen ovalen Rattantisch gesetzt, auf dessen Glasplatte ein halbes Dutzend dicker Fotoalben verteilt waren. Dazwischen standen zwei Kaffeetassen, eine silberne Kanne, die antik aussah und ein geflochtener Korb, in dem ein angebissenes Croissant lag. Als Anna Eichhorn Melzick erblickte, griff sie gleich danach. Melzick übersah dies, sie wollte keine Zeit verlieren.

»Schön, dass ich Sie hier treffe, Frau Eichhorn, ich habe noch …«

»Leider können wir Ihnen nichts anbieten«, unterbrach sie die alte Dame und biss mit Wonne in das Croissant.

»Das macht nichts. Ich habe noch ein paar Fragen an …«

»Oder haben wir noch etwas Kaffee drinnen?«, fragte Anna Eichhorn ihre Freundin. Serafina Moor hob mit einem sehr schmalen Lächeln die Schultern und schüttelte den Kopf.

»Ich bin nicht zum Frühstücken hergekommen!«, entfuhr es Melzick in einem forschen Ton.

»Ach«, sagte Anna Eichhorn, »und worum geht es bitte?« Melzick atmete zum zweiten Mal tief durch.

»Sie haben heute Morgen von einem merkwürdigen Geräusch berichtet.«

»Hab ich das?«

»Ja und ich möchte wissen, wann genau Sie es gehört haben.« Anna Eichhorn starrte sie gedankenverloren an. Serafina Moor lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und verschränkte erneut die Arme.

»Wann ich es gehört habe«, wiederholte Anna Eichhorn zögerlich. »Hab’ ich das nicht heute Morgen schon gesagt?« Melzick seufzte im Stillen.

»Ja das haben Sie. Aber es gibt da einen gewissen Widerspruch in Ihrer Aussage.«

»So, gibt es den?« Anna Eichhorn reckte ihr kurzes Kinn in die Höhe. »Normalerweise geht die Sonne auf und ich bereite mich auf meinen Morgenspaziergang vor. Das ist so meine Gewohnheit um diese Jahreszeit. Bei mir geht alles etwas langsamer daher brauche ich dafür etwa eine Dreiviertelstunde.«

»Demnach wären Sie etwa um sechs Uhr losgelaufen.«

»Wenn Sie das sagen. Kann wohl sein.« Sie machte eine kurze Pause. »Und da hab’ ich das Gebläse, oder was es auch war, gehört. Ich war gerade um die Ecke gebogen. Ich wohne ja ganz in der Nähe vom Kurpark.«

»Heute Morgen sagten Sie, Sie hätten es gehört kurz bevor Sie die beiden Männer fanden, was ungefähr um 6 Uhr 50 gewesen sein dürfte.«

»Ach was, das kann nicht sein. Nein, nein, das war viel früher.«

»Sind Sie sicher?«

»Aber ja.«

»So sicher wie heute Morgen?«

»Natürlich, was denken Sie? Das heißt …, also eigentlich …« Sie brach ab. Melzick heftete ihren Blick auf sie. Die alte Dame machte einen ganz anderen Eindruck als noch am Morgen im Kurpark. Sie griff etwas verlegen in ihren gelben Schal. »Ich meine, was kann ich denn …?«

»Schon gut, Frau Eichhorn, ich werde mir das genauso notieren.« Melzick holte ihr kleines blaues Notizbuch aus ihrer hinteren Hosentasche. Während sie mit einem Bleistiftstummel etwas hinein kritzelte, fiel ihr noch etwas ein.

»Was haben sie eigentlich gemacht, als sie die beiden Männer fanden?« Anna Eichhorn räusperte sich leise.

»Wie meinen Sie das?«

»Na ja – sind Sie erschrocken? Haben Sie geschrien? Konnten Sie sich nicht vom Fleck rühren? Oder sind Sie vielleicht näher rangegangen? Vielleicht ganz nahe? Haben Sie die beiden berührt? Lag außer den beiden sonst noch etwas auf dem Boden? Etwas, das Sie aufgehoben haben?« Melzick hielt inne. Sie hatte sich wieder einmal hinreißen lassen. So fragte man nicht. Sie wusste es, sie hatte es gelernt und oft genug geübt. Aber diese dämlichen Rollenspiele auf der Polizeiakademie hatten mit dem wirklichen Leben absolut nichts zu tun. Sie schaute von ihrem Notizbuch auf. Anna Eichhorn war tatsächlich blass geworden. Ein Croissantkrümel hing in ihrem Mundwinkel. Sie schien unfähig, zu antworten. Das übernahm Serafina Moor, die mit einem Ruck aufstand.

 

»Das reicht Frau …«

»Zick.«

»Frau Zick! Meine Freundin Anna hat es nicht nötig, etwas vom Boden aufzuheben, das ihr nicht gehört! Wissen Sie noch, wie Sie hereingekommen sind?« Melzick schaute sie wortlos an. »Dann finden Sie auch wieder hinaus!« Anna Eichhorn saß zusammengesunken mit leerem Blick in ihrem Sessel. Serafina Moor hatte eine Hand auf ihre Schulter gelegt und fixierte die junge Frau. Melzick steckte ihr Notizbuch wieder ein. Sie schluckte ein paar Mal, um etwas Zeit zu gewinnen. Dann kehrte sie den Rest Höflichkeit, den sie finden konnte, zusammen.

»Vielen Dank für Ihre Kooperationsbereitschaft. Wir werden sicher noch einmal darauf zurückkommen.« Damit drehte sie sich um, durchquerte den Salon und verließ das Haus wie sie gekommen war. Die Tür ließ sie etwas lauter als nötig ins Schloss fallen. Tief durchatmen – zum dritten Mal. Einer plötzlichen Eingebung folgend wandte sie sich suchend nach beiden Seiten. Rechts und links des mächtigen Baus aus roten Ziegelsteinen erstreckten sich dichte Hecken, jedoch kein Zaun aus Holz oder Metall. Melzick spähte die Straße in beide Richtungen entlang. Niemand war zu sehen. Sie probierte es mit der rechten Seite und untersuchte die grüne, nach Kräutern duftende Barriere. »Bingo«, murmelte sie nach ein paar Metern. Sie hatte eine schmale Lücke entdeckt und zwängte sich an vertrockneten Ästen und Zweigen vorbei. Ein tiefer Kratzer unter ihrem linken Auge sollte sie noch längere Zeit an diese Aktion erinnern. Auf der anderen Seite der Hecke brauchte sie nur ein, zwei Sekunden, um sich zu orientieren. Der Garten war verwildert und bot ihr mit einer Vielzahl von Sträuchern, Zierbäumen und hohem Schilfgras, das mehrere Teiche einfasste, ausreichenden Sichtschutz. Sie näherte sich leicht gebückt der Terrasse, die mit Bambussträuchern umgeben war. In der Nachbarschaft war ein Rasenmäher am Werk, so dass sie sich vollkommen unbemerkt heranpirschen konnte. Bald war sie nahe genug, um die Unterhaltung der beiden Damen verstehen zu können.

» … nicht, was du von mir willst, Serafina«, sagte Anna Eichhorn gerade mit Trotz in der Stimme. »Die hat mir doch alles abgenommen, oder nicht?«

»Ha!«, schnaubte Serafina Moor, »allerdings! Du warst sehr überzeugend unsicher, das muss ich zugeben. Trotzdem. Wir müssen unbedingt nochmal über …«. Der Rest ging im näherkommenden Lärm des Rasenmähers unter. Melzick hatte für dieses Mal genug gehört und machte sich aus dem Staub.

Zweifel nahm gerade seine letzte Gabel, als er von Weitem den leuchtenden Haarschopf seiner Assistentin sah. Er winkte Stavros, den Wirt, zu sich.

»Bringen Sie bitte nochmal einen Teller voll von diesem hier«, sagte er zu ihm, »und ein neues Besteck.« Stavros nickte erfreut und verschwand.

»Hallo Chef«, sagte Melzick etwas außer Atem. »Schon fertig? Sind Sie satt geworden? Hat’s geschmeckt?« Zweifel setzte sein Glas ab.

»Sie können sich gleich selbst davon überzeugen. Ist übrigens vegan.« Er musterte aufmerksam ihr Gesicht. »Waren die Damen so kratzbürstig?«

»Wieso?« Er deutete mit dem Finger auf ihren Kratzer.

»Ganz schöne Schramme, die Sie dort haben.« Melzick grinste.

»Tja, das war eine versteckte Ermittlung.«

»Ist sowas erlaubt, Melzick?« Sie zuckte gleichmütig mit den Schultern und drehte sich nach dem Wirt um. Stavros brachte gerade einen nach Knoblauch duftenden, reichlich gefüllten Teller und strahlte Melzick an. Diese nahm ihm das Besteck aus der Hand und berichtete Zweifel mit zumeist vollem Mund von ihrem Besuch in der Villa Fontenay samt anschließender Lauschaktion.

»Was halten Sie davon?«, fragte Zweifel schließlich. Sie zuckte wieder mit den Schultern.

»Die halten sich für besonders clever. Diese Frau Eichhorn weiß genau, was sie sagt. Und diese«, sie machte eine bedeutsame Pause, »Moor! Also die kommt eindeutig vom Planeten Ego.«

»Vom Planeten Ego, aha.« Melzick kaute auf beiden Backen.

»Ja, die muss da ein ganz hohes Tier sein.«

»Und was denken Sie, ist der Grund, warum die beiden uns was vorspielen?«

»Na, in erster Linie, um als unzuverlässige Zeugen zu gelten. Die spekulieren darauf, dass sie dann eben nicht ernst genommen werden und eher an den Rand unseres Radarschirmes wandern. Das hätte dann schon seine Vorteile.«

»Na, dann werden wir ihr Verhalten mal sehr ernst nehmen. Konnten Sie eigentlich erkennen, was für Fotos da auf dem Tisch herumlagen?«

»Nein, die Alben waren alle geschlossen. Sahen ganz abgegriffen aus. Müssen sehr alte Fotos gewesen sein.« Sie stockte. Dasselbe hatte sie heute doch schon mal gesagt.

»Gut, wenn Sie fertig sind, werden wir uns mal um die Ballonfahrer kümmern.«

»Fgib mur eimem.«

»Wie bitte? Und würden Sie bitte langsam kauen.« Melzick hob ergeben die Hand und wurde deutlicher.

»Valentin Lindberg. Das ist der Einzige weit und breit. Lebt außerhalb der Stadt.«

»Gut, sobald ihr Teller leer ist fahren wir zu ihm. Und vorher versuchen Sie bitte, Dr. Wollmaus anzurufen. Ich hab’ seine Nummer nicht.« Melzick zog ihr Smartphone heraus und legte es auf den Tisch.

»Ist in diesem Fall wohl ganz nützlich.«

»Das hab’ ich nie bestritten. Sie haben da ein falsches Bild von mir.«

»Ach ja – und was ist mit den Beschwerden? Ich bin sicher, Sie haben heute schon wieder zugeschlagen. Dieser zufriedene Ausdruck in ihren Augen …«

»Das geht Sie gar nichts an, Melzick. Außerdem waren das absolut notwendige Maßnahmen.« Melzick verdrehte die Augen.

»Sicher haben die Betroffenen da auch volles Verständnis.« Zweifel trommelte mit den Fingern auf die Tischplatte.

»Haben Sie die Nummer?«

»Moment.« Sie warf einen kurzen Blick auf das Display. Ihr Bruder hatte ein paar Mal versucht, sie anzurufen. Kurz hintereinander. Mit einem Stirnrunzeln wischte sie ihn beiseite. Sie würde später bei ihm anrufen. Sie suchte die Nummer von Dr. Wollmaus. Nach wenigen Sekunden war sie sichtbar. Zweifel nahm das Smartphone, wählte und hatte wieder keinen Erfolg. Er gab es Melzick zurück, die ihren Teller überraschend schnell leer gefuttert hatte.

»Immer noch nichts. Der Herr Doktor ist sehr schwer zu erreichen. Das gefällt mir nicht. Stavros!« Zweifel zahlte und belohnte den jungen Griechen für die äußerst schmackhaften Oliven und für sein Strahlen mit einem großzügigen Trinkgeld.

»Wir nehmen meine Mary«, sagte er dann. Mary war, wie Melzick wusste, der Spitzname von Zweifels amerikanischem Haifischflossencabrio. Sie hatte die Kollegen schon darüber reden hören. Gesehen hatte sie es noch nicht. Ins Büro kam der Kommissar immer mit einem ziemlich verbeulten Kleinwagen von asiatischem Geblüt.

»Ihre Mary?«

»Ja, mein amerikanischer …«

»Ich weiß schon, Chef. Ich wusste nur nicht, dass Sie es hier versteckt haben. Sie wohnen doch gar nicht hier.« Sie standen jetzt wieder in der prallen Sonne in der Fußgängerzone. Zweifel setzte seine Sonnenbrille auf.

»Kommen Sie, ist hier gleich um die Ecke.« Sie bogen in eine ruhige Seitenstraße ab. Nach ein paar Metern standen sie vor einem niedrigen, heruntergekommenen Bau aus den siebziger Jahren. Ein Schuppen, der lange Zeit als Motorradwerkstatt gedient hatte. Glasbausteine in der Seitenwand, abbröckelnder Putz in graubrauner Farbe, verwitterte Ziegel auf dem Flachdach, ein ausgebleichtes Tor aus früher einmal dunkel gebeiztem Holz. Ein unscheinbarer Riegel mit einem rostigen Vorhängeschloss. Melzick schaute ihren Chef skeptisch an.