Mord aus kühlem Grund

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Mord aus kühlem Grund
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Achim Kaul

Mord aus kühlem Grund

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Inhaltsverzeichnis

Titel

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

Epilog

Impressum neobooks

1. Kapitel

Mord aus kühlem Grund

»Ick lass’n schmoren! Wenn ick den verdammten Bengel erwische, lass ick’n schmoren, und zwar inner Finnischen!« Fred schwitzte. Das war normal. Er wog hundertdreißig Kilo und die waren nicht ausgewogen an seinem Körper verteilt. Die meiste Zeit ruhte er in seiner Mitte, denn da war am meisten Platz. Von Ruhe konnte allerdings gerade keine Rede sein. »Mindestens eine halbe Stunde lang, dit sarick dir, den lass ick vorher nüscht raus!«

»Nu lass mal gut sein«, sagte Johanna, seine Frau, hundertzehn Kilo schwer. In ihr schneeweißes Saunatuch gehüllt, die langen roten Haare in einem türkisblauen Turban verborgen, stand sie seelenruhig vor einem großen Spiegel und begutachtete sorgfältig die roten Äderchen auf ihren Wangen.

»Du hast leicht reden, Jo. Wie steh ick denn da, ohne Handtuch?«, zischte Fred. Johanna ließ einen Seitenblick über ihren Fred gleiten, der augenblicklich nicht so recht wusste, wie er seine Nacktheit, vor allem an den zentralen Stellen verbergen sollte. »Wenn ick nur wüsste, wo dieser Hundling dit verdammte Handtuch vasteckt hat!« Er zog an ihrem Unterarm. »Stell dir mal een bissken vor mir hin! Die jungen Dinger gucken schon so komisch.« Johanna seufzte.

»Jetzt setz dir halt eenfach uff die Liege da, die wird jrad frei.« Fred ließ sich schnaufend nieder und versuchte, den Blicken der anderen Badegäste auszuweichen. »Schnapsidee, blöde«, dachte er. »Warum kann man nich einfach nur Minigolf spielen? Dit is een Sport, der zu meim Körper passt. Dazu brauchtet Ruhe und Konzentration. Da muss man janz in seiner Mitte sein. Aber nee! ›Therme‹, hießet, ›dürfn wa nüscht versäumen‹, hießet, ›wenn wir schon mal hier sind‹, hießet!« Fred schwitzte und steigerte sich in seinen inneren Monolog hinein, an dessen Ende er »verdammter Bengel« zwischen den zusammengebissenen Zähnen hervorzischte. Johanna zuckte gleichmütig die fleischigen Schultern und ging dazu über, ihr Gesicht mit einer neuartigen Creme zu behandeln, die eine junge Mitarbeiterin ihr am Eingang gratis in die Hand gedrückt hatte. Fred wischte mit der Hand über sein schweißnasses Gesicht und schüttelte den Kopf. »Wenn et umsonst is, tauchtet Zeuch sowieso nüscht«, sagte er mit einem Blick auf Johannas fettglänzendes Gesicht. Sie hielt ihm zur Antwort die lavendelfarbene Tube vor die kurzsichtigen Augen, damit er den regulären Preis entziffern konnte. Kurzzeitig verschlug es ihm die Sprache. Gerade als er zu einem seiner Monologe ansetzen wollte, klatschte ihm jemand ein nasses Handtuch auf den breiten Rücken.

»Seit wann gehst du denn in die Sauna, Elvis?«, ertönte eine Bassstimme. Fred drehte sich wütend um. »Mensch, du bist ja gar nicht Elvis«, kam es seelenruhig von einem schwarzhaarigen Riesen im roten Bademantel. Fred funkelte ihn an.

»Der Elvis, den ick kenne, schwitzt schon seit een paar Jährchen in ’ner anderen Hölle. Noch nüscht mitbekommen?«, knurrte er, zog das Handtuch langsam von seinem Rücken und begann, es auszuwringen.

»Klar Mann, außerdem hast du auch die ganz falsche Frisur.« Der Riese schmunzelte gutmütig und streckte die Hand aus, um Fred das Handtuch wieder abzunehmen.

»Dit bleibt hier! Als Souvenir!«, zischte Fred und schlang es sich im Sitzen um die umfangreichen Hüften. Er verschränkte seine massigen Arme und schauten den roten Riesen herausfordernd an. »Kann ick sonst noch wat für Sie tun? Vielleicht een Ständchen?« Der Riese stutzte, schaute Johanna an, die das Ganze sprachlos verfolgt hatte, und zuckte dann mit den Schultern.

»Von mir aus. War sowieso nicht meins. Wenn’s komisch riecht, nicht wundern.« Damit entfernte er sich gelassen in Richtung der kleinen Bar, die am großen Vitalbecken eingerichtet war. Johanna schaute ihm hinterher.

»Na herzlichen Jlückwunsch«, sagte sie zu Fred, »da bist du ja jünstig an …« In diesem Moment gellte ein durchdringender, langanhaltender Schrei aus dem hinteren Saunabereich. Johanna bekam eine Gänsehaut trotz achtundzwanzig Grad Lufttemperatur. Gleich darauf rannten zwei kreischende Mädchen in rosa Bikinis, verfolgt von zwei Jungs in langen Badehosen, im halsbrecherischen Tempo zwischen den Ruheliegen und am schmalen Beckenrand entlang.

»Biester, verdammte!«, entfuhr es Fred, während Johanna erleichtert aufatmete.

»Ick dachte schon, da is wat …« In diesem Moment ertönte ein weiterer Schrei, wie aus einem Horrorfilm. Er schien überhaupt nicht enden zu wollen. Fred konnte es nicht fassen. Seine Nackenhaare stellten sich auf. Er hatte noch nie jemanden so markerschütternd schreien gehört. Er schaute Johanna in die schreckgeweiteten Augen und stand abrupt auf. Ein junger Bademeister in Shorts eilte mit genervtem Gesichtsausdruck an ihnen vorbei.

»Do isch was passiert, ha?«, fragte ein Schweizer, der sich aus seiner Ruheliege nebenan schwerfällig erhoben hatte. Er blinzelte Fred zu. »Bekommen wir do jetzt a äcktschn?«, fragte er erwartungsvoll in seinem gemütlichen Tonfall. Ringsum erhob sich teils aufgeregtes, teils ärgerliches Gemurmel. Johanna schaute sich um und begegnete überall fragenden, kritischen oder besorgten Blicken. Vereinzelt waren Leute aus ihren bequemen Liegen aufgestanden. Einige beschwerten sich leise bei ihren Nachbarn, schüttelten die Köpfe oder zuckten ratlos die Schultern. Fred wusste nicht recht, was er tun sollte. Ein zweiter Bademeister, deutlich älter, als der erste, ging eiligen Schrittes mit ernster Miene zwischen den herumstehenden Badegästen hindurch, während er sein Handy ans Ohr hielt. Ein eigenartiger Geruch machte sich bemerkbar und eine ungewöhnliche Stille breitete sich aus. Der permanente Geräuschpegel aus plätscherndem Wasser, Kindergeschrei, Hintergrundmusik und den Stimmen Hunderter von Badegästen war schlagartig auf nahe null gefallen. »Wie die Ruhe vor dem Sturm«, dachte Fred unwillkürlich, während Johanna fröstelnd die Arme verschränkte. Der Geruch wurde stärker. Eine allgemeine Unruhe machte sich allmählich bemerkbar. Der Schweizer und seine Frau begannen, ihre Sachen einzupacken. Niemand achtete auf die beiden jungen Männer in Jeansshorts, von denen einer von der Empore herab sein Smartphone auf das Geschehen gerichtet hatte. Dort oben, wo die komfortableren Ruheliegen verteilt waren, befand sich außer diesen beiden und einem Seniorenpaar, das eingeschlafen war, niemand mehr. Seitdem der zweite Schrei verhallt war, waren gerade mal ein paar Minuten vergangen, doch der Raum, in dem sich das große Vitalbecken befand, hatte sich in dieser kurzen Zeit enorm bevölkert. Die Leute standen dicht an dicht, wie bei einem Open-Air-Konzert. Nur gab es da üblicherweise nicht so viele nackte Besucher.

 

»Wir müssen nach dem Kleenen schauen, Fred«, sagte Johanna und hielt sich die Nase zu. Als hätte er nur auf dieses Kommando gewartet, bahnte sich Fred, ohne ein Wort zu verlieren, energisch einen Weg. »Ick schau in den Felsenduschen nach«, konnte sie ihm gerade noch hinterherrufen. Er winkte mit der rechten Hand, ohne sich umzudrehen. »Hier is wat faul«, dachte er, »und zwar janz jewaltich«. Ihm klang noch der erste Satz des Schweizers in den Ohren. »Zu viele Leute«, brummte er. Er musste an eine riesige Rinderherde denken, die friedlich grast, bevor eine Panik losbricht. »Die Ausjänge sin zu weit wech, und die Fluchtwege sin zu eng«, dachte er und versuchte, seine Schritte zu beschleunigen. Ein muskelbepackter Jüngling stellte sich ihm in den Weg. Er wich ihm aus. »Jetzt bloß keene Eskalation«, schoss es ihm durch den Kopf. Das Gemurmel der Umstehenden wurde lauter. Draußen, außerhalb der Halle, an der frischen Luft, konnte man einen Säugling schreien hören.

»Sie sehen doch, dass hier kein Platz ist«, zischte ihm eine junge Frau mit kahlgeschorenem Schädel und Spinnentattoo im Gesicht ins Gesicht. Fred versuchte ein Lächeln und drängelte sich rigoros an ihr vorbei. Ihm war schlagartig klar geworden, dass er den Bengel, wie er ihn nannte, schon seit mehr als einer Stunde nicht mehr gesehen hatte. Er wollte es sich nicht eingestehen, aber so langsam machte er sich Sorgen. Ein alter Mann rempelte ihn an. Von hinten bekam er einen Stoß in die Rippen. Jemand tippte ihm energisch auf die Schulter. Er ignorierte dies alles. Niemand konnte ihn jetzt aufhalten. Sein Blutdruck machte ihm zu schaffen. Er blieb stehen, um tief durchzuatmen. Das hätte er besser nicht getan. Der hintere Saunabereich, den er jetzt erreicht hatte, war von einem undefinierbaren Gestank erfüllt. Hier irgendwo musste die Ursache zu finden sein. Das Gedränge hatte plötzlich nachgelassen. Da waren keine Nackten oder Halbnackten mehr, die ihm den Weg versperrten.

»Elias! Elias! Bist du da? Komm jetzt endlich her!«, rief Fred, einer Eingebung folgend. Er suchte die leeren Duschen ab. In einer der Kabinen hörte er es tropfen. Dort lag sein vermisstes Handtuch auf dem Boden. Er schluckte. Von seinem Neffen keine Spur. Er drehte den Duschhahn zu. Vom großen Vitalbecken her drangen jetzt immer lautere Stimmen. Wieso gingen die Leute nicht einfach durch die Glastüren ins Freie? Oder benutzten die Schleuse zum Außenbecken. Wohin waren die Bademeister verschwunden? Warum gab es keine Durchsage? Wer hatte da so durchdringend geschrien? Warum stank es hier so? War das Gas? Und wo war Elias? Die Fragen rasten durch Freds Kopf wie auf einer Autobahn. Er bog um die Ecke und war jetzt bei der Kräutersauna angelangt. Gleich nebenan lag die Kelosauna mit Panoramafenster und die Stollensauna, in der es wie immer höhlenartig dunkel war. Zwei gedämpfte Männerstimmen waren zu hören. Eine der beiden wurde plötzlich lauter. Es war der ältere Bademeister, der mit rotem Kopf aus der Kelosauna herauskam.

»Kannst du mir mal sagen, was heute mit der Technik los ist? Die ist doch gestern erst kontrolliert worden. Klappt denn gar nichts in dem Laden?« Der jüngere Bademeister murmelte etwas Unverständliches. »Ist mir ganz egal, was Schilling sagt!«, polterte der Ältere. Er warf einen ärgerlichen Blick auf Fred.

»Was machen Sie hier?«, blaffte der junge Bademeister Fred an. Er hatte sich an seinem Chef vorbeigedrängt und stand mit weit ausgebreiteten Armen vor Fred.

»Ick suche Elias«, brachte dieser etwas verdattert hervor und starrte ratlos in zwei rote Gesichter.

»Wer soll das sein?«

»Dit is mein Neffe, er …«

»Der ist nicht hier. Gehen Sie bitte sofort zurück!«, sagte der Chefbademeister im Befehlston, während der andere sich immer noch wie ein Handballtorwart vor Fred postierte.

»Aber dit Jeschrei …«, sagte Fred störrisch.

»Hören Sie, wir gehen jetzt zurück zum Vitalbecken und Sie halten bitte den Mund. Ich will keine Aufregung provozieren. Und du scheuchst die restlichen Gäste raus. Hier hinten darf keiner bleiben!« Der ältere Bademeister hatte Fred an der Schulter gepackt und drängte ihn zurück.

»Wat riecht hier so? Is dit Gas? Und warum jehen die Leute nüscht einfach int Freie?«, fragte Fred. Der Andere blieb abrupt stehen und legte beschwörend die Hand auf Freds Unterarm. Dabei schaute er ihn aus geröteten Augen an.

»Die verdammten Glastüren sind verriegelt. Elektronisch. Alle.«

»Wat? Aber wie …?«

»Ich weiß es nicht. Ich weiß nur eins: Ich will hier drin keine Panik erleben. Das gibt Tote.« In diesem Moment war aus den Lautsprechern ein scharfes Knacken zu hören und eine mühsam beherrschte Frauenstimme setzte zu einer stockenden Durchsage an:

»Liebe Badegäste. Aus Sicherheitsgründen bitten wir Sie, den kompletten Saunabereich rasch zu verlassen. Gehen Sie bitte nicht …« Hier stoppte die Durchsage, als ob ihr jemand das Mikrofon aus der Hand gerissen hätte. Der Geräuschpegel nahm augenblicklich stark zu.

»Himmelherrgott, ist die wahnsinnig geworden?«, fluchte Fischli, der ältere Chefbademeister. Sie waren im Restaurantbereich, von wo eine Treppe auf die Empore mit den Exklusiv-Suiten führte. Einige Kinder kreischten vor Angst. Empörte Männerstimmen wurden laut, Frauen keiften. Es war ein wildes Durcheinander. Alle waren jetzt auf den Beinen, es mochten an die zweihundert bis dreihundert Menschen sein. Die im Wasser waren, versuchten, herauszukommen. Keinem gelang es. Die Leute drängten mit ungezügelter Macht zu den Glastüren an der Schmalseite des Beckens. Etliche stolperten oder wurden ins Wasser gestoßen. Fred schaute zur Schleuse hinüber, durch die man normalerweise ganz einfach ins Freie schwimmen konnte. Sie war von Menschenleibern verstopft und wirkte wie ein Flaschenhals. Die Leute schlugen wie wild auf das Wasser, drückten einander auf die Seite. Manche gerieten dabei unter Wasser. Scharfe Fingernägel kratzten über haarige Rücken, krallten sich an Badeanzügen fest. Fred schluckte, sein Mund war ganz trocken. Von Johanna war keine Spur zu entdecken. Fischli stürmte die Treppe hoch, um sich einen besseren Überblick zu verschaffen. Er versuchte, in dem Lärm zu telefonieren.

»Halt einfach die Klappe und mach die Musik an!«, fauchte er wütend in sein Handy. »Egal welche, Herrgott nochmal!«, brüllte er jetzt und sah zu, wie die Leute anfingen, an die Glastür zu trommeln und zu hämmern. Von hinten drängten immer mehr nach. Die Unglücklichen, die ganz vorne standen, wurden erbarmungslos an die Glaswand gequetscht. Draußen auf der anderen Seite standen ein paar Saunagäste, die lachten und winkten. Sie hielten das Ganze für ein inszeniertes Spektakel. Vielleicht konnten sie auch einfach nicht glauben, was sich da vor ihren Augen abspielte. Fred stand jetzt auf der Treppe und versuchte, irgendwo in dem Getümmel Johanna ausfindig zu machen. Doch das war unmöglich.

»Liebe Badegäste, die Glastüren sind verriegelt. Bitte nutzen Sie …« Wieder brach die Lautsprecherstimme mitten im Satz ab. Fischli ballte die Fäuste, während er mit den Augen das Chaos absuchte.

»Das darf doch wohl nicht wahr sein, verdammt«, zischte er. Die brodelnde Panik war nun nicht mehr aufzuhalten. Auch der Weg zu den Umkleidekabinen, von wo es nach draußen ging, war versperrt. Von dort schob sich plötzlich eine dichte Menschenmenge, zum großen Teil noch in Straßenkleidung, herein. Männer, Frauen, Jugendliche, kleine Kinder – alle husteten sich mit roten Köpfen die Lunge aus dem Leib. Fast alle hatten ihre Fäuste vor die Augen gepresst. Das Geschrei nahm zu. Vereinzelt wurden grobe Schläge ausgetauscht. Männer rangelten miteinander, prügelten aufeinander ein. Einige ältere Personen waren ihn Ohnmacht gefallen. Ein kleiner Junge, vielleicht drei Jahre alt, trieb bewusstlos im großen Vitalbecken. Fred starrte auf seine Badehose. Elias konnte es nicht sein. Er war ja viel größer. Die Leute im Becken hatten keine Augen für den kleinen, hilflosen Körper. Fischli hatte ihn ebenfalls entdeckt. Bevor sie etwas unternehmen konnten, war ein junger Mann in Jeansshorts über mehrere Köpfe hinweg ins Wasser gesprungen, drehte den Jungen um, zog ihn auf den Beckenrand und begann, ihn ins Leben zurückzuholen.

»Wir müssen die Leute von den Glastüren wegbringen«, rief Fred dem Bademeister zu. Dieser schüttelte heftig den Kopf.

»Das funktioniert nicht«, schrie er, während er eine andere Nummer wählte. »Was ist da draußen los, verdammt? Haltet doch die Leute auf! Hier drin ist Chaos! Und macht endlich die Türen auf! Wie …?« Fred sah, wie es dem Bademeister die Sprache verschlug. Fischli blickte ihm fassungslos ins Gesicht. »Giftgas. Draußen hat jemand mit Giftgas geworfen! Das ist ein Anschlag …« Er war kreidebleich geworden. Fred schluckte. Dann griff er sich mit beiden Händen an den Kopf, hielt sich die Ohren zu und schloss die Augen. Fischli war überfordert. Von ihm war keine Hilfe zu erwarten. Fred kämpfte mit Macht gegen den Fluchtreflex an und drehte sich gegen die Wand. So konnte er sich abschotten. »Wie kriegen wir die Menschenmassen hier raus?« Fischli stand mit herabhängenden Armen verzweifelt neben ihm. »Der Bagger«, schoss es Fred in den Sinn. Draußen war ein Bagger gewesen. Er hatte sich noch über ihn aufgeregt, als sie ankamen und er ihnen den Weg versperrt hatte. Der musste hier irgendwo auf dem Gelände sein. Irgendeine Erweiterung war im Bau. Er drehte sich zu Fischli um.

»Welche Glasscheibe lässt sich am ehesten sprengen?« Fischli starrte ihn verständnislos an. »Die Baustelle, Mensch. Da draußen muss doch een Bagger sin!« Fischli begriff. »Der Frühlingsjarten, wat meenen Sie?«, rief Fred und deutete heftig hinüber auf die andere Seite der Saunahalle zu dem Bereich mit den Infrarotliegen und den Liegestühlen unter Palmen. Hier hielt sich fast niemand mehr auf. Halb verborgen hinter künstlichen Palmwedeln boten deckenhohe, riesige Scheiben einen Blick ins Freie. Fischli reagierte sofort und griff zum Handy. »Hoffentlich hat Johanna den Kleenen jefunden«, dachte Fred zehn Minuten später, als mit einem ohrenbetäubenden Lärm der Frühlingsgarten in eine Wüste verwandelt wurde.

2. Kapitel

»Es reicht, Frau Lucy«, sagte Klopfer, »ich warte jetzt seit einer halben Stunde darauf, dass Sie mit Ihrem Privatgespräch zu einem Ende kommen. Genau dort ist meine Geduld: Zu Ende!« Polizeichef Alois Klopfer hatte, wie stets, wenn er sich aufregen durfte, sehr leise und eindringlich zur Büroperle gesprochen, während Lucys Augen immer größer und runder wurden.

»Das war meine Mutter, Chef. Die hat das Gegenteil von Alzheimer. Die merkt sich alles und vergisst nichts«, bemerkte Lucy, als sie das Telefonat hastig beendet hatte.

»Wenn das eine Drohung sein soll, dann würde ich Ihre Mutter gerne einmal kennenlernen.« Lucy schüttelte den Kopf und öffnete eine Schublade.

»Ich fürchte, das würde zu einem unvergesslichen Erlebnis ausarten.« Klopfer nahm sie ins Visier.

»Fürchten Sie eher für Ihre Mutter oder für mich?«

»Weder noch«, sagte Lucy ungerührt und nahm einen Schokoriegel in Augenschein, »ich fürchte, ich wäre die Leidtragende. Zwischen zwei Stühlen zu sitzen, ist schlecht fürs Rückgrat, hab ich irgendwo gelesen.«

»Apropos irgendwo – müssen wir heute eine Suchmeldung für Zweifel rausjagen oder darf ich darauf hoffen, ihn bald zu Gesicht zu bekommen?« Lucy hatte sich die Inhaltsstoffe des Schokoriegels genau durchgelesen und beschlossen, ihn vorerst zu verschonen.

»Friseur«, sagte sie und schloss die Schublade wieder.

»Was soll das heißen? Will er sich eine Perücke machen lassen?« Sie schüttelte den Kopf.

»Kann ich mir nicht vorstellen, wo ihm doch seine Glatze so glänzend steht.« In diesem Moment meldete sich ihr Telefon und Klopfer verdrehte genervt die Augen. »Oh, hallo Mel, ich dachte du bist im Urlaub. Wie – abgesagt? Aber warum …? Was? Nein, bei uns hat niemand angerufen. Was für ein Anschlag denn? Wo denn? Ist ja nicht zu fassen. Nein, den kannst du nicht sprechen, der ist noch nicht da. Versuch’s auf seinem Handy. Ja – ich geb’s weiter.«

 

»Was ist passiert?«, fragte Klopfer, als sie aufgelegt hatte.

»Die Therme. Da soll’s einen Anschlag gegeben haben, sagt Kollegin Zick. Mit Gas, wenn ich’s richtig verstanden habe.« Klopfer reagierte sofort und stürmte in sein Büro. »Aber wieso rufen die denn nicht bei uns an?«, konnte sie ihm noch hinterherrufen. »Ist doch nicht zu glauben. Wenn ich daran denke, wegen was sonst hier …« In diesem Moment klingelte es erneut. »Ah, Kommissar Zweifel, schön dass Sie anrufen.« Klopfer kam aus seinem Büro und fuchtelte wild mit seinem Arm. »Moment, ich geb’ Sie mal weiter an den Chef.«

»Zweifel! Wo zum Teufel sind Sie? Ach, Sie sind schon dort? Was genau ist passiert?« Klopfer lauschte einige Minuten hochkonzentriert, dann traf er seine Anweisungen. »Gut, ich schicke die ganze Mannschaft raus, alle verfügbaren Krankenwagen und Notärzte, und ich informiere das BKA für alle Fälle. Sind Sie sicher, dass es kein Giftgas war? Also müssen wir keine Warnung herausgeben? Gut, ich verlass mich auf Sie. Übrigens ist Kollegin Zick wohl schon auf dem Weg. Sie melden sich bitte in fünfzehn Minuten wieder und geben mir den neuesten Status durch.« Klopfer reichte Lucy den Hörer zurück. »Finden Sie raus, wer bei der Therme das Sagen hat und wem die ganze Chose gehört. Und dann verbinden Sie mich bitte mit beiden, in dieser Reihenfolge. Aber erst in fünf Minuten. Vorher rede ich mit dem Polizeipräsidenten.« Lucy konnte sehr schnell sein, wenn es um solche Dinge ging. Klopfer war schon in seinem Büro verschwunden, als er nochmal den Kopf herausstreckte. »Wie kommen Sie überhaupt auf die Idee, Zweifel sei beim Friseur. Fürs Köpfe waschen bin immer noch ich zuständig.«

Melinda Zick war nicht wütend. Das beunruhigte sie selbst am meisten. Da gefällt es dem Universum, ihr ausgerechnet an ihrem ersten Urlaubstag seit einer halben Ewigkeit einen Strich durch die Rechnung zu machen, und sie nimmt es hin, ohne mit Schuhen zu schmeißen oder ihr Rad zu malträtieren. »Was geht da schief?«, dachte sie, als sie sich auf ihr Rad schwang, nachdem sie mit Lucy telefoniert hatte. »Hat mir Zack da gestern mit seinem neuen Nachtisch was untergejubelt?« Zacharias war ihr Bruder, der ein veganes Bistro eröffnet hatte und eine Vorliebe für originelle Zutaten hegte, die durchaus besänftigend wirken konnten. Als sie die Stadtgrenze Richtung Norden erreichte, versperrten ihr zwei Senioren mit unhandlichen E-Bikes den Weg. Wenig später blickten sie ihr empört und fassungslos nach. Melzick hatte sich den Weg wütend freigeklingelt. »Bingo«, dachte sie erleichtert und atmete tief durch, »doch keine Drogen im Dessert.«

Kommissar Adam Zweifel rieb sich mit beiden Händen den kahlen Schädel trocken. Fischli, dem die Erleichterung ins Gesicht geschrieben stand, reichte ihm ein weißes Handtuch.

»Wo ist der Tote jetzt?«, fragte Zweifel und wischte sich mit dem Handtuch über sein Gesicht. »Verdammt warm hier drin.« Sie waren in Fischlis Büro. Es war ein kleiner Raum mit Metallspinden an den Wänden und einer Reihe von Monitoren auf einem weißen Metalltisch. Fischlis Erleichterung darüber, dass die Massenpanik glimpflich abgegangen war, wich purem Entsetzen, als ihm schlagartig die Stollensauna wieder einfiel.

»Das ist ein Katastrophentag«, stöhnte er. »Die ganze blödsinnige Elektronik spielt verrückt. Die Klimaanlage streikt, die Türen lassen sich nicht entriegeln, die Entlüftung stinkt zum Himmel und in der Stollensauna liegt … aber woher wissen Sie von dem Toten, wenn doch angeblich niemand die Polizei gerufen hat?« Zweifel warf das Handtuch auf einen Stuhl.

»Jemand hat mich auf meiner privaten Handynummer angerufen, anonym. Es hörte sich nicht nach einem Scherz an, auch wenn es sich nach einer Kinderstimme anhörte.« Fischli starrte ihn an.

»Und was sagte die Stimme?« Zweifel zuckte mit den Schultern.

»›Sie werden gebraucht. In der Therme gab es einen Toten.‹ Die Stimme war sicher elektronisch verzerrt, warum auch immer. Wer kam denn auf die Idee mit dem Bagger?« Fischli machte eine wegwerfende Handbewegung.

»Nicht der Rede wert. Die Panik war in vollem Gange. Die Leute kannten nur eins: Raus hier. Da ist mir gottseidank der Bagger eingefallen.« Er machte eine Pause um nachzudenken. »Ob so etwas von der Versicherung abgedeckt ist?« Zweifel schüttelte den Kopf.

»Darüber würde ich mir an Ihrer Stelle keine Sorgen machen. Also, wo ist er?«

»Ja, äh, er liegt immer noch in der Stollensauna. Ich hab einen Kollegen davor postiert, damit niemand auf die Idee kommt …«

»Sind Sie denn sicher, dass keiner der Badegäste etwas bemerkt hat?«, unterbrach ihn Zweifel. Fischli verschränkte seine muskulösen Arme.

»Wenn ich Badegast bin und entdecke neben mir in der Sauna eine Leiche, was tue ich dann? Ich schreie um Hilfe, ich informiere das Personal, ich beschwere mich. Sehen Sie und all das ist nicht passiert.«

»Aber erwähnten Sie selbst vorhin nicht einen Schrei?« Fischli winkte ab.

»Der hat damit nichts zu tun. Irgendein blöder Scherz von ein paar Halbwüchsigen. Als Bademeister lernen Sie im Laufe der Jahre zwischen echten Schreien und hysterischem Getue zu unterscheiden. Wobei die lebensgefährlichen Situationen oft genug lautlos ablaufen.« Zweifel ließ sich das durch den Kopf gehen. Ein paar Minuten zuvor war er angekommen. Vor dem Haupteingang, auf den Parkplätzen und auf der Grünfläche rings um den Thermenkomplex wimmelte es von Menschen in höchst unterschiedlicher körperlicher und emotionaler Verfassung. Abgesehen von Schnittwunden und Kreislaufzusammenbrüchen, Prellungen, Quetschungen und zerkratzten Gesichtern, Augenreizungen und Atembeschwerden, war niemand ernstlich verletzt. Fassungslos und entsetzt, empört und verschreckt, versuchten die Menschen, das Erlebte zu verarbeiten. So unterschiedlich die Leute auch damit umgingen, alle einte das Gefühl, nochmal davongekommen zu sein. Als Zweifel sich einen Weg durch die Menge bahnte, hörte er mehrfach, wie über einen Schrei debattiert wurde, der offensichtlich von niemandem als so harmlos empfunden worden war, wie Fischli ihn glauben machen wollte. Doch vorerst beließ er es dabei. Sie hatten Fischlis Büro verlassen und gingen durch die menschenleere Saunawelt. Mehrere große Badetücher trieben im Vitalbecken. Die zerborstene Scheibe hinter dem als Frühlingsgarten bezeichneten Bereich, durch die alle endlich ins Freie gelangt waren, machte einen abenteuerlichen Eindruck. Der Bagger stand führerlos davor. Im Restaurant wurden sie von einem Mann aufgehalten. Er trug einen erstklassigen, hellen Leinenanzug, eine randlose Brille, hinter der schwarze Augen funkelten und eine kleine, halbvolle Flasche eisgekühlten Wassers. Ohne Zweifel eines Blickes zu würdigen, deutete er mit dem Zeigefinger auf Fischli.

»Das wird ein Nachspiel haben, John, das kann ich Ihnen garantieren. Ein sehr teures Nachspiel.« Damit leerte er die Flasche auf einen Zug und stellte sie auf dem Tresen ab. Dann erst wandte er sich Zweifel zu, dem er nicht mal bis zur Schulter reichte. Er blickte ihn von unten her abschätzig an. »Und Sie sind?«, fragte er mit einem Lächeln, das viele Zähne freilegte.

»Jemand, der gerne ein Wasser hätte«, konterte Zweifel trocken. Das Lächeln verdunstete im Nu.

»Mein Name ist Schilling. Ich bin hier der Geschäftsleiter«, sagte er und machte keine Anstalten, Zweifels Bitte zu erfüllen.

»Adam Zweifel, Kriminalhauptkommissar. Herr Fischli wollte mir gerade Ihren toten Badegast zeigen.« Schilling warf dem Bademeister einen missbilligenden Blick zu, der ihn ungerührt erwiderte. Zweifel blieb dies nicht verborgen. »Hier scheint heute ja einiges schief gegangen zu sein, wie ich höre, vor allem auch, was Ihre Haustechnik betrifft. Mit Ausnahme Ihres Kühlschranks, wie mir scheint«, ergänzte Zweifel mit einem Blick auf die leere Wasserflasche, an der einige Wassertropfen herabperlten. Schilling richtete seine schwarzen Augen auf den Kommissar und versuchte, die Situation abzuschätzen. Wie gewöhnlich überschätzte er dabei seine eigene Position. Fischli kannte seinen Chef zur Genüge und war daher auch nicht sonderlich von Schillings Antwort überrascht.

»Ich fürchte, das war die letzte Flasche«, sagte dieser mit einem Achselzucken. Zweifel wollte gerade etwas erwidern, als er aus den Augenwinkeln bemerkte, wie sich jemand mit roten Dreadlocks durch die Trümmer im Frühlingsgarten kämpfte.

»Schon wieder eine Gafferin. Jagen Sie die weg«, herrschte Schilling seinen Bademeister an.

»Ich würde nur ungern auf meine Assistentin verzichten«, sagte Zweifel seelenruhig, bevor Fischli reagieren konnte.

»Ihre was?«, fragte Schilling und nahm seine Brille ab. Melzick war jetzt bei ihnen angekommen. Etwas außer Atem nickte sie Zweifel zu.

»Schöner Schlamassel, was Chef? Das Südseeparadies stell ich mir eigentlich anders vor.« Schilling hustete und rümpfte die Nase. Fischli zog die Augenbrauen hoch und kratzte sich am Kopf.

»Sie haben Urlaub, Melzick. Was tun Sie hier?«

»Ich suche Erholung und Entspannung«, sagte sie und streifte die beiden teils ärgerlichen, teils verblüfften Männer mit einem raschen Blick. Fischli fasste sich als erster.

»Dafür haben Sie sich den falschen Tag ausgesucht, junge Frau«, knurrte er.

»Ach, wenn ich schon mal da bin, da …«

»Ich dachte bei der Polizei gibt es auch so etwas wie einen Dresscode oder besser gesagt: Haircode«, unterbrach sie Schilling süffisant. Melzick schaute ihn ruhig an.

»Davon ist mir nichts bekannt«, erwiderte sie. »Allerdings sollte man eine gewisse Körpergröße haben.« Die Gesichtsfarbe des Geschäftsleiters wurde einen Hauch dunkler. Fischli konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen.

»Na schön«, meinte Zweifel, »nachdem wir jetzt alle vollzählig sind, wäre es wohl an der Zeit für einen Besuch bei dem Toten.« Schilling holte tief Luft und stürmte wortlos voran, gefolgt von Fischli.

»Wer ist das eigentlich?«, raunte Melzick ihrem Chef unauffällig zu, während sie den beiden nachliefen.