Mord aus kühlem Grund

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»Oh, nur der Geschäftsleiter«, raunte der zurück. »Schilling heißt er und der andere ist sowas wie der oberste Bademeister hier, Fischli.«

»Wie bitte?«

»Das ist sein Name. Fischli, John Fischli. Wie sind Sie denn auf die Idee gekommen, ausgerechnet heute ins Paradies zu wollen?«

»Wollt’ ich ja gar nicht. Erzähl ich später.« Der junge Bademeister hielt immer noch Wache vor der Stollensauna. Zweifel konnte beobachten, wie er Schilling etwas ins Ohr flüsterte und dann die Glastür freigab.

»Stopp!«, rief Zweifel, als Schilling sie betreten wollte. »Ich will keinen Ärger mit der Spurensicherung. Niemand betritt die Sauna!« Schilling hob reflexhaft beide Hände, als würde er mit einer Waffe bedroht. »Sie waren hoffentlich auch nicht drin«, sagte Zweifel zu dem Jungen, der ihn mit großen Augen verwundert ansah.

»Natürlich war ich drin.«

»Er hat ihn ja entdeckt«, mischte sich Fischli ein.

»Ich hab aber sofort gesehen, dass da nichts mehr zu machen war.«

»Fußspuren haben wir jedenfalls keine hinterlassen«, meinte Fischli.

»Da wär’ ich mal nicht so sicher«, warf Melzick ein. Zweifel hatte inzwischen einen der dünnen Handschuhe angezogen, die er immer bei sich trug, und öffnete die Glastür, indem er sie ganz oben anfasste. Ein eigenartiger Geruch stieg ihnen in die Nase, eine Mischung aus nassem Laub, Moder und trockenem Holz. Melzick schaute ihm über die Schulter.

»Oh fuck«, stieß sie hervor, »der ist ja kaum so alt wie ich!«

»Nie wieder, dit sarick dir!« Fred schwitzte. Er saß hinter dem Steuer seines Wohnmobils. Johanna wartete stumm auf dem Beifahrersitz ab, bis sich das Unwetter gelegt hatte. Abgesehen davon war sie unglücklich, weil sie sich von ihrer alten Freundin nicht mehr hatte verabschieden können. Nicht einmal telefonisch. Fred war so Hals über Kopf losgefahren, nachdem Elias aufgetaucht war, dass sie gar keinen klaren Gedanken fassen konnte. Erst auf der Autobahn fiel ihr Katharina wieder ein, die sie am Tag zuvor so großzügig mit Kuchen bewirtet hatte, dass sogar Fred beim dritten Nachschlag abwinken musste. Als Johanna sie anrufen wollte, um ihr das Ganze zu erklären, merkte sie, dass ihr Handy weg war. In dem riesigen Durcheinander und in der überstürzten Eile musste sie es verloren haben. Fred wollte von einem eigenen Handy nichts wissen und Elias sollte nach ihrer Meinung von einem eigenen Handy noch nichts wissen. So blieb ihr also nichts Anderes übrig, als bis zur nächsten Raststätte zu warten, in der Hoffnung, dass Fred sich bis dahin beruhigt haben würde. Elias war in sein Buch vertieft. Es lag auf dem rückwärtigen Tisch zwischen seinen Ellenbogen. Sein blasses Gesicht hatte er in seine Fäuste gebettet. Fred saß der Schrecken in den Gliedern. Ursprünglich hatte er vorgehabt, in einem Rutsch nach Berlin zu fahren, wo er sich für den Rest des Urlaubs auf seinem Balkon erholen wollte. Doch jetzt beschloss er kurzerhand, auf dem nächsten Parkplatz eine Pause einzulegen. Das Zittern in seinen Händen war zu stark geworden. Was er genau mit seinem in regelmäßigen Abständen wiederholten »nie wieder« meinte, ließ er offen. Johanna war es ohnehin klar: Nie wieder Bayern, nie wieder Bad Wörishofen, nie wieder Therme, nie wieder Sauna. Der Junge hielt sich die Ohren zu. Er hatte etwas Anderes herausgehört: Nie wieder Elias.

»Ich hab euch gleich gesagt, dass es ganz großer Mist ist, was ihr da vorhabt!« Carla ließ Zornesfunken aus ihren dunklen Augen sprühen. »Wie kann man so naiv sein, so gotteserbärmlich naiv? Genauso gut könnt ihr eine Lawine lostreten und hoffen, dass Schneebälle unten ankommen!« Sie warf ihre schwarze Haarmähne mit der Hand wild zurück. Ihr Zorn war echt. Er war echt und mit Angst unterfüttert. Angst davor, was ihnen jetzt bevorstehen könnte.

»Jetzt mach mal halblang, Carla«, brummte Melchior, »es ist doch gut ausgegangen, außer den paar leichten Verletzungen. Dafür sind die Aufnahmen erstklassig.« Carla schnaubte vor Empörung und klatschte die Hände zusammen.

»Halt einfach die Klappe, Melchior«, fuhr ihn Lukas, der dritte im Bund, an. »Carla hat Recht. Wir haben einen Wahnsinnsdusel gehabt. Ich hätt’ mich nie darauf einlassen sollen.« Melchior schaute ihn spöttisch von der Seite an. Er saß auf der roten Mauer, die sein elterliches Anwesen großzügig einfasste. Lukas saß neben ihm, Carla tigerte vor den beiden auf und ab. Plötzlich schien ihr etwas einzufallen.

»Gib mal her«, sagte sie zu Melchior. Er reichte ihr wortlos und mit einem Schulterzucken sein Smartphone. Sie setzte sich im Schneidersitz auf den Gehweg und startete noch einmal das Video, das sie sich an diesem Tag bestimmt schon fünfmal angesehen hatte. Aus dem winzigen Lautsprecher kamen verzerrte Geräusche, eine Kakophonie aus Schreien, Rufen, Protesten, Schlägen aufs Wasser, Schlägen auf Glas und, darüber liegend, in größeren Abständen gemurmelten Kommentaren von Melchior: » … jetzt kommt gleich die erste Durchsage …; einige haben es gemerkt …; Vorsicht, die Treppe, der Bademeister …«; an dieser Stelle wackelte kurz das Bild, was daran lag, dass Melchior den Standort gewechselt hatte, um nicht in Fischlis Blickfeld zu kommen. Auf dem kleinen Display waren sehr deutlich die Gesichter konfuser Menschen zu erkennen, die in der Schleuse zum Außenbecken feststeckten. Carla starrte auf das Gedränge an den Glasscheiben und auf die Menschenmenge, die von der gegenüberliegenden Seite her ins Innere drängte, auf der Flucht vor dem vermeintlichen Giftgas. Lukas’ Stimme war ganz kurz zu hören, dann konnte man sehen, wie er am Bademeister vorbei die Treppe hinuntereilte und mit einem riesigen Satz ins Becken sprang, wo er einen kleinen Jungen, mit dem Gesicht nach unten treibend, entdeckt hatte. Carla stoppte das Video, sprang auf und funkelte erneut ihre beiden Kommilitonen an.

»Drei Fragen«, sagte sie betont langsam und deutlich, »erstens: Was ist mit dem kleinen Jungen passiert? Wieso wusstest du, Melchior, dass gleich eine Durchsage kommt? Und vor allem: Wo habt ihr die Gasgranaten her? Und wer hat die gezündet? Ihr beide wart ja wohl die ganze Zeit im Saunabereich, oder?«

»Das sind jetzt aber vier Fragen«, meinte Lukas.

»Es sind immer noch viel zu wenige Fragen«, fauchte sie ihn wütend an.

»Schon gut, schon gut, jetzt beruhig dich mal. Also: Dem Jungen geht’s gut«, erwiderte Lukas, »der ist gleich wieder zu sich gekommen. Ich hab sogar seine Mutter gefunden. Die hatte in dem Tumult noch gar nicht mitbekommen, dass ihr Sohn ›toter Mann‹ spielen wollte.« Er lächelte gequält und schaute Melchior von der Seite an, doch der schwieg. Er hatte sich einen Kaugummi in den Mund gesteckt und wich Carlas Blick aus. Melchior wusste, sie würde keine Ruhe geben, auch wenn sie jetzt ebenfalls schwieg. Ihr Schweigen konnte sehr herausfordernd sein. Das hatte er in den letzten beiden Jahren, seit sie gemeinsam in München Psychologie studierten, oft genug erlebt. Schließlich nahm er den Kaugummi raus und klebte ihn demonstrativ an die Mauer.

»Ach weißt du, Carla,« sagte er obenhin, »das mit der Durchsage und so, glaub’ mir, es ist besser, wenn du nicht alles weißt.«

»Besser für dich oder für mich?« Er schaute ihr in die Augen.

»Für dich«, und damit sprang er von der Mauer. »Übrigens war das kein Giftgas, nur ein paar harmlose Nebelgranaten.«

»Weißt du was«, giftete Carla ihn an, »sag das doch mal den Leuten ins Gesicht, die sich hier quälen.« Sie hielt ihm das Display vor die Augen. Das Standbild zeigte deutlich die verzerrten und verstörten Gesichter der Menschen aus dem Eingangsbereich. »Aber dazu fehlt dir einfach die Courage, Melchior.« Sie warf ihm das Smartphone voller Verachtung entgegen. Melchior fing es lässig auf. Lukas schaute angestrengt in eine andere Richtung. Carla hatte einen Entschluss gefasst. Sie hängte sich ihre Büchertasche um und holte tief Luft.

»Mit euch bin ich fertig«, sagte sie leise und ging. Lukas schaute ihr erschrocken nach. Melchior hielt ihn am Arm fest.

»Komm mit rein«, sagte er zu ihm, »wir müssen uns was überlegen.«

3. Kapitel

»Bedienen Sie sich«, sagte Lars Schilling mit seinem Handy am Ohr unwirsch zu seinen Gästen. Sie hatten sich in sein Büro im ersten Stock begeben. Dr. Kälberer, der Polizeiarzt, ließ ausnahmsweise einmal nicht auf sich warten, und war bereits dabei, die Leiche des jungen Mannes in der Stollensauna zu untersuchen. Penny Stock, die Spezialistin der Spurensicherung war mit ihren beiden Assistenten ebenfalls eingetroffen und wartete darauf, den Fundort unter die Lupe nehmen zu können. Schilling hatte kurzzeitig den Überblick verloren und beschlossen, der ganzen Sache zumindest räumlich aus dem Weg zu gehen. Während er noch telefonierte, setzten Zweifel und Melzick sich an den runden Glastisch, auf dem einige Mineralwasserflaschen bereitstanden. Fischli war auf ausdrücklichen Wunsch des Kommissars mitgekommen und beobachtete am Fenster stehend, wie sich das Gelände rund um die Therme allmählich leerte, die Sanitätswagen einer nach dem anderen abfuhren und zumindest nach außen hin wieder etwas Normalität einkehrte. Schilling sprach gedämpft. Er hatte sich auf seinem Schreibtischstuhl zur Wand gedreht und machte auffallend wenig Worte. Hauptsächlich war er mit Zuhören beschäftigt. Schließlich legte er auf und gesellte sich zu ihnen.

»Das war Herr Kronberger, der Eigentümer der Therme.« Zweifel öffnete gerade seine zweite Wasserflasche. »Er befindet sich momentan im Ausland. Offenbar hat Ihr Chef,« er nickte unwillig zu Zweifel hinüber, »ihn schon informiert. Herr Kronberger kommt höchstpersönlich hierher. Wahrscheinlich schon morgen«, fügte er mit einem säuerlichen Gesichtsausdruck hinzu. Zweifel leerte die Flasche zur Hälfte und stellte sie dann behutsam auf den Glastisch. Melzick behielt ihre in der Hand.

 

»Wir haben ein großes Problem, Herr Schilling«, sagte er

»Ach ja, nur eines?«, gab dieser zurück und verschränkte die Arme. »Mein lieber Herr Kommissar, ich bin von Problemen umzingelt!«

»Gut, dann wollen wir mal festhalten: Eine ganze Menge Zeugen, die uns vielleicht weitergeholfen hätten, sind weg. Das ist zwar verständlich, aber auch gleichzeitig der Grund, weshalb wir diejenigen, die noch da sind, hierbehalten müssen, damit wir sie so rasch wie möglich befragen können.«

»Haben Sie deswegen Ihre freundlichen Wachhunde überall postiert?« Zweifel legte seine Stirn in Falten. Allmählich verlor er die Geduld für das Verhalten Schillings.

»Die Betonung liegt auf ›freundlich‹, Herr Schilling, weniger auf ›Wachhund‹. Und ich will Ihnen etwas verraten, Herr Schilling: In den mehr als zwanzig Jahren, die ich damit verbracht habe, Morde aufzuklären, durfte ich die Erfahrung machen, dass die Toten das freundlichste Verhalten von allen Beteiligten an den Tag legten.« Fischli, der immer noch am Fenster stand, drehte sich um. Diese Töne kannte er nicht. Der Geschäftsleiter, der gerade dabei war, eine Flasche Bitter Lemon zu öffnen, rutschte am Verschluss ab und verschüttete etwas auf dem makellosen Glastisch. Zweifel fuhr fort. »Die Opfer haben ausnahmslos mit mir kooperiert und früher oder später geholfen, das Geheimnis um ihren Abgang zu lüften. Vor allem, und das weiß ich am meisten zu schätzen, haben sie sich mit abfälligen Bemerkungen zurückgehalten.« Melzick schmunzelte in sich hinein. Zweifel richtete seine großen schwarzen Augen mit einem gewinnenden Lächeln auf Schilling. »Bei allem Respekt für Ihre Verantwortung und angesichts der Probleme, die sich um Sie herum versammelt haben, schlage ich vor, wir versuchen es alle einmal mit dieser Verhaltensweise.« Fischli war zu ihnen getreten und setzte sich nun ebenfalls an den Tisch. Dieser Ton sagte ihm zu. Schilling stand abrupt auf und wollte zu einer Erwiderung ansetzen. Im letzten Moment überlegte er es sich anders, da ihn alle drei ansahen. Er räusperte sich. Dann machte er eine wegwerfende Handbewegung und setzte sich wieder. Melzick holte ein Taschentuch hervor und wischte den Limonadenfleck auf. Schilling nickte ihr kurz zu, lehnte sich in seinem Stuhl zurück und verschränkte die Arme. »Also, was ist am dringendsten?«, fragte Zweifel und legte einen Finger an die Nase.

»Der Betrieb muss sich ganz schnell wieder normalisieren«, sagte Schilling mit Nachdruck.

»Wir müssen herausfinden, wer der Tote ist«, sagte Melzick.

»Die Glaswand muss erneuert werden«, sagte Fischli. Zweifel nickte. Der alte Bademeister beugte sich nach vorn, die Ellbogen auf den Knien. »Glauben Sie, dass das wirklich ein Anschlag war, Herr Kommissar? Ich hab sowas noch nie erlebt. Dieses Chaos, diese Panik, die vielen verzweifelten Menschen, ich …« Er brach ab und senkte den Kopf.

»Im ersten Moment hat es wohl danach ausgesehen«, antwortete Zweifel. »Ich habe vorhin kurz mit meinen Leuten gesprochen und auch mit einem der Ärzte. Sie sind sicher, dass es kein Giftgas war. Wir haben zwei kleine Gasbehälter entdeckt, die in der Eingangshalle unter den Sitzbänken versteckt waren. Es dürfte sich um einigermaßen harmlose Rauchgasgranaten mit Fernzünder handeln. Das sieht mir nicht nach einem Terroranschlag aus.«

»Was ist mit den Türen, die nicht aufgingen? Und die merkwürdigen Durchsagen? Die Stimme kam mir jedenfalls unbekannt vor und ich arbeite hier schon sehr lange«, beharrte Fischli. Zweifel schaute ihn fragend an.

»Dann muss ich aber nochmal auf den Schrei zurückkommen. Waren es nicht zwei Schreie? Ich hatte den Eindruck, dass die Badegäste die nicht als harmlos empfunden haben.« Fischli erwiderte seinen Blick.

»Wenn man alles im Zusammenhang betrachtet, dann waren sie das vielleicht auch nicht.«

»Genau das ist die Frage«, ergänzte Melzick, »Hat dieses ganze Theater mit Schreien, verschlossenen Türen und Rauchgas irgendetwas mit dem Toten zu tun?« Zweifel stand auf und nickte Melzick zu.

»Wir kümmern uns jetzt erstmal um die Zeugen, die Kollegen haben ja schon angefangen.« Er warf Schilling einen Blick zu. »Sie könnten mir später die Innereien der Therme erläutern, also wer wann wofür zuständig ist, und Sie, Herr Fischli, zeigen mir dann sozusagen den Maschinenraum und die Geheimgänge und öffnen mir alle Türen, auf denen ›Zutritt streng verboten‹ steht.« Schilling verzog genervt das Gesicht, Fischli nickte. »Kommen Sie, Melzick, sorgen wir dafür, dass die Menschen das Paradies verlassen dürfen.«

»Wenn der Knebel nur nicht diesen entsetzlich süßen Geschmack hätte«, dachte Moritz Kronberger. Eine Mischung aus Süßholz, Saccharin und Anis. Es würgte ihn in der Kehle. Seine Hände waren auf seinem Rücken mit Klebeband fixiert, das ihm keinen Millimeter Bewegungsspielraum gab. Seine Beine waren oberhalb der Knie und an den Knöcheln auf die gleiche Weise gefesselt. Er lag auf der Seite auf einer alten Matratze. Die Augen hatten sie ihm nicht verbunden. Dennoch hielt er sie die meiste Zeit geschlossen. Er war 14 Jahre alt und er war vorbereitet. Das half ihm, nicht die Nerven zu verlieren. Seit Stunden kämpfte er mit seiner Atmung, zwang sich, den dicken Stoffballen, der in seinem Mund festsaß, zu ignorieren, den Schluckreflex zu kontrollieren. Ihm war sofort klar gewesen, was mit ihm passieren würde, als der rote Wagen neben ihm an der Ampel mit quietschenden Reifen bremste. Als die beiden Männer raussprangen und ihn von seinem Mountainbike rissen. »Also gut«, hatte er bei sich gedacht, »jetzt werde ich also gekidnappt.« Bemerkenswerterweise blieb er äußerst ruhig und gelassen. Seine Kidnapper waren sehr routiniert. Alles lief ab, wie hundert Mal geprobt. Keine Bewegung, kein Wort zu viel. Sein Vater hatte ihn und seinen Bruder seit sie zwölf waren, immer wieder auf die Möglichkeit hingewiesen, dass sie entführt werden konnten. Er hatte immer von der »Möglichkeit« gesprochen, nie von der »Gefahr«. Systematisch hatte er ihre Verhaltensweisen in einer solchen Situation eingeübt, sie regelrecht gebrieft. Moritz war auf seine Entführung also mindestens so gut vorbereitet, wie seine Entführer.

»Vorbereitet sein ist das Allerwichtigste«, hatte ihr Vater ihnen in seiner kühlen Art eingeschärft. Für Moritz hatte es sich immer so angehört, als würde er zu seinen Angestellten sprechen. »Egal was man zu euch sagt, lasst euch nicht verunsichern. Geht davon aus, dass das zu dem Plan gehört. Deshalb: Wer vorbereitet ist, kann die Ruhe bewahren. Wer die Ruhe bewahrt, kann überlegen. Wer überlegt, kann überleben.« Wie ein Mantra kamen ihm diese Sätze immer und immer wieder in den Sinn, während er gefesselt und geknebelt auf einer modrigen Matratze in irgendeinem alten Obstkeller auf die nächsten Schritte seiner Entführer wartete.

»Keine Sorge, Dad«, dachte er, »ich bin genauso ruhig wie du.« Sein Vater würde jede Lösegeldforderung erfüllen. Und dann würden alle Beteiligten zufrieden auseinandergehen und die Angelegenheit so schnell wie möglich vergessen. Soweit die Theorie. Sein Bruder und er hatten früh gelernt, wie man Theorien in die Praxis umsetzt. Ihr Vater war ein harter Lehrmeister gewesen. Nur eines würde Moritz Kronberger nie wieder vergessen, dessen war er sicher. Diesen widerlich süßen Geschmack in seinem Mund.

Elias war zwölf Jahre alt. Er wohnte jetzt seit zwei Jahren bei seiner Tante Johanna und seinem Onkel Fred, aber so böse hatte er seinen Onkel noch nicht erlebt.

»Am besten wird es sein, wenn er gar nicht merkt, dass ich da bin«, dachte er und vergrub sich in sein Buch. Ab und zu blätterte er eine Seite um, ohne überhaupt ein Wort gelesen zu haben. Zu sehr war er in Gedanken noch in diesem riesigen Spaßbad. Sein Onkel bremste abrupt ab. Sie steckten in einem Stau fest. Jetzt würde er erst recht wütend sein. Aber zu seiner Überraschung verlor Onkel Fred kein Wort darüber. Vielleicht war sein Vorrat an Ärger aufgebraucht.

»Willst du wat zu futtern, Elias?«, fragte ihn seine Tante und drehte sich zu ihm um. Er schüttelte den Kopf. Sie seufzte.

»Mir fragst du nüscht?«, sagte sein Onkel.

»Dir brauch ick nüscht zu fragen«, gab sie zur Antwort und reichte ihm ein Sandwich, das er brummend entgegennahm.

»Dit scheint wat Größeret zu sin«, sagte er kauend, als sie die Sirenen von mehreren Notarzt- und Krankenwagen näherkommen hörten. Elias schaute gerade aus dem Seitenfenster, als ein Sanitätswagen sich vorsichtig an ihnen vorbeischob. Schlagartig fiel ihm ein, was er am Morgen in der Therme beobachtet hatte. Etwas Sonderbares war dort geschehen. Erst hatte er einen unheimlichen Schrei gehört und kurz darauf noch einen. Irgendwo drinnen in der Therme musste etwas Schlimmes passiert sein. Bald danach hatten zwei Männer in Sanitätswesten auf einer Trage einen Menschen transportiert. Der lag unter einer dunklen Decke. Sie waren vorher mit ihrem Auto ohne Sirene bis an die Stelle gefahren, wo dichte Büsche auf einem grasbewachsenen Erdwall die Sicht auf das Gelände um die Therme versperrten. Elias hatte sich dort auf der Flucht vor seinem Onkel versteckt. Hierher verirrten sich keine Erwachsenen. Er hatte von seinem Versteck aus zugesehen, wie die Männer mit ihren leuchtend orangefarbenen Westen ausgestiegen waren, die hintere Tür geöffnet und die Trage mit dem Mann herausgerollt hatten. Er hatte den Kopf des Mannes erkennen können. Er war blond und er lag bewusstlos unter seiner Decke. So war es Elias wenigstens vorgekommen. Die Männer waren groß und stark gewesen und sie waren rasch gelaufen. Dann hatte er sie kurz aus den Augen verloren, weil er in der anderen Richtung Ausschau nach seinem Onkel gehalten hatte. Dann hatte er sie um eine Ecke des Gebäudes kommen sehen. Sie mussten irgendwie den Zaun überwunden haben, der auf der äußeren Seite des Graswalls das Gelände begrenzte. Sie hatten geschwitzt und ihre Köpfe waren rot gewesen. Der Mann, den sie trugen, war dagegen so komisch weiß im Gesicht gewesen. Das hatte Elias erschreckt. Sie waren dicht an der Gebäudewand entlanggelaufen, ohne sich umzusehen. Dann waren sie in einer schmalen Mauernische verschwunden und Elias hatte sie für ein paar Minuten aus den Augen verloren. Wenig später, gerade als er sein Versteck hatte verlassen wollen, waren die zwei Männer wiederaufgetaucht, aber ohne den Bewusstlosen. Sie hatten es sehr eilig gehabt. Elias hatte sich gerade noch rechtzeitig ducken können. Sie waren mit der Trage, auf der die Decke lag, zu ihrem Auto gerannt. Elias hatte die Sekunden gezählt. Bei zweiundzwanzig war das Auto mit den beiden Männern davongefahren.

»Willst du wenigstens een Stück Kuchen?«, fragte ihn seine Tante und hielt ihm einen Pappteller mit einem Apfelkuchen hin.

»Lass ihn doch, wenn er nüscht will«, brummte sein Onkel, der das Stück schon für sich einkalkuliert hatte. Er hörte sich etwas freundlicher an. Daher riskierte es Elias, den Kuchen anzunehmen. Während er in den süßen, hellen Teig biss, versuchte er, nicht mehr an das weiße Gesicht des Mannes auf der Trage zu denken.

Melchior saß auf der Fensterbank in seinem Studierzimmer, wie er es nannte. Er saß immer irgendwie erhöht, wie Katzen es gerne tun. Von hier oben unter dem Dach konnte er über die Dächer der Nachbarvillen bis zu den Alpen blicken. Er hatte die Arme über dem Kopf verschränkt und beugte sich seitwärts nach beiden Seiten, um die Schultern zu dehnen.

»Lass dich nicht verrückt machen, Lu«, sagte Melchior, »Carla sieht doch immer alles kohlrabenschwarz. Im Kritisieren und Besserwissen ist sie die Queen of the Universe, das weißt du doch.« Lukas antwortete nicht. Er saß an Melchiors Schreibtisch und starrte angestrengt in dessen Laptop. »Die wird sich schon wieder einkriegen, mach dir keinen Stress deswegen. Spätestens …«

»Menschenskind, mir ist egal, ob sie sich einkriegt«, unterbrach ihn Lukas, »wenn sie nur die Klappe hält. Die kann uns in Teufels Küche bringen.«

»So, so, in Teufels Küche. Was ist denn das für eine Ausdrucksweise? Du redest ja wie die Geschäftsfreunde von meinem Dad.«

»Von mir aus. Die kann uns megamäßig Trouble machen, wenn das für dein Sprachzentrum kompatibler ist.«

»Okay, okay, Freund Lukas«, seufzte Melchior, »dann lass uns doch ein Palaver halten und überlegen, wie wir das Weib in Acht und Bann schlagen.« Lukas riss sich vom Bildschirm los.

»Du hast wirklich noch nicht geschnallt, wie kurz wir vorm Rauswurf stehen, was? Carla muss nur unseren ehrenwerten Professor Jung abpassen und ihm ein paar Sachen flüstern. Der wartet doch nur auf sowas. Glaub’s mir: Zwei, drei Worte von ihr und eine Woche später hat jeder von uns einen freundlichen Brief auf seinem Schreibtisch: ›Wir bedauern, Ihnen mitteilen zu müssen, blablabla …‹ und raus bist du. Vier Jahre Plackerei für nix und wieder nix. Wie soll ich das meinem Vater beibringen? Für das Geld, das ihn mein Studium gekostet hat, hätte er schon längst seine Werkstatt modernisieren können. Seit Jahren wartet er darauf.«

 

»Ach komm jetzt, Lu …« Lukas klappte den Laptop zu. Sein Ton wurde merklich kühler.

»Nicht jeder hat so viel Kohle wie dein Dad, Melchior, schon vergessen? Es gibt tatsächlich Leute, die müssen jeden Tag arbeiten.« Melchior sprang von der Fensterbank und baute sich vor seinem Freund auf.

»Wenn ich eines satthabe, dann, dass mir ständig das Scheißgeld meines Vaters vorgeworfen wird.« Lukas wich zurück.

»Ich dachte, es wird dir nachgeworfen«, sagte er und versuchte zu grinsen. Melchior holte zum Schlag aus, zögerte kurz und grinste dann ebenfalls. Er gab Lukas einen eher symbolischen Kinnhaken.

»Jedenfalls werden wir nicht so schnell exmatrikuliert, Lu. Ganz so einfach geht das nicht.«

»Aber du vergisst den Schaden, der entstanden ist. Soweit ich gerade rausgefunden habe, ist der Besitzer der Therme ein harter Hund. So einer versteht keinen Spaß, mit dem kannst du nicht verhandeln.« Melchior zuckte gleichgültig mit den Schultern.

»Viel wichtiger ist doch die Frage: Was machen wir mit dem Video?«

»Wir mieten ein Schließfach bei Gringotts in London und lassen es von Harry Potter bewachen.«

»Wer ist Harry Potter?«

»Irgendein Kobold, glaub’ ich.«

»Zum Glück hört uns keiner zu«, meinte Melchior, »sonst könnte man noch auf den Gedanken kommen, wir wären nicht erwachsen.«