Mord aus kühlem Grund

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5. Kapitel

Moritz Kronberger schlief. Im sicheren Gefühl, bisher keinen Fehler gemacht zu haben, und der Situation adäquat begegnet zu sein, wie sein Vater sich ausgedrückt haben würde, hatte ihn, nach vier Stunden konzentrierten Atmens, die Erschöpfung übermannt. Damit hatte man gerechnet. Die Klebebänder, mit denen er gefesselt war, wurden überprüft. Sie waren unversehrt. Er hatte keinerlei Versuche unternommen, sie loszuwerden. Atmung und Puls wiesen keine Besonderheiten auf. Man schnitt ihm den rechten Ärmel seines teuren Hemdes ganz oben ab und maß seinen Blutdruck. Auch der war im grünen Bereich. Der Gefangene war in einem guten Zustand. Sie waren zufrieden. Sein Zustand würde sich noch ändern. Wie geplant.

Schilling blieb abrupt stehen, als er Zweifel und Melzick auf der Treppe sah.

»Na endlich, Kommissar. Wollten Sie nicht die Innereien der Therme kennenlernen, wie Sie sich auszudrücken belieben?« Zweifel war mit zwei großen Schritten neben ihm.

»Zunächst einmal interessiert mich der Kopf des Ganzen.«

»Der steht vor Ihnen«, sagte Schilling und warf sich in die Brust.

»Der Kommissar meint den ganz großen Kopf«, sagte Melzick. Schillings Stirn rötete sich.

»Sie meinen Herrn Kronberger? Ich sagte Ihnen bereits, dass er gerade im …«

»… Ausland weilt und vielleicht morgen hier ankommt, ich weiß«, unterbrach ihn Zweifel. »Kennen Sie seine Söhne?« Schilling blickte verwirrt zwischen beiden hin und her.

»Seine Söhne? Nein, nein nicht persönlich, nur dem Namen nach.«

»Gesehen haben Sie sie also noch nicht? Auch nicht auf Fotos oder Videos?«

»Ist das denn so wichtig?« Zweifel nickte. »Von mir aus Herr Kommissar. Ich gestehe, ich weiß nicht wie die beiden aussehen. Genügt das?«

»Das ist tatsächlich eine wichtige Aussage, Herr Schilling. Immerhin sind Sie einem der beiden heute schon begegnet. Beinahe jedenfalls.«

»Sie sprechen in Rätseln. Macht Ihnen wohl Spaß.«

»Blond, knapp dreißig Jahre alt, unbekleidet, ruhiges Wesen« Schilling nahm seine Brille ab, drehte sich nach allen Seiten um und setzte sie wieder auf. Auf seiner Stirn hatten sich Schweißtröpfchen gebildet.

»Wollen Sie damit sagen, dass …«

»Der Tote in Ihrer Sauna ist einer der Kronberger-Zwillinge. Dr. Kälberer, unser Polizeiarzt, hat das bestätigt. Er weiß nur nicht, welcher von beiden es ist. Das wundert mich allerdings nicht. Herr Kronberger wird sich da leichter tun.«

»Sie haben eine wirklich fragwürdige Art, sich auszudrücken, Herr Kommissar.« Zweifel wusste, dass Schilling in diesem Fall Recht hatte und zog es vor, ihm ausnahmsweise nicht zu widersprechen.

»Herr Kronberger muss unverzüglich informiert werden. Sie sprachen vorhin mit ihm. Er ist also erreichbar?« Schilling nickte zögernd.

»Im Prinzip ist das richtig.«

»Was heißt das?«

»Er ist in Florida, geschäftlich. Dort ist es jetzt«, er schaute auf seine groß dimensionierte Armbanduhr, »7 Uhr 15.«

»Scheint ein Frühaufsteher zu sein.«

»Schlafen gehört nicht zu seinen Lieblingsbeschäftigungen. Er hat mich ausdrücklich gebeten, ihn nur im äußersten Notfall vor seiner Rückkehr anzurufen. Er führt sehr wichtige Verhandlungen mit den Amerikanern und will durch nichts abgelenkt werden. Dass Ihr Vorgesetzter ihn überhaupt telefonisch erreicht hat, ist ein Wunder.«

»Herr Klopfer kann sehr hartnäckig sein«, warf Zweifel ein.

»Jedenfalls muss dieser Herr Klopfer den Vorfall wahnsinnig aufgebauscht haben. Sogar vom BKA hat er gefaselt. Herr Kronberger war einigermaßen beruhigt, nachdem ich ihm die Angelegenheit aus meiner Sicht geschildert habe.«

»Die Leiche haben Sie auch erwähnt?«

»Herr Kronberger ist unterrichtet. Er sagte: ›Nachdem der Mann nun mal tot ist, erübrigen sich für heute weitere Maßnahmen durch mich‹.«

»Klare Aussage«, meinte Zweifel. Schilling sprach nun besonders langsam und betonte jedes einzelne Wort.

»Er sagte außerdem: ›Spätestens morgen Mittag bin ich zurück. Bis dahin keine Störungen mehr, Schilling, unter gar keinen Umständen‹. Ich nehme das wörtlich, Herr Kommissar.«

Zweifel rieb sich mit der linken Hand über seinen Schädel und schaute Schilling prüfend an. Dann fasste er einen Entschluss.

»Ich werde morgen hier sein. Und ich werde der Erste sein, mit dem Herr Kronberger spricht, Herr Schilling. Unter allen Umständen. Ich denke, das ist auch eine klare Aussage. Und jetzt möchte ich, dass Sie meiner Assistentin erläutern, wer in Ihrem Spaßbad wofür zuständig ist, welche Mitarbeiter heute Vormittag hier waren, wie lange diese schon bei Ihnen arbeiten und wie zufrieden Sie mit ihrer Arbeitsqualität sind. Außerdem möchte ich wissen, ob es ein Sicherheitskonzept gibt, wer dafür verantwortlich zeichnet, und ob Sie externe Sicherheitsdienstleister beschäftigen. Falls ja – seit wann. Speziell möchte ich wissen, wer für die Haustechnik zuständig ist und wer die Durchsagen macht. Gibt es eine technische Zentrale, welche die gesamte Anlage elektronisch überwacht und steuert? Wer ist dafür der verantwortliche Mitarbeiter? Und ich möchte, dass Herr Fischli mir alles zeigt.« Zweifel hatte seine Aufzählung beendet, während Schilling versuchte, gelassen zu bleiben, was ihm nicht gelang.

»Sind Sie jetzt fertig?«, platzte es aus ihm heraus. »Das sind verdammt viele Fragen und ich weiß nicht, ob ich …«

»Keine Sorge«, unterbrach ihn Melzick, »ich werde keine Einzige davon vergessen. Wenn Sie freundlicherweise etwas zu Schreiben für mich hätten, können wir sofort anfangen«, sagte sie und strahlte ihn an. Er starrte auf ihre hennaroten Dreadlocks und knirschte zum wiederholten Mal an diesem Tag mit den Zähnen. In diesem Augenblick erschien, wie auf ein Stichwort, John Fischli.

»Ah, Herr Fischli«, sagte Zweifel, »dann können wir ja ebenfalls anfangen.«

Fred bog mit einem tiefen Aufatmen in ihre altvertraute Berliner Straße ein, manövrierte behutsam an den auf beiden Seiten parkenden Autos vorbei und hielt kurz mitten auf der Straße vor ihrem Haus, um die Seitenspiegel einzuklappen. Dann schickte er Johanna nach vorne, damit sie ihn durch den schmalen Torweg in den Hinterhof dirigieren konnte. Elias beorderte er auf den Beifahrersitz, damit er aus dem Seitenfenster den Abstand zur Mauer kontrollierte. Fred war in seinem Element. Im Rangieren eines Wohnmobils machte ihm so schnell keiner was vor. Da konnte ihn so leicht nichts aus der Ruhe bringen, auch nicht die zahlreichen Zuschauer, die in den Nachbarhäusern in den Fenstern lagen und sonst nichts zu tun hatten. Auch Elias war hochkonzentriert bei der Sache und vergaß für kurze Zeit sein Buch, in dem er die letzten fünf Stunden fast ununterbrochen geschmökert hatte. Nach wenigen Minuten stand das Wohnmobil ohne einen Kratzer erlitten zu haben auf seinem Stammplatz zwischen Teppichstangen, Mülltonnen und alten und neuen Fahrrädern. Fred klopfte zum Abschluss dieser Reise dreimal auf’s Lenkrad und stieg beschwingt aus. Johanna war bereits dabei, ihr Reiseinventar auszuladen.

»Nimm schon mal den Korb mit dem Jeschirr«, rief sie ihm aus dem Innern zu. »Elias, du kannst die Wäsche hochtragen. Und denn …« Fred beugte sich durch die offenstehende Seitentür.

»Nu lass uns doch erstmal ankommen. Wir setzen uns auffen Balkong und jönnen uns een kleenes Willkommensbierchen.«

»Mach, wattu willst. Ick hab keene Ruhe, bis die janze Chose ausjeladen is.« Fred verdrehte die Augen und klopfte Elias, der vollbepackt neben ihm auftauchte, auf die Schulter.

»Weeßt du, wat Sklaven sin?« Elias nickte.

»Die gab’s ganz früher in Rom. Die konnte man kaufen.« Fred seufzte.

»Die jibtet auch heute noch. In Berlin.«

»Janz recht«, kam es von Johanna, »und wer nicht spurt wird vakooft.« Fred schnappte sich den Korb mit dem klappernden Geschirr.

»Kannstet ja mal versuchen. Auf Ebay. Sofortkauf. Kein Rückjaberecht. Hätten wir vielleicht beide wat davon.« Johanna packte ihm noch die Schublade mit dem Besteck obendrauf und schaute ihn prüfend an.

»Dit is vielleicht jar keene so üble Idee. Muss ick drüber nachdenken.« Elias war leicht beunruhigt. Er hatte immer noch nicht herausgefunden, wann die beiden etwas ernst meinten und wann nicht. Streit zwischen Erwachsenen konnte er nicht vertragen. Den hatte er oft genug zwischen seinen Eltern erlebt. Er marschierte entschlossen auf die Eingangstür zu, in der Hoffnung, sein Onkel würde ihm folgen. Die nächste halbe Stunde waren sie alle drei emsig damit beschäftigt, den Reisehausrat in ihre Wohnung im dritten Stock zu tragen, eine schweißtreibende Angelegenheit, da es keinen Aufzug gab. Sie hatten es sich gerade auf ihrem Balkon gemütlich gemacht, als das Telefon klingelte.

»Ach du liebes bisschen, ick wollte doch Katharina anrufen«, rief Johanna und stürzte ins Wohnzimmer. Fred schaute Elias an. Elias schaute Fred an und beide grinsten. Sie hörten Johanna in ihrer üblichen Lautstärke telefonieren, was bedeutete, dass zum Beispiel der schwerhörige Herr Lüdenscheid von gegenüber problemlos jedes Wort verstehen konnte. Zumindest galt das für den Anfang des Gesprächs, solange, bis Johanna sich wortreich für die übereilte Abreise entschuldigt hatte. Fred kam naturgemäß dabei nicht gut weg, doch das machte ihm nichts aus. Nach einer Weile war von Johanna nichts mehr zu hören. Ihr hatte es buchstäblich die Sprache verschlagen. Fred und Elias tauschten wieder einen Blick aus und zwinkerten sich einvernehmlich zu. Sie wussten zwar nicht, was ihr die Sprache verschlagen hatte, doch konnten sie jetzt umso ungestörter die Abendsonne auf dem geräumigen Balkon genießen. Als Johanna zurückkam, war es mit der Ruhe vorbei. Sie war etwas blass um die Nase, dafür waren ihre Wangen kräftig gerötet, als ob sie zwei Ohrfeigen bekommen hätte. Sie setzte sich wortlos in ihren Korbsessel, nahm ihr Bierglas vom Tisch und leerte es in einem Zug.

 

»Hoppla«, sagte Fred. Sie schaute ihn an, als ob sie seine Anwesenheit erst jetzt bemerkte.

»Dit kannst du laut sagen.«

»War Katharina stinkich?«, fragte Fred. Elias vertiefte sich wieder in sein Videospiel und tat, als hörte er nicht zu. Johanna schüttelte den Kopf.

»Stinkich is jar keen Ausdruck. Sei froh, dat du nüscht am Telefon warst. Sie hatte ja een komplettes Menü für uns vorbereitet, mit allen Schikanen, wir hätten uns nur hinzusetzen brauchen. So wie et ausjemacht war. Aber nee, der Herr musste ja sofort nach Hause flüchten. Nur wech aus dem feindlichen Ausland.« Sie redete sich in Rage. Elias starrte konzentriert auf das kleine Display. Fred stand wortlos auf und holte sich noch ein Bier. »Jetzt bloß keene Eskalation«, dachte er. Er dachte es zum zweiten Mal an diesem Tag.

»Hol dir doch een Stück Kuchen, Elias, ick hab den Rest innen Kühlschrank jestellt«, sagte sie, als Fred zurückkam. Elias schüttelte den Kopf. »Dann hol dir noch wat zu trinken.« Wieder schüttelte er den Kopf.

»Lass den Jungen doch.«

»Ick lass ihn ja!«, fauchte sie plötzlich giftig. »Ick weeß nur nich ob …« Elias stand auf und verließ den Balkon, ohne sie anzusehen.

»Na siehste«, sagte Fred, »du weeßt doch, wie er is.«

»Ja, ja, ja, ick weeß, ick weeß. Aber heute Morgen wolltest du ihn noch stundenlang inner Sauna schmoren lassen, haste schon vajessen?« Fred winkte ab.

»Jetzt verrat mir nur mal, warum du’n weghaben wolltest«, raunte er ihr zu. Johanna wischte ein paar Mal mit der flachen Hand unsichtbare Krümel vom Tisch.

»Et hat’n Toten jejeben«, sagte sie leise. »Ick will nüscht, dat der Junge nochmal irjendwat mit Toten zu tun hat.« Fred schaute sie mit großen Augen an.

»Inner Therme? Heut Morjen?« Sie nickte und zupfte am Tischtuch.

»Een junger Mann. Lag als Leiche inner Sauna.«

»Welche Sauna?«

»Is doch ejal, Mensch. Die Stollensauna jloob ick. Katharina hattet von eener Freundin, die dort arbeetet. Angeblich soll er ertrunken sein.«

»Ertrunken? Inner Sauna?« Fred fehlten die Worte. Und Elias, der neben der Balkontür stehengeblieben war, um zu lauschen, fiel das weiße Gesicht ein, das ihn an diesem Morgen so erschreckt hatte.

Lucy tat etwas Verbotenes: Sie lauschte. Der Polizeichef von Bad Wörishofen, Alois Klopfer, telefonierte in seinem Büro. Von Angesicht zu Angesicht konnte Klopfer bedrohlich leise sein, wenn er wütend war. Am Telefon dagegen konnte er sehr laut werden. »Ich lausche ja gar nicht«, sagte Lucy zu sich selbst, als sie sich an seine Bürotür schlich, »ich höre nur nicht weg.«

»Hat man Ihnen als Sie klein waren nicht die Uhr erklärt?«, dröhnte es klar und deutlich von drinnen. »Wissen Sie, was man im Westen unter einer Viertelstunde versteht? Möchte der Herr Kommissar vielleicht, dass ich ihm hinterher telefoniere?« Lucy hätte zu gern Zweifels Antworten mitbekommen. Sie schienen jedenfalls nicht dazu geeignet, den Chef zu beruhigen. »Nein, ich habe das BKA noch nicht alarmiert. In weiser Voraussicht, wie mir scheint. Gottseidank habe ich noch andere Informationsquellen als Sie. Den Geschäftsleiter der Therme zum Beispiel, Herrn Schilling.« Eine Zeit lang war nichts mehr zu hören. Offenbar wurde der Chef mit den ersehnten Informationen gefüttert. »Ist Frau Zick bei Ihnen? Ja. Ja doch! Ist mir bekannt, wir werden das schon regeln mit ihrem Urlaub!« Klopfers Stimme schien näher zu kommen, obwohl er deutlich leiser redete. »Ja. Ist mir bekannt. Ist mir egal! Wir sehen uns in meinem Büro. Um 17 Uhr!« Die Tür ging auf, und Lucy stand perplex vor ihrem Chef. Vor Schreck blieb ihr die Spucke weg. Sie deutete stumm mit ausgestrecktem Arm auf ihren Arbeitsplatz, wobei sie sich um einen unschuldigen Gesichtsausdruck bemühte. Klopfer fixierte sie.

»Wollen Sie mir sagen, dass Sie von da drüben nichts verstehen können?«

»Ääh …«

»Hätte ich lauter werden sollen?«, fragte er und verschränkte seine Arme.

»Äähm …«

»Was ist los, Frau Lucy, so kenn ich Sie ja gar nicht? Sind Sie etwa verlegen? Oder sind Sie nur um Worte verlegen? Werden Sie mir ja nicht rot.« Lucy schluckte.

»Kaffee, Cognac, Tabletten vielleicht …?«, sprudelte es aus ihr hervor.

»Was soll das nun schon wieder?«

»Ich dachte — nur so — zur Beruhigung vielleicht …«

»Kaffee können Sie meinetwegen haben. Cognac und Tabletten verbiete ich Ihnen!«

»Ähm, nein — ich dachte eigentlich — für Sie …«

»Für mich? Mache ich den Eindruck als sei ich unruhig?« Lucy hatte sich, ihren umfangreichen Körper vorsichtig rückwärts schiebend, ihrem Schreibtisch genähert. Klopfer hatte sie langsam vor sich hergetrieben.

»Äh, nein, also — Sie sind eigentlich wie immer«, sagte sie und plumpste auf ihren Stuhl. Klopfer verzog keine Miene. Er baute sich vor ihrem Schreibtisch auf und ließ sie nicht aus den Augen. Lucy wusste nicht, wo sie hingucken sollte. Schließlich wurde es ihr zu dumm. Sie reckte trotzig ihr Dreifachkinn und stieß einen tiefen Seufzer aus.

»Also gut, Herr Klopfer, ich habe gelauscht, wobei das bei Ihrer Lautstärke der falsche Ausdruck ist. Soll nicht wieder vorkommen.«

»Glaub’ ich nicht.«

»Aber …«

»Schokolade!«, sagte er wild entschlossen.

»Was meinen Sie?«

»Strafe muss sein. Schokolade! Sie wissen schon, was ich meine. Los, her damit!«, sagte er mit einer fordernden Handbewegung.

»Meine Schokolade?«, stammelte sie.

»Muss ich sie mir selbst holen?«, polterte Klopfer.

»Aber …«, sie zog beide Schubladen auf, »nix mehr da, Herr Klopfer.« Er überzeugte sich mit eigenen Augen.

»Es ist unglaublich.«

»Es tut mir sehr leid, Herr Klopfer. Ich hatte noch keine Zeit, welche zu kaufen.«

»Keine Zeit also, aha. Wohl zu viel Arbeit, was?« Sie schüttelte verwirrt den Kopf, dann nickte sie heftig.

»Hören Sie gut zu, Frau Lucy. Wenn ich das nächste Mal meine Bürotür aufmache, kleben Sie besser nicht mit Ihrem Ohr dran.« Wieder nickte sie eifrig. »Und wenn ich das nächste Mal Ihre Schublade aufmache, liegt gefälligst eine Schokolade drin. Beste Qualität. War ich laut genug?«

»Ich — ich konnte nichts überhören.«

»Gut, wie sieht Ihr Arbeitsplan für den Rest des Tages aus?« Sie zuckte zögerlich mit den Schultern und deutete vage auf ihren Schreibtisch. Klopfer starrte darauf.

»So muss es damals in Pompeji ausgesehen haben. Nach dem Vulkanausbruch.« Er nahm sie ins Visier. »Wenn es Ihre geistige Verfassung wieder erlaubt, dann suchen Sie mir alles an Informationen zusammen, was Sie über Herrn Kronberger und seine Zwillingssöhne herausfinden können. Sagen wir – bis halb vier. Und passen Sie auf Ihren Nacken auf.«

»Warum?«, hauchte Lucy, die so viel Zuwendung seitens Ihres Chefs nicht gewohnt war.

»Sie nicken zu heftig.«

6. Kapitel

»Mein Büro kennen Sie ja bereits«, sagte Fischli. Zweifel hatte soeben sein Telefonat mit Klopfer beendet, wovon der Bademeister einiges mitbekommen hatte.

»Ihr Chef kann ganz schön laut werden, wie?«

»Er gibt sich Mühe, verstanden zu werden.« Zweifel unterdrückte einen weiteren Kommentar und warf einen Blick auf den Tisch mit den herausgefischten Schätzen. »Wie viele Mitarbeiter gibt es hier eigentlich?«, fragte er. Fischli kratzte sich am Kopf. Bevor er antworten konnte, mischte sich der junge Bademeister ein, der gerade zur Tür hereinkam und die Frage mitbekommen hatte.

»In der Therme selbst sind es ungefähr neunzig. Dazu kommen aber noch die Leute, die sich um die Pflanzen kümmern, das Reinigungsteam, das Sicherheitsteam, die beiden Restaurants samt Poolbar mit ihren Mitarbeitern und natürlich die Angestellten in der Ladenstraße. Das werden insgesamt nochmal um die einhundertzwanzig sein. Aber davon arbeiten die meisten in Teilzeit.« Zweifel lächelte ihn an.

»Sagen Sie mir doch Ihren Namen.«

»Ich heiße Adnan.«

»Und weiter?« Der junge Mann schüttelte den Kopf.

»Seinen Nachnamen kennen nur wenige. Nur die, die ihn wissen müssen«, erklärte Fischli. »Er kommt aus Afghanistan und …«

»Das stimmt nicht«, unterbrach ihn Adnan ruhig aber bestimmt. »Meine Eltern sind von dort. Ich bin hier geboren. Ich bin Deutscher.« Zweifel räusperte sich.

»Fürs erste genügt mir Ihr Vorname, Adnan. Sie haben die Leiche zuerst entdeckt, stimmt das?« Adnan nickte. »Wie kam es dazu?« Adnan tauschte mit Fischli einen Blick.

»Ich war bei der Felsendusche. Da gibt es ein kleines Tauchbecken, in das eine Treppe hineinführt. Ein alter Mann war dort ausgerutscht und hatte sich eine Rippe geprellt oder vielleicht sogar gebrochen. Ich habe geholfen, ihn zu versorgen und zu unserem Notfallraum zu bringen und wollte gerade eine kleine Pause machen, als dieser Schrei zu hören war.« Er machte eine Pause. Zweifel wechselte einen Blick mit Fischli.

»Solche Schreie gibt es immer wieder mal. Wenn wir da jedes Mal springen würden …« Adnan hob entschuldigend die Schultern. »Aber dann gab es einen zweiten Schrei. Und er hörte sich — diese Schreie waren —«, er schaute zu Fischli hinüber, »einfach schrecklich.«

»Von wo kamen sie?«

»Aus dem hinteren Saunabereich, von da wo die Kelosauna und die Stollensauna sind.«

»Können Sie sich erinnern, ob zu dem Zeitpunkt Musik lief?«

»Na ja, das übliche Gedudel eben«, mischte sich Fischli ein.

»Kam das aus allen Lautsprechern?«, fragte Zweifel. Fischli schaute Adnan fragend an.

»Beschwören kann ich’s nicht«, sagte er dann. »Die Technik hat heute verrückt gespielt, das haben Sie ja mitgekriegt.«

»Darauf komm ich später noch zurück. Können Sie sich an den blinden Badegast erinnern?«

»Sie meinen Elvis?«, sagte Fischli, »natürlich, den kennen viele hier.«

»Denken Sie, er hat ein gutes Gehör?«

»Logisch«, sagte Fischli und grinste. »Der kann Ihnen sagen, ob das Bier alkoholfrei ist oder nicht. Ohne einen Schluck zu trinken. Das erkennt der am Geräusch beim Einschenken.« Zweifel nickte langsam.

»Was würden Sie sagen, wenn er behauptet, dass die Schreie nicht echt waren, sondern vom Band kamen?« Adnan stutzte.

»Wie jetzt? Aus den Lautsprechern?«, fragte Fischli ungläubig.

»Lassen Sie sich das in Ruhe durch den Kopf gehen«, sagte Zweifel.

»Was meinst du, Adnan?«, fragte Fischli. Der wiegte seinen Kopf hin und her.

»Möglich wär’ das schon. Aber warum sollte jemand das machen? Und wie?«

»Ausschließen kann man gar nix«, sagte Fischli.

»Wer könnte Näheres dazu wissen?«

»Da müssen Sie die Kollegin fragen, die die Durchsagen macht. Die ist auch für die Musik zuständig.«

»Und wer ist das?«

»Keine Ahnung. Die wechseln sich immer ab. Die von heute war jedenfalls nicht die hellste Kerze am Baum. Machte unmögliche Durchsagen, die nur für Verwirrung sorgten. Die hat die Leute erst richtig verrückt gemacht.«

»Haben Sie mit ihr gesprochen?«

»Natürlich, ich hab sie angerufen. ›Lass Musik laufen!‹, sag ich zu ihr. Das hätte die Leute vielleicht etwas beruhigt. Aber nix! Die hat das nicht hingekriegt.«

»Sie sagten vorhin die Stimme kam Ihnen unbekannt vor. Was ist mit Ihnen, Adnan?«

»Darüber hab ich noch nicht nachgedacht. Ich hab nur eine Durchsage mitbekommen. Aber jetzt wo Sie es sagen – die hab ich hier noch nie gehört«, sagte er und kratzte sich verwundert am Kopf.

»Sie hörten also den zweiten Schrei, und dann taten Sie was?«

»Na ja, ich ging so schnell wie möglich in den hinteren Saunabereich. Um die Uhrzeit ist da normalerweise wenig los.«

»Vielleicht gehen wir da jetzt mal hin«, sagte Zweifel. Sie verließen Fischlis Büro.

»Kamen Ihnen Badegäste entgegen?«, fragte Zweifel während sie das Restaurant durchquerten.

»Nur ein paar. Die hatten die Schreie natürlich auch gehört.«

»Ist Ihnen jemand aufgefallen?«

»Nein, nur etwas später kam so ein dicker Berliner vorbei, der nach seinem Neffen gesucht hat.«

»Stimmt«, bestätigte Fischli.

»Und?«

»Da war kein Neffe.« Sie waren vor der Stollensauna angelangt. »Ich hab den Berliner dann weggelotst. Der war mir zu neugierig«, sagte Fischli. »Ich bin mit ihm nach vorn gegangen und hab Adnan gebeten, alle Gäste aus dem hinteren Bereich zu verscheuchen und aufzupassen, dass sich niemand hierher verirrt. Zu dem Zeitpunkt konnte ich ja nicht sicher sein, ob dieser unangenehme Geruch nicht doch ein Anzeichen für eine Gesundheitsgefährdung war.«

 

»In der Kräutersauna, dahinten um die Ecke, waren zwei ältere Frauen in ihr Gespräch vertieft«, sagte Adnan. »Die hab ich dann gebeten, nach vorne zum Vitalbecken zu gehen. Der unangenehme Geruch hatte sich schon überall verbreitet.«

»Deswegen hatten wahrscheinlich alle anderen Badegäste bereits die Flucht ergriffen«, ergänzte Fischli. Zweifel betrat die Stollensauna und schaute sich um.

»Ich bin dann kurz hiergeblieben und hab mich vergewissert, dass sich wirklich kein Mensch mehr in diesem Bereich aufhält. Die Nebelduschen, die Kelosauna, die Stollensauna hier – es war niemand mehr zu sehen. Also bin ich wieder nach vorn, wo der Teufel los war. Ich wollte sehen, wo ich helfen konnte«, fuhr Adnan fort. »Ich hab so etwas noch nie erlebt. So eine Situation mit den vielen Menschen, so total außer Kontrolle. Irgendwann kam dann dieser Bagger und hat die Scheibe zertrümmert.«

»Wann haben Sie den Toten entdeckt?«, fragte Zweifel. Adnan fuhr mit der Hand über die Stirn.

»Als ich den Bagger gesehen hab, bin ich nochmal zurück und hab alle Räume durchsucht, auch die Toiletten.« Er machte eine Pause. »Zuletzt hab ich einen Blick hier reingeworfen. Da lag plötzlich ein Mann auf der obersten Etage auf dem Rücken, das Gesicht zur Wand gedreht. Ich war total überrascht, weil ich ihn ja vorher nicht bemerkt hatte. Ich hab ihn angesprochen, aber er reagierte nicht.« Erneut machte Adnan eine Pause. »Ich dachte erst, er sei eingeschlafen und hab es nochmal lauter probiert. Dann stand ich da und hab ihn einfach nur angesehen. Und dann wusste ich, was los war. Sein Brustkorb bewegte sich nicht. Er hat sich einfach nicht bewegt.«

»Haben Sie ihn angerührt?«, wollte Zweifel wissen. Adnan schaute ihn aus seinen tiefschwarzen Augen an und nickte.

»Ich musste ja sichergehen. Deswegen hab ich seinen Kopf zu mir herumgedreht. Sein Gesicht war so weiß wie …«, er suchte nach einem treffenden Vergleich, »… wie ein Eisberg. Ich hab dann sofort die Sauna verlassen und die Tür geschlossen und Herrn Fischli gerufen.«

»Und Sie haben zu diesem Zeitpunkt niemanden in der Nähe bemerkt?« Er schüttelte den Kopf.

»Kurz darauf kam Herr Fischli.«

»Ich konnte das gar nicht glauben, Herr Kommissar. Das ist mein erster Toter und ich mach die Arbeit schon verdammt lange.«

»Warum haben Sie dann nicht die Polizei gerufen?«, fragte Zweifel. Der alte Bademeister warf beide Hände in die Luft.

»Das fragen Sie am besten Herrn Schilling. Ich habs seiner Sekretärin oder Assistentin oder was auch immer die Dame tut, mehrfach laut und deutlich gesagt. Mit dem Ding hier komm ich ja nicht weit.« Er zeigte sein schnurloses Telefon.

»Sie haben vorhin die Durchsagen erwähnt …«

»Genau! Schon die erste war ’ne Meisterleistung. Anstatt klar und deutlich zu sagen, welchen Weg die Leute nehmen sollen, faselt sie irgendwas von Sicherheitsgründen und bricht einfach mitten im Satz ab.« Zweifel drehte sich zu Adnan um.

»Haben Sie die Durchsagen hier hinten auch gehört?«

»Nein, ich sagte ja, ich hab nur eine mitbekommen, als ich vorn war, aus den Lautsprechern hier kam nichts mehr.« Er überlegte einen Augenblick und versuchte dann ein Lächeln. »Vielleicht haben ihnen die Schreie den Rest gegeben.«

»Auf jeden Fall hat die zweite Durchsage mir den Rest gegeben«, sagte Fischli. Zweifel warf einen kurzen Blick in die Duschen und inspizierte dann die anderen Saunaräume. Fischli folgte ihm auf Schritt und Tritt. »›Die Glastüren sind verriegelt. Bitte nutzen Sie …‹, und dann bricht sie einfach wieder ab. Als dann auch noch die Menschenmenge von vorne, also vom Eingangsbereich her, sich wie eine Lawine in den Raum wälzte, war das Chaos perfekt.« Zweifel war vor einem Schild stehengeblieben, das neben dem Eingang eines der Saunaräume hing.

»Kelosauna. Was bedeutet eigentlich der Begriff Kelo?«

»Das ist das extrem harte und seltene Holz hier drin«, sagte Adnan. »Kommt von Polarkiefern und ist ein paar hundert Jahre alt.« Der Kommissar verarbeitete diese Information. Dann wandte er sich an Fischli.

»Sie waren also vorher zum Vitalbecken zurückgegangen. Mit dem dicken Badegast im Schlepptau?«

»Genau. Der stellte viele Fragen. Ich versuchte, ihn kurz abzufertigen. Er hatte irgendwie mitbekommen, dass die Haustechnik komplett ausgefallen war, dass die Türen sich nicht entriegeln ließen, die Belüftung streikte und dann kam auch noch das Gas. Ich hab mit einer Kassiererin telefoniert. Ich wusste ja nicht, was da draußen los war. Wollte, dass sie die Leute aufhält. ›Hier gab’s einen Anschlag mit Giftgas‹, keuchte sie ins Telefon. Das war der Moment, wo ich nicht mehr wusste, wie …« Er stockte und wischte sich über das Gesicht.

»Stell ich mir äußerst gefährlich vor«, sagte Zweifel. »So eine Art Panik mit hunderten von Menschen.«

»Es war eine richtige, ausgewachsene Panik, Herr Kommissar, die Leute spielten komplett verrückt.« Zweifel schaute ihn nachdenklich an.

»Aber Sie behielten die Nerven. Und Sie kamen auf die Idee mit dem Bagger. Sehr ungewöhnlich.« Fischli schaute in eine andere Richtung.

»Auf die Idee wär’ ich vermutlich nicht gekommen«, sagte Adnan.

»Das kannst du nicht wissen«, erwiderte Fischli leise, »niemand kann wissen, was er in einer solchen Situation tut.«

»Da haben Sie Recht«, sagte Zweifel. »Was mich zu meiner nächsten Frage bringt. Gibt es denn in Ihrem Haus so etwas wie einen Notfallplan?«

»Wir haben ein Sicherheitskonzept. Das ist aber hauptsächlich vorbeugend ausgerichtet«, sagte Adnan. »Was ist zu tun, damit keine Katastrophen passieren. Wie verhält man sich, damit niemand zu Schaden kommt. Vor allem die Therme nicht«, fügte er leise hinzu.

»Da steht aber nicht drin, wie man reagieren soll, wenn eine Menschenmenge außer Rand und Band geraten ist. Sowas kann man nicht üben«, ergänzte Fischli. Sie standen nun schon eine ganze Weile im hinteren Saunabereich. Die Temperatur war hier auch außerhalb der Saunaräume schweißtreibend hoch. Dennoch spürte Zweifel plötzlich einen kühlen Luftzug.

»Gibt es hier irgendwo eine Tür, die nach draußen führt?«

»Äh ja, hier um die Ecke, kurz vor der Kräutersauna, gibt es eine Glastür«, sagte Fischli, »die ist aber immer abgeschlossen.«

»Die wird auch nie benutzt«, bestätigte Adnan.

»Ist ja auch ziemlich versteckt«, sagte Fischli. »Wollen Sie mal sehen?« Er ging ein paar Schritte voraus, bog um zwei Ecken und blieb nach wenigen Metern verblüfft stehen.

»Steht offen, nicht wahr?«, sagte Zweifel schon bevor er ihn erreicht hatte. Fischli wollte bereits durch die leicht angelehnte Tür nach draußen.

»Warten Sie«, sagte Zweifel, »ich möchte da erst mal die Spurensicherung ranlassen.« Sie standen zu dritt nebeneinander vor der schmalen Glastür und blickten über den kleinen, künstlichen See hinüber zu den Saunablockhäusern, die menschenleer dalagen.

»Denken Sie, das hat was zu bedeuten?«, fragte Fischli. Zweifel drehte sich wortlos um und ging ein paar Schritte zurück, während er sein Handy herausholte und den Auftrag gab, das Außengelände abzusuchen.

»Schauen Sie sich auch die künstliche Insel im See an und vor allem den Zaun auf der westlichen Seite.« Dann drehte er sich zu den beiden Männern um. »Der Mann, den Sie gefunden haben, ist ertrunken.« Sie starrten ihn an. »Er hat das nicht freiwillig getan. Die Frage ist: Wie kam er in die Sauna, und zwar unbemerkt? Wir haben nämlich bisher noch niemanden gefunden, dem etwas aufgefallen wäre.«

»Dann muss er ja getragen worden sein«, murmelte Adnan leise und schlug die Hand vor den Mund.

»Das muss doch jemand beobachtet haben«, sagte Fischli.

»Etwas beobachten und etwas merkwürdig finden, das gibt es nicht oft bei Erwachsenen, weil die meisten das meiste schon mal irgendwo gesehen haben«, sagte Zweifel. Er wog sein Handy in der Hand. »Nur bei Kindern ist das etwas anderes.«