Mord aus kühlem Grund

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Als er aufwachte, hatte er einen scheußlichen Geschmack im Mund. Sonst hatte er nichts im Mund. Der Knebel war verschwunden. Er befühlte erleichtert mit der Zunge seine Zähne und seinen Gaumen. Er musste husten. Er wälzte sich aus der Seitenlage auf den Bauch und versuchte, irgendwie auf die Knie zu kommen, was ihm mit einiger Mühe trotz seiner gefesselten Arme und Beine schließlich gelang. Er hatte keine Ahnung, wie lange er bewusstlos gewesen war. In den fensterlosen Keller drang kein Licht von außen. Nur unter der Tür war ein schmaler Lichtstreifen zu sehen. Künstliches Licht. Es roch nach Essig und nach Äpfeln. Er hörte Männerstimmen ruhig miteinander reden. Und er hörte Wasser tropfen. Schemenhaft konnte er am Kopfende der Matratze einen großen Behälter erkennen. Eine Wanne oder ein Bottich vielleicht, dachte er mit leichtem Unbehagen. Dann wurde ihm bewusst, dass die Männerstimmen verstummt waren. Er kniete auf der alten, feuchten Matratze und starrte auf den schmalen Lichtstreifen unter der Tür, der sich verdunkelte. Die Tür wurde geöffnet. Das künstliche Licht blendete ihn.

»Florian Kronberger«, sagte eine unnatürlich hohe Stimme, »wie geht es Ihnen?« Moritz Kronberger lief ein Frösteln über den Rücken. Die Person, die ihn mit dem falschen Namen angeredet hatte, war als dunkle Silhouette im Türrahmen stehengeblieben. Er räusperte sich und bekam einen Hustenanfall. Ein zweiter Schatten machte sich bemerkbar.

»Ich bin nicht …«, begann Moritz und rang nach Atem. Er kniete gefesselt auf der Matratze und versuchte, das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Der zweite Schatten löste sich von der Silhouette und kam wortlos mit schweren Schritten näher. Er blieb neben dem Holzbottich stehen, den Moritz nun gut erkennen konnte. Das Wasser stand schwarz bis kurz unter dem Rand. Moritz versuchte vergeblich, die Gesichter der beiden zu erkennen.

»Florian Kronberger«, wiederholte die hohe Stimme, »wie geht es Ihnen?« Er schüttelte vorsichtig seinen Kopf. Ein heftiger Schmerz durchfuhr seinen Nacken.

»Ich bin nicht …«, begann er erneut und holte tief Atem. Auf einen solchen Irrtum war er nicht vorbereitet. »Moritz Kronberger, verdammt!«, stieß er hervor.

»Das wissen wir«, sagte die hohe Stimme.

»Nein, nein, Sie wissen gar nichts!« Er zwang sich gewaltsam zur Ruhe, was für einen vierzehnjährigen Jungen nicht einfach war. »Ich bin nicht Florian, ich bin Moritz Kronberger. Sie haben den Falschen«, brachte er, mühsam beherrscht, hervor. Der Wasserbottich mit seinem schwarz schimmernden Inhalt nahm seine Aufmerksamkeit gefangen. Eine unausgesprochene Drohung ging von ihm aus. »Moritz Kronberger bin ich«, wiederholte er störrisch und mit rauer Stimme. Seine Kehle war ausgedörrt, er spürte brennenden Durst. Die beiden Schatten schwiegen. »Kann ich etwas zu trinken haben?«, fragte er stockend. »Sie haben gefragt, wie es mir geht. Ich habe Durst. Ich will was trinken!«

»Wir haben gefragt, wie es Florian Kronberger geht«, antwortete stoisch die hohe Stimme.

»Ich bin nicht Florian!«, schrie er in plötzlicher Wut. »Florian ist mein Bruder, ich bin Moritz, verdammt!«

»Ihr Bruder ist bereits tot«, sagte die hohe Stimme unbeteiligt.« Moritz traute seinen Ohren nicht. Sein Herz machte einen Satz. Fassungslos schüttelte er seinen Kopf. Seine Lippen formten lautlos die Worte. Er starrte die Schatten an, die unbeweglich warteten. Das Kratzen in seinem wunden Hals ließ ihn nur flüstern.

»Was? Was haben Sie da gesagt? Sie haben meinen Bruder …?«

»Er ist ertrunken«, sagte die hohe Stimme, »wie es geplant war.«

7. Kapitel

Elias war verschwunden. Gleich nach dem Abendessen hatte er sich in seinem Zimmer verkrümelt und war seither nicht mehr aufgetaucht. Das war ungewöhnlich. Gewöhnlich war er vom Fernseher nicht wegzukriegen.

»Tagsüber liest er, abends glotzt er«, hatte Fred vor einer Woche zu ihr gesagt, »dit kann nüscht jesund sin.«

»Seit wann machst du dir denn Jedanken um die Jesundheit«, hatte Johanna gefragt.

»Komm, sei friedlich«, war seine Antwort gewesen. »Die Reise wird ihn bestimmt uff andere Jedanken bringen.« Und jetzt saß Johanna in der Küche und fragte sich, was für Gedanken das wohl sein mochten. Fred schnarchte leise vor dem Fernseher, als sie an ihm vorbeischlich und an Elias’ Zimmertür klopfte. Als keine Antwort kam, öffnete sie die Tür. Er saß auf der Fensterbank und hielt ein Comicheft vors Gesicht.

»Allet klar bei dir?«, fragte sie ihn. Das Comicheft wackelte, als er nickte. Johanna zögerte und blickte sich in seinem Zimmer um, das wie immer penibel aufgeräumt war. Es bot ihr keinerlei Vorwand, länger als unbedingt nötig zu bleiben. Gerade als sie sich umdrehen wollte, fand sie doch einen.

»Wat liest’n?«, fragte sie möglichst beiläufig.

»Kennst du doch nicht«, kam es undeutlich zurück.

»Kenn ick wohl. Lucky Luke hab ick selbst schon jelesen in deim Alter. Der Cowboy, der schneller schießt als sein Schatten, stimmtet?« Wieder wackelte das Comicheft. »Wusste jarnich, dass man dit jetzt vakehrt herum liest«, sagte sie scheinbar verwundert. Elias zog die Nase hoch. Sie konnte sich gut vorstellen, dass er fieberhaft nach einer Ausrede suchte. Doch es kam keine. »Na denn …«, sagte sie und wollte sich umdrehen, doch da rutschte ein Foto zwischen den Seiten heraus und fiel mit einem harten Geräusch auf den Boden. Elias hielt das Heft weiterhin vor sein Gesicht, als sie sich bückte und das Foto aufhob. Ein ernstblickender blonder Mann war darauf zu sehen zusammen mit einer rothaarigen, sommersprossigen, jungen Frau, die ein scheues Lächeln wagte. Es war vor sechs Jahren aufgenommen worden, kurz vor dem Unfall. Es zeigte seine Eltern, Johannas jüngere Schwester und deren Mann. Sie kannte das Foto gut. Sie hatte es selbst gemacht. Elias versuchte, sich mit einer Hand die Nase zu putzen, während Lucky Luke ihm Deckung gab. Johanna wartete in Ruhe ab. Bei Elias hatte sie gelernt, abzuwarten. Sie legte das Foto auf seinen Schreibtisch, ganz an den Rand. Schließlich entschloss er sich, seine Deckung zu verlassen. Lucky Luke würde schon allein mit den Dalton-Brüdern fertigwerden. Er klappte das Heft zu, sprang vom Fensterbrett und warf es betont lässig auf sein Bett.

»Wenn du Lucky Luke kennst, dann weißt du bestimmt auch die Vornamen der Daltons.« Er wollte sie auf die Probe stellen. Wollte wissen, ob sie die Wahrheit gesagt hatte.

»Joe, Jack, William und Averell«, kam es wie aus der Pistole geschossen oder, in diesem Fall, wie aus dem Revolver. Damit war das Eis gebrochen. Elias warf einen flüchtigen Blick auf das Foto und stellte sich dann ans Fenster, mit dem Rücken zu seiner Tante. »Nur den Namen von dem komischen Hund konnte ick mir nie merken«, gab sie zu. Elias war schon weiter. Sie sah seinem Rücken an, wie er mit etwas zu kämpfen hatte. Sie wartete ab. Die Stille ist schwer zu ertragen für Jemanden, der etwas auf dem Herzen hat, das wusste sie aus eigener Erfahrung.

»Ich hab was gesehen«, sagte er schließlich leise. Johanna sagte nichts. Für einen Moment war es ganz still in seinem Zimmer. Nur Freds Schnarchen drang schwach von draußen durch die geschlossene Tür. »Heut Morgen hab ich was gesehen«, sagte er und drehte sich zu seiner Tante um.

»Inner Therme?«, fragte sie. Er nickte zögerlich.

»Draußen im Garten.«

»Du meenst, uff dem Jelände?« Wieder nickte er. Dann setzte er sich auf seinen Stuhl am Schreibtisch und drehte sich zu ihr herum. Er zog die Beine hoch, setzte die Fersen auf die Stuhlkante und legte seine Arme verschränkt auf seine Knie.

»Ich hab einen gesehen, der wie Papa aussah«, sagte er stockend. »Mit denselben Haaren. Und mit dem Gesicht.« Johanna schluckte ihre Verblüffung hinunter.

»Du meenst, der sah deinem Papa ähnlich?« Er schüttelte den Kopf.

»Das Gesicht war nur genauso weiß wie das von Papa«, sagte er und schaute sie mit fragenden Augen an. Seine Eltern waren damals im Winter nachts auf der Heimfahrt von einem Besuch bei Freunden mit dem Auto verunglückt. Es war eine einsame, verschneite Landstraße gewesen. Man fand sie erst Stunden später, weil die Schülerin, die in jener Nacht auf Elias aufpassen sollte, eingeschlafen war. Dadurch wurde die Polizei viel zu spät alarmiert. Sein Vater war hinter dem Steuer eingeklemmt gewesen und konnte sich nicht selbst befreien. Seine Verletzungen hätte er überleben können. Doch er konnte sich kaum bewegen. Es herrschten arktische Temperaturen. So erfror er. Elias’ Mutter war unter Schock aus dem umgestürzten Auto ausgestiegen und ohne Mantel losgelaufen. Sie musste die Orientierung verloren haben. Man fand sie fast einen Kilometer von der Unglücksstelle entfernt am Ufer eines zugefrorenen Sees. Elias hatte seine toten Eltern nie zu sehen bekommen, darauf hatte Johanna geachtet. Aber sie hatte ihm erklärt, was passiert war. Den Rest besorgte seine Phantasie. In seinen Träumen hatten seine Eltern schneeweiße Gesichter. Johanna setzte sich vorsichtig auf sein Bett, neben das Comicheft. Sie war jetzt auf gleicher Augenhöhe mit ihrem Neffen.

»Erzähl mir allet«, sagte sie leise, »wenn du kannst.« Er nickte. Dann legte er sein Kinn auf seine Unterarme und überlegte, wo er anfangen sollte.

»Ich hab mich vor Onkel Fred versteckt, weißt du. Hinter den Büschen ganz am Rand, wo der Rasen so nach oben ging. Und hinter der Balkontür hab ich mich auch versteckt und gehört, was du von dem toten Mann erzählt hast.« Er wischte sich mit den Fingern die Nase ab. »Da sind zwei Männer gewesen. Die hat keiner gesehen, außer mir, glaub’ ich. Die hatten so orange Westen an. Die sind aber mit einem ganz normalen Auto gekommen, das kam mir komisch vor.«

»Zwei Sanitäter?«, fragte Johanna.

 

»Ja, aber es war kein Krankenwagen. Die haben hinten die Tür aufgemacht und einen Mann rausgeholt. Auf so einer Trage lag der, irgendwie bewusstlos. Der hat sich nicht bewegt unter seiner Decke. Ich konnte sie aber nicht die ganze Zeit sehen. Die haben sich ganz schön beeilt und den Mann reingetragen. Irgendwie sind sie durch den Zaun gekommen, der da überall ist. Und dann waren sie dicht am Haus. In so ’ner Ecke in der Wand, wo man nicht hingucken kann. Die hatten ganz rote Köpfe und der Mann …«, er stockte und wischte sich nochmal die Nase mit den Fingern. Johanna reichte ihm ein Taschentuch. »Der Mann war so komisch weiß im Gesicht. So wie Papa.« Wieder schaute er sie fragend an. Sie sagte nichts, weil sie nach Worten suchte. Elias schnäuzte sich. »Der war bestimmt der Tote«, sagte er leise. Johanna versuchte sich zu konzentrieren.

»Du hast also zwee Männer, die wie Sanitäter aussahen, beobachtet, wie sie eenen bewusstlosen Mann von ihrem Auto inne Therme jetragen haben. Und die sind vorher auch noch irjendwie durch den hohen Zaun und über den Erdwall jekommen. Weeßt du, wie schwierig dit is?«

»Die waren groß und stark.«

»Aber Elias …«

»Ich habs gesehen. Du glaubst mir nicht. Ich habs aber gesehen.« Elias ballte die Faust mit dem Taschentuch darin. Johanna atmete tief durch.

»Wat hast du noch jesehen«, fragte sie, immer noch skeptisch. Er antwortete nicht. »Elias komm, jetzt raus mit die Sprache. Hast du noch wat mitjekricht?« Er nahm das Taschentuch in die andere Hand und starrte eine Weile auf das Comicheft, das neben ihr auf dem Bett lag.

»Da war so’n komischer Schrei und dann noch einer. Aber das war bevor die den Mann über die Wiese getragen haben. Bestimmt zehn Minuten früher. Jedenfalls war’n die dann plötzlich verschwunden«, sagte er trotzig. »Kurz darauf kamen die zwei Männer wieder raus. Die Trage hatten sie dabei und auch die Decke, aber der Mann war weg. Sie haben sich nach allen Seiten umgeschaut und sind dann ganz schnell zu ihrem Auto gerannt und weggefahren.« Er hatte ohne Punkt und Komma geredet. Jetzt schaute er seine Tante an. »Glaubst du’s mir?« Sie nickte langsam.

»Die Schreie hab ick auch jehört«, sagte sie und erwiderte seinen Blick. »Ich jloobet dir, Elias. Schätze, wir müssen et deim Onkel vaklickern.« Die Zimmertür ging auf.

»Wat müsst ihr mir vaklickern?«, fragte Fred und gähnte.

»Erst beantwortest du uns eene Frage«, sagte sie und zwinkerte Elias zu, um die Situation zu entspannen. Fred kratzte sich am Kopf und blickte sich gleichgültig im Zimmer um.

»Na denn lass ma hörn.«

»Wie heeßt der komische Hund in den Lucky Luke Comics?«

»Idefix«, kam es wie aus der Pistole geschossen. Elias schaute seine Tante an. Sie schaute Elias an. Und dann mussten beide prusten vor Lachen.

Melzick zwang sich zu einem Lächeln, was nicht ganz einfach war, bei den Gedanken, die ihr durch den Kopf schossen, während sie Herrn Schilling und seiner Sekretärin gegenübersaß. Vielleicht lag es an der Art und Weise wie diese Frau gelangweilt ein dünnes Salamiwürstchen aus der Aluminiumverpackung pellte und anfing, daran herumzunagen.

»Ich hoffe sehr, dass wir nicht allzu lange brauchen werden«, ließ Schilling in seinem Chefton verlauten.

»Liegt an Ihnen«, gab Melzick zurück. Schilling nahm seine randlose Brille ab und fixierte Melzick von oben herab. Melzick schaute seine lustlose Sekretärin an.

»Name?« Zwei blaue Augen hefteten sich auf Melzicks Frisur.

»Doris Deh.«

»Ach was. Wie die Schauspielerin?«

»Welche Schauspielerin?« fragte Doris Deh und kaute ohne Enthusiasmus auf ihrer Salami herum wie auf einem Kaugummi. Schilling setzte seine Brille wieder auf und verschränkte ungeduldig die Arme. Seine Finger trommelten auf seine Ellbogen. Melzick schaute ihm betont gelassen in die Augen. Immerhin hatte sie Urlaub. Ein Vergnügen am Tag wollte sie sich gönnen.

»Ungeduld ist selber schuld«, sagte meine Oma immer.« Doris Deh verschluckte sich. Melzick wartete ihren Hustenanfall in Ruhe ab und holte in der Zwischenzeit ihr Notizbuch samt Bleistift hervor.

»Könnten Sie Ihren Namen dann bitte buchstabieren?«

John Fischli hatte Zweifel nichts erspart. Es gab keine Tür, die er nicht für ihn geöffnet hatte. Überall waren die Mitarbeiter bemüht gewesen, sich nichts anmerken zu lassen. Der komplette Saunabereich war zwar bis auf Weiteres gesperrt. Das Sport- und Familienbad, sowie die große, von riesigen Palmen umsäumte Schwimmhalle, Thermenparadies genannt, waren jedoch wieder geöffnet. Ein dünnes Absperrband verhinderte, dass Gäste im Freien in die Nähe der künstlichen Insel und der Saunablockhütten kamen. Ein eilig gemaltes Schild »Baustelle – wir arbeiten für Sie« tat ein Übriges. Von den Vormittagsgästen war keiner mehr da. Der Geruch, den die Nebelgranaten verursacht hatten, hatte sich verflüchtigt. Die Lüftungsanlage funktionierte wieder einwandfrei. Die Leute, die jetzt die Liegen rundum allmählich bevölkerten, hatten von den Geschehnissen des Vormittags keine Ahnung. Die riesige Scheibe, die Bekanntschaft mit einer resoluten Baggerschaufel gemacht hatte und seitdem ein hässlich gezacktes, riesiges Loch aufwies, blieb für die neuen Badegäste unsichtbar, da der Bereich gesperrt war. Eine Handvoll Bauarbeiter war damit beschäftigt, die Trümmer aufzuräumen. Thermenchef Schilling wollte unbedingt vor dem Eintreffen Kronbergers alle Spuren beseitigt haben. Die Einkaufsgalerie, die mit einem halben Dutzend Läden bestückt war, machte den gleichen Eindruck wie an jedem normalen Arbeitstag. Wer genau hinsah, spürte jedoch, dass hier etwas passiert war. Zweifel bedankte sich bei Fischli, der sich erleichtert von ihm verabschiedete, als eine drängende Frauenstimme ertönte.

»Herr Fischli, ach Herr Fischli! Hätten Sie kurz Zeit? Es wäre dringend. Dauert auch nicht lang, nur ein paar Minütchen. Ich mach Ihnen auch einen kleinen Schwarzen. Da sagen Sie nicht nein, nicht wahr? Natürlich nicht. Soviel Zeit muss sein. Aber Herr Fischli! Nun bleiben Sie doch endlich mal stehen!« Fischli blieb schließlich widerwillig stehen und warf die Hände theatralisch in die Luft. Er drehte sich um.

»Frau Sontheimer. Ich hab keine Zeit. Ich muss …«

»Ach was. Tun Sie doch nicht so beschäftigt. Sie haben doch den Adnan.« Zweifel war ein paar Meter entfernt stehengeblieben und tat so, als interessiere er sich für die Preisliste des Coiffeurs, der sein Geschäft neben dem Laden von Frau Sontheimer hatte, die Bademoden und Dessous verkaufte. Fischli warf Zweifel einen verstohlenen Blick zu.

»Wer ist denn jetzt der Tote? Mir können Sie es doch sagen. Von mir erfährt keiner was.« Sie hatte Fischli vertraulich am Arm gefasst und versuchte, ihn in ihren Laden zu lotsen.

»Von mir auch nicht. Hat mir die Polizei verboten. Fragen Sie doch den Kommissar, der steht schon hinter Ihnen.« Sie riss die Augen auf und schwenkte hastig herum. Zweifel, so plötzlich ins Spiel gebracht, reagierte sofort.

»Gegen einen Espresso hätte ich nichts einzuwenden«, sagte er mit einem gewinnenden Lächeln. Ilse Sontheimer, reich verwitwet, die ihren Laden hauptsächlich als Gerüchteküche und geschickt getarntes Kommunikationszentrum für das gehobene weibliche Publikum nutzte, verschlug es für wenige Sekunden die Sprache. Zweifel nutzte diesen taktischen Vorteil aus. »Vielleicht wäre es auch wieder mal Zeit für eine neue Badehose«, sagte er und ging schnurstracks an ihr vorbei in den menschenleeren Laden. Ein Blick auf die Preisschilder genügte ihm. Sie hatten eine eher abschreckende Wirkung auf die 0815-Kundschaft. Ilse Sontheimer blieb nichts anderes übrig, als ihm zu folgen. Er drehte sich zu ihr um. »Schön, Frau Sontheimer, so war doch Ihr Name, mein Name ist Zweifel, Kriminalkommissar. Dann wollen wir uns doch mal ungestört unterhalten.« Sie fand ihre Sprache wieder.

»Mit einem kleinen Schwarzen habe ich einen Mokka gemeint. Espresso gibt es bei mir nicht. Das klingt so nach ›hoppla hopp‹ und ›wird’s bald‹ und ›jetzt aber fix‹. Mokka ist was für Genießer, die sich Zeit lassen können, finden Sie nicht?« Zweifel schenkte ihr ein Lächeln.

»Dann lassen Sie in diesem Fall bitte den Zucker weg.« Sie nickte gleichfalls lächelnd und verschwand in einem Nebenraum, der als Kaffeeküche diente und kaum größer als eine Umkleidekabine war. Zweifel setzte sich in einen Korbstuhl, der dort platziert war, wo üblicherweise der männliche Teil der Kundschaft am besten aufgehoben war: In der Nähe der Kasse und darüber hinaus nicht im Weg. Er hörte sie emsig herumhantieren. Den Geräuschen nach zu urteilen verfügte »Sonny’s Dessous« über eine hochmoderne Mokkamaschine. Überhaupt waren nicht nur die Preise, sondern die gesamte Ladeneinrichtung hochklassig, wie Zweifel unschwer erkennen konnte.

»Sie mögen Schweizer Pralinen, hoffe ich.« Ilse Sontheimer war mit einem Tablett erschienen, auf dem sich zwei goldgeränderte Designertassen neben einer gläsernen Etagere mit einer erklecklichen Anzahl verführerischer Schokojuwelen befanden.

»Ich höre mich nicht Nein sagen«, sagte Zweifel.

»Dann greifen Sie ungeniert zu«, sagte sie und stellte eine Tasse in seine Reichweite.

»Gibt es denn viele Besucher, die 350 Euro für einen Badeanzug ausgeben?«, fragte er und angelte nach einer mit zwei Pistazien verzierten, hellbraunen Schönheit. Sie nippte an ihrer Tasse.

»Mehr als Sie sich vermutlich vorstellen können. Vor allem Ausländer, Schweizer, um genau zu sein, gönnen sich gern mal was ganz Besonderes.« Sie stellte ihre Tasse ab. »Meine Ware ist ja nicht einfach nur teuer. Sie bekommen eben auch etwas ganz Außergewöhnliches für Ihr Geld«, fügte sie hinzu. Zweifel nickte und wechselte das Thema.

»Wie haben Sie den Vormittag erlebt?«

»Tja, Herr Kommissar, was soll ich sagen? Das war doch mal eine nette Abwechslung.«

»Wie bitte?« Fast hätte er sich an seinem Mokka verschluckt.

»Ich weiß natürlich, dass niemand ernsthaft zu Schaden gekommen ist, sonst würde ich nicht so daherreden. Das heißt …« Sie schaute ihn mit großen Augen an. »Jemand ist doch zu Schaden gekommen. Darf man wirklich nicht erfahren, um wen es sich bei dem Toten im Whirlpool handelt?« Er setzte seine Tasse vorsichtig wieder ab und inspizierte die Etagere. Sollte sie ruhig noch ein bisschen zappeln.

»Was ist denn das hier für eine Köstlichkeit?« Er hatte sich eine schwarze Praline geangelt, die zur Hälfte in einer goldenen Papiermanschette steckte.

»Neunzigprozentige Surabaya-Schokolade mit einer Füllung aus weißem Rum und Kokosnussmus.«

»Da muss ich ja beinahe überlegen, ob das als Beamtenbestechung angesehen werden kann.« Sie antwortete ihm mit einem breiten Lächeln und sagte nichts. Er ließ sich ihre Praline und ihr Schweigen auf der Zunge zergehen.

»Was haben Sie denn von dem Rauchgas mitbekommen?«

»Von dem Rauch selbst so gut wie nichts. Ich hatte gerade meinen Laden dichtgemacht und wollte für eine Viertelstunde an die frische Luft. Ich rauche ganz gern mal diese kleinen schwarzen Zigarren, Sie wissen schon. Auf dem Weg nach draußen hab ich einen kleinen Schwatz mit Roberto gehalten. Der betreibt das Bistro gleich nebenan. ›Du rauchst zu viel‹, sagte er gerade zu mir, und da ging es los. Unter den Ruhebänken, die da in der Mitte der Galerie stehen, kam dichter Qualm hervor. Es dauerte nicht lang und die ganze Ladenstraße war eingenebelt und zwar genau zu dem Zeitpunkt, als eine große Besuchergruppe an den Kassen stand. Das müssen wohl zwei oder drei Reisebusse voll gewesen sein. Und als der Rauch kam und den Weg nach draußen versperrte, sind die alle Richtung Saunabereich geflüchtet. Ich hab mich dann gleich mit Roberto in dessen Küche verzogen, die hat einen Seitenausgang ins Freie.«

»Und die Panik drinnen im Saunabereich?«

»Davon hab ich nichts mitbekommen.«

»Wann waren Sie heute Morgen da?«

»Kurz nach neun, wie immer. Ich öffne um halb zehn.«

»Irgendjemand muss diese Rauchgasgranaten unter den Sitzen versteckt haben. Können Sie sich an irgendwas erinnern, was uns weiterhelfen könnte?«, fragte er und leerte seine Tasse.

»Da muss ich nachdenken, das heißt, warten Sie, da muss ich gar nicht groß überlegen. Möchten Sie noch einen Mokka?« Sie wartete seine Antwort gar nicht erst ab und verschwand mit beiden Tassen. »Gestern Abend, kurz bevor ich ging, hab ich was beobachtet«, rief sie ihm aus ihrer Miniküche zu, während es dort zischte und brodelte. Zweifel stand auf und ging ihr nach. »Wenn ich jetzt so drüber nachdenke, bin ich sicher …«, rief sie im Bemühen, ihre Maschine zu übertönen, laut über ihre Schulter. »Huch, hab Sie gar nicht bemerkt. Also …«, sagte sie im normalen Tonfall und füllte beide Tassen aus einer kleinen Glaskaraffe, »ich bin sicher, dass ich den gesehen hab, der die Gasbomben versteckt hat. Bitte sehr, Herr Kommissar, sehr heiß.« Zweifel nahm ihr seine Tasse ab und zog die Augenbrauen in die Höhe. »Ich hörte es klimpern.« Er schaute sie an und schlürfte dabei vorsichtig an der dunkelbraunen Flüssigkeit. »Als ich nachschauen wollte, wer da mit Geld um sich warf, sah ich einen Mann auf allen Vieren bei den vorderen Sitzbänken. Er fluchte, aber es hörte sich Französisch an. Was sagen die bei solchen Gelegenheiten? ›Mörde‹ oder so ähnlich. Er hatte einen weinroten Overall an mit irgendeiner Firmenaufschrift. Sah wie ein Techniker aus. Es könnte aber auch ein Handwerker gewesen sein. Jedenfalls sammelte er all seine Münzen, die da auf dem Boden verstreut waren, ein und das waren nicht wenige. Er war also eine ganze Weile beschäftigt.« Sie nahm einen nachdenklichen Schluck aus ihrer Mokkatasse. Zweifel schwieg und wartete. »Ich hab ihn dann nicht weiter beobachtet, sondern meine Kasse abgeschlossen. Dann nahm ich meine Tasche und drehte gerade den Schlüssel in meiner Tür um, als es ein zweites Mal klimperte. Wie schusslig kann ein Mann denn sein, frag ich Sie.«

 

»Und dieses Mal lag er bei den hinteren Bänken auf dem Boden?« Sie nickte. »Hat ihm denn niemand geholfen?« Sie schüttelte den Kopf. »Da waren nur ein paar Senioren in der Nähe. Die haben das zwar mitbekommen, aber die gehen natürlich nicht für ein paar Münzen in die Knie. Diese Gasdinger hat der doch sicher in seinem Overall verstecken können, was meinen Sie?«

»Möglich. Es wäre gut, wenn Sie mir nachher zeigen, wo genau er gelegen hat.«

»Wissen Sie, wer es war?« Zweifel war kurzzeitig verwirrt. Er leerte seine Tasse und schaute Ilse Sontheimer nachdenklich an, dann verstand er ihre Frage. Er rieb mit der linken Hand über seinen kahlen Schädel.

»Whirlpool ist schon mal ganz falsch«, sagte er.

»Das dachte ich mir schon«, erwiderte sie, während sie auf einem Ananasmarzipantrüffel kaute.

»Sagt Ihnen der Name Kronberger etwas?« Sie hustete und verschluckte sich. Zweifel traf ein vorwurfsvoller Blick.

»Ihretwegen hab ich jetzt meine Lieblingspraline verschluckt«, schnaufte sie.

»Was für eine Verschwendung«, sagte Zweifel ungerührt.

»Etwa der Alte?«

»Nein, einer seiner Söhne. Er lag ertrunken in der Stollensauna.«

»Ertrunken? Unfassbar. Welcher?«

»Das wissen wir noch nicht. Wir müssen warten, bis der Vater ihn identifiziert hat.«

»Wirklich ertrunken? Aber das ist doch absurd, Herr Kommissar.«

»Nicht, wenn er seinen letzten Atemzug an einem anderen Ort gemacht hat.«

»Woanders? Aber wie ist er denn dann in die Sauna gekommen?«

»Jedenfalls nicht zu Fuß. Jemand muss ihm dabei behilflich gewesen sein.«

»Behilflich? Wie meinen Sie das? Ach so.« Sie legte einen Zeigefinger an ihre Nase und nahm Zweifel die leere Tasse aus der Hand. »Man hat ihn hineingetragen. Aber wie soll das funktioniert haben bei dem ganzen Betrieb hier? Das muss doch jemand beobachtet haben.«

»Nicht, wenn gerade alle mit ihrer Panik beschäftigt waren.«

»Ach, Sie glauben, das hängt mit diesem angeblichen Giftgasangriff zusammen?«

»Ich glaube nur, dass Ihr Mokka der Beste ist, den ich in diesem Jahr getrunken habe und dass Ihre Pralinen die Besten sind, die mir in diesem Jahrzehnt begegnet sind«, sagte Zweifel.

»Schön, dann fehlt jetzt nur noch die Badehose Ihres Lebens, Herr Kommissar, was meinen Sie?«

»Vielleicht ein andermal, Frau Sontheimer.«

»Dann vielleicht etwas Leichtes für Ihre Frau?« Er stockte einen Moment auf seinem Weg zur Tür, dann schüttelte er den Kopf, ohne sie anzusehen. Ihr sechster Sinn sagte ihr, dass dies ein endgültiges Nein war.