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Die Mühle zu Husterloh

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Als die brennende Mühle endlich in sich zusammenfiel, und mächtige Funkengarben in den Nachthimmel hinaufstiegen, erscholl aus hundert Kehlen ein wundervolles »Ah«, wie beim Abbrennen eines Feuerwerkes. Bald gab es einige, die allerlei, was vorher gerettet worden war, wieder in den brennenden Haufen hinein warfen, andere fingen an, zu singen, oder fassten sich gegenseitig und tanzten wie losgelassene Teufel auf dem Teppich des Rasens. Die Helle des anbrechenden Morgens benahm dem Brande den Charakter des schauerlich Großartigen und gab den Leuten die Besinnung wieder. Manche schämten sich, andere hatten sich müde gesehen, fingen an sich zu langweilen, und der und jener drückte sich stillschweigend nach Hause.

Während die Lohe prasselnd nach den Sternen schlug, während die Menge erst bebte, dann jauchzte, war einer, wie weiland Elias, aus brennendem Wagen zum Himmel gefahren und vor einen Richter getreten, dem kein Gesetzesparagraph wie eine Zwangsjacke um die Schultern hängt. Sebastian Stallmann war nicht mehr. Sein Leben war verronnen im Dienste des Hauses Höhrle, sein Tod war das letzte, womit er glaubte, seinem Herrn dienen zu können. Ein Glück für ihn, dass der sein Richter ward, der Herz und Nieren kennt.

31. Kapitel

Das Frührot, das die Gaffer nach Hause scheuchte, beleuchtete auf der Wiese vorm Hause des Mordche Rimbach, da, wo einst die Kuh graste, eine Gruppe von Menschen, die aussahen, als ob sie der Bauch eines Auswandererschiffes an einen fernen, fremden Strand geworfen hätte.

Da saß Vater Höhrle in einem Rocke, der die Wasserfarben aller seiner niedergebrannten Zimmer an Schultern und Ellenbogen widerspiegelte, gebrochen und in sich gekehrt auf einer alten Kiste.

Da saß Suse zwischen Ballen von Bettfedern, Haufen von Blechgeschirr und Möbeltrümmern und weinte unaufhörlich in ein mehr als allzuviel durchnässtes Taschentuch.

Da stand Hans, groß, vornehm und schlank, eine fremdartige Erscheinung, die nur der Zufall für einen Augenblick in diese Gesellschaft und in diese Umgebung gebracht haben konnte. Seine Füße machten in dem Durcheinander auf dem Rasen etwas Ordnung, und zuweilen bückte er sich auch, um irgendeinen Gegenstand aufzuheben oder in den Kleiderballen zu verbergen.

Obwohl das, was er schaffte, nur wenig war, so gab es ihm doch den Anschein, als ob er es sei, der für die anderen das Denken besorge. Man konnte ihn für einen Auswanderungskommissär nehmen. Seine Blicke zogen einen Kreis um das, was die hilflose Dreieinigkeit ihr Eigen nannte, und irrten zuweilen die Straße entlang, als erwarteten sie von dort einen Planwagen, der all die Trümmerhaufen nach einem Boardinghaus bringen sollte. Es war ein trübseliges Bild, diese drei.

Verstoßene Menschen, die für ihren Hausrat kein anderes Dach mehr über sich haben als den Himmel, verlieren auch das Recht, auf der Erde herumzulaufen. Sie stehen jedem im Wege, und jeder Grashalm, den sie niedertreten, beschuldigt sie einer Rechtsverletzung.

Wer wird nun kommen, um den Heimatlosen einen Unterschlupf anzubieten?

Onkel Schütteldich war dagewesen, die Hände in den Taschen. Dreimal war er um das Gerümpel herumgegangen, und mehrere dutzend Male hatte er gesagt: »Eija, jeija, jei, eija, jeija, jei,« dann war er gegangen.

Franz Kunkel kam, schüttelte den Kopf und sagte: »Ja, wenn ich nicht mein Korn im zweiten Stockwerk liegen hätte, aber so, aber so,« und auch er ging.

»So lang’s keinen Regen gibt,« sagte Röse Ricke, »könnt ihr’s prinzipiell hier aushalten, aber dann, aber dann, ja dann wird die Sache nicht brenzlich, aber feucht,« und auch sie entfernte sich.

Nach all den guten Christen erschien Mordche Rimbach, der Jüd, auf dem Plan. »Durch meine Hände geht das Brandkassengeld,« sagte er zu sich selber, »also kann ich sein barmherzig, wie Boas barmherzig war, der Noemi in sein Haus nahm und Ruth, die Ährenleserin.«

Der Vorschlag, den der Jude machte, klang den Obdachlosen wie eine Botschaft vom Himmel. Susens Taschentuch verschwand, und von dem Augenblick an, wo sie wieder Verwendung hatte für ihre kräftigen Arme, lichtete sich der Ausblick in die Zukunft, und der Zahn des Kummers nagte weniger giftig. Am Abend schon saßen Vater, Bruder und Schwester bei leidlich geordnetem Hausrat um einen reinlichen Tisch, und wären die Saiten ihres Seelenlebens durch den Schrecken der vergangenen Nacht nicht zu sehr verstimmt gewesen, so hätte vielleicht ein mäßiges Behagen nebst gutem Appetit in ihrer Gesellschaft Platz genommen.

Hans ebenso wie die anderen verließ in den nächsten Tagen nur wenig die Bodenkammer des Judenhauses. Das geheimnisvolle Verschwinden des Sebastian Stallmann und das Verhältnis des Glücksritters zu Agnes beschäftigten natürlich alle Welt und brachten auch ihn in die Mäuler seiner Mitbürger; für einen vornehm denkenden Menschen, wie er war, ein wenig appetitliches Logis. Er zog es vor, seinen Brüdern im Herrn aus dem Wege zu gehn. Wenn aber der Abend kam, stahl er sich von seinen Büchern weg, um Holofernes abzuholen aus dem Hause des Onkels Schütteldich.

Dem Vater und der Schwester war der Vierfüßler ein lieber Freund. Er konnte so treuherzig den großen Kopf auf die Knie seiner Gastgeber legen, und seine klugen Augen konnten so gutmütig sagen: »Nur Geduld, es muss auch wieder anders kommen.«

32. Kapitel

Die Ferien waren zu Ende. Hans war mit kleinen Mitteln und einer großen Menge von guten Vorsätzen am Bahnhof der Universitätsstadt angekommen und zwar mit Hilfe eines Billettes vierter Klasse. Um die letztere Tatsache zu verschleiern, drückte er sich zunächst in eine Ecke des Coupés und machte dann, als der Perron von Menschen wimmelte, einige rasche Schritte nach vorne, vor einen Wagen zweiter Klasse. Holofernes, in derart weniger an Rücksichten gebunden als sein Herr, sprang mit einem Satze von der Plattform herunter mitten in einen Schwarm von Studenten hinein. Die Freude des Wiedersehens war von Seiten der Bundesbrüder eine laute und ehrliche, von Seiten des Restaurationspersonals eine ehrfurchtsvolle, fast demütige, und mit den ersten Atemzügen, die Hans in der Luft der akademischen Freiheit tat, regte sich in ihm schon wieder ein stolzeres Selbstbewusstsein; als eine kleine Begebenheit ihn schonungslos wieder von dem erträumten Postamente herunterriss.

Während nämlich Holofernes beim Hauptportale die Schenkel der Droschkengäule beschnupperte und zur Überzeugung kam, dass der Haferpreis ein noch ziemlich unerschwinglicher sein müsse, kam auf seinen Herrn ein Wagenwärter zugegangen, der so schmutzbefleckt aussah, als ob man ihn in Hammerfest über den Fischmarkt geschleift hätte. Auch die Zudringlichkeit und sein kordiales Wesen hatten mit seiner Livree einige Verwandtschaft. Er hielt dem jungen Höhrle die Rechte entgegen und sagte, dass er Grüße bestellen solle von des Herrn Studenten Schwager, der sei ein guter Spezel von ihm und Kollege.

Es war nicht zu überhören gewesen; einige von Hansens Bundesbrüdern hatten über diese Erkennungsszene gelacht. Er selber wurde nachdenklich und suchte den Arm des ernsteren Ignaz Kaufmann.

Viel Erdenschimmer, der ihm einst und jetzt wieder so glänzend ins Auge gestochen, war verblasst, manche Blüte, die eine goldene Frucht versprach, war niedergeweht. Das Unglück hatte ihn mit rauer Faust aus Träumen aufgerüttelt, die er nur ungern umtauschte gegen Wirklichkeit. Von seinem Lebensbaume hatte der Sturm die goldenen Blätter herniedergeschüttelt, nun stand er kahl und öde da, wie die entlaubten Linden, die mit ihren Gerten peitschend aus den Straßenlaternen magere und unmelodische Töne lockten. Hans war gealtert, nicht in seinem Äußeren, wohl aber in seinem Inneren, er fühlte, dass für ihn die Tage der Sorglosigkeit vorüber seien, und kein Gotteswunder half ihm über den Gedanken hinweg, dass der Inhalt seines Geldbeutels ohne sein Zutun nicht wachsen werde.

Es war nichts Leichtes, an der abgegriffenen Messingklinke der Exkneipe vorüberzukommen, auf die der Schwarm zustürmte, aber Hans brachte es fertig. Er schob den Ignaz Kaufmann die ausgetretene Treppe mit der Bierkaskade hinauf und bog um die Ecke, der Pumpe entgegen, aus der die Mägde mit den drallen Speckarmen ihr Wasser holten zum Abendtee, den alle Welt zu trinken pflegte.

Ausgehungerter, wie sonst wohl, angelten heute nach wochenlangem Entbehren die Blicke unter den Spitzhäubchen hervor nach dem strammen Studenten. Aber Hans dachte: »Später vielleicht,« und grüßte nur obenhin die faltenreichen Stumpfröcke, die dastanden, wie aufgespannte Regenschirme. Der Gedanke übrigens, dass sie ihn gründlich musterten, straffte die Muskeln seines Rückgrates doch ein wenig, und so fuhr die Haustür heftiger ins Schloss, als er beabsichtigte, und er trat auf die erste Treppenstufe so gewichtig, dass das ganze windschiefe Gebäude zu zittern begann.

Die Folge war, dass zu seiner Begrüßung zunächst eine Anzahl Äpfel die Stiege heruntergerollt kamen, und dass dann vier Kattunärmel sich um ihn ringelten wie um Laokoon die Schlangen. Freilich, die klassische Ruhe des Vorbildes erreichte unsere Gruppe nicht. Ein nervenzerreißendes Zischen vielmehr ließ die Worte unterscheiden: »Ei du Strohsack, unser Herr ist da, und sein Zimmer nicht in Ordnung. Seit Philipp der Großmütige die Universität gegründet hat, ist so was noch nicht vorgekommen. Warum muss uns aber auch der Himmel einen Äpfelsegen schicken, dass kein Mensch weiß, wo hinaus damit. Verzeihen Sie, Herr Doktor, verzeihen Sie und nehmen Sie einstweilen vorlieb mit dem, was unser eigenes Zimmer an Bequemlichkeit Ihnen bieten kann.« Ob Hans geneigt war, zu verzeihen oder nicht, können wir der Menschheit nicht verraten. Vielleicht ist er mit sich selber darüber nicht ins Klare gekommen, denn schneller, als er dachte, hatten ihn die vier Arme von Mutter und Tochter ein paar Treppen herunter ins Souterrain geschoben, wo Hans beim Versuche sich gerade zu stellen, seinen Hut in eine Verfassung brachte, dass er ihn ohne spezielle polizeiliche Erlaubnis überhaupt nicht mehr auf der Straße zeigen konnte.

 

Nach dieser üblen Erfahrung in der Senkrechten, brachte Hans sich nach Möglichkeit in die Horizontale und hinter den Tisch aufs Ledersofa. Die Decke betrachtete er mit berechtigtem Misstrauen, umso mehr, da von ihr allerlei Töne auf ihn herunterfielen. Bald war es, als ob eine Lederhose mit einem Reibeisen gebürstet würde; bald, als ob einer mit einer nassen Katze Fangball spielte. Dazwischenherein hörte man das Kratzen von Reisigbesen und das Klopfen der Fäuste auf Federbetten. Hans gewöhnte sich rasch an diese Symphonie, so zwar, dass sie ihm die kinematographischen Bilder kaum störte, die rasch an seinem Geiste vorüberzogen.

Da war die Wirtin »zum Weißen Elefanten«, die es verstand, den Gästen den Star zu stechen. Da war der verschwiegene Nachtwächter von Husterloh mit seinen grausamen Enthüllungen. Da war der Brand in jener Schreckensnacht; die Ungewissheit, wie Sebastian Stallmann geendet haben könne. Da war die einsame Kammer unter dem Dache des Mordche Rimbach mit dem Vater darinnen und der guten, so unermüdlichen Schwester. Da war zu guter letzt noch der verdienstvolle Wagenschmierer, seines Schwagers Kollege.

Alle diese Personen und Dinge zusammengedrängt in die niedere Stube der alten Witwe lagen auf unserem Freunde wie ein Alpdrücken. Ein langer Seufzer löste sich aus der Brust und schien zu fragen, ob es je einen Menschen gegeben habe, der gleich unglücklich gewesen wie er?

Um diese Frage der Lösung näher zu bringen, musterte Hans die schwarzen Silhouetten all der Studenten, die von der Lampe notdürftig erhellt in Goldleisten an den verräucherten vier Wänden hingen. Die meisten dieser Herren sahen so aus, als ob sie sich mit Freitischen und Stundengeben ernährt hätten, und brachten unseren Hans den Gedanken bei: »Ich muss auf die eigenen Füße kommen.« Im nächsten Moment schon tat er den ersten Schritt sich selbständig zu machen. Er nahm sein Notizbuch heraus und vertraute ihm mit Bleistift geschrieben folgenden literarischen Entwurf an:

»Ein Student in älteren Semestern wäre geneigt, Klavierstunden zu geben. Näheres durch die Expedition des Täglichen Anzeigers.«

Nach dieser Tat fühlte sich Hans wesentlich erleichtert. Er sehnte den Augenblick herbei, wo die da oben fertig wären. Noch heute wollte er die Reinschrift seines Entwurfes in ein Kuvert stecken und dem Briefkasten anvertrauen. Doch das Scheuern nahm kein Ende. Also mutvoll hinein in das Zwiebel- und Äpfelchaos.

Bis zu seinem Stehpult leisteten Hansens Zehenspitzen die Kunststücke einer Primaballerina. Doch nun war er da, goss etwas abgestandenes Wasser aus dem vorigen Semester auf die eingetrocknete Tinte, schrieb, schloss ein Kuvert, setzte eine Adresse darauf und eilte, einen Briefkasten aufzusuchen.

Als er wiederkam, war ihm die Zeremonie des Gutenachtsagens erspart. Die ehrenwerten Damen aus dem Erdgeschoss waren verschwunden, und an ihrer Statt leuchtete eine Unschlittkerze mit roten Strahlenkränzen durchs Zimmer und auch in den Alkoven hinein, wo Hans sein Bett herausgeputzt fand, als ob es ein Hochzeitspaar aufnehmen sollte. Er schlief denn nun auch recht gut, erwachte aber gleichwohl am nächsten Morgen mit einigen Beklemmungen.

Das Schriftstück, das er der Post anvertraut hatte, war gewiss nach Form und Inhalt eines der bestgemeinten Dinge der Welt, aber welche Macht bürgt dafür, dass dem Guten der Erfolg gesichert sei? Wie groß ungefähr war die Wahrscheinlichkeit, dass das Elaborat vor die richtigen Augen komme? Diese Zweifel und eine infame Angst vor dem Druckfehlerteufel quälten den jungen Autor. Er aß mit wenig Appetit, saß zerstreut im Kolleg, und harrte dem aufgehenden Vollmond entgegen, der das Abendblatt bringen musste. Richtig, da stand seine Annonce ohne jeden Druckfehler, ohne ein vergessenes Interpunktionszeichen.

Eine Sorge war von Hansens Seele genommen. Aber wie wird es nun mit dem Erfolg sein? Kommt herbei ihr Anwälte, die ihr aus euerm Nebenzimmer kommend euer »Von der Reise zurückgekehrt« in die Zeitung setzt. Ihr noch gut erhaltenen Junggesellen, die ihr in einer reichen Familie eine Stelle sucht als Schwiegersohn. Ihr angejahrten Jungfrauen, die ihr im Tageblatt nach einem aufziehbaren Mops angelt, der kein Futter braucht, kommt ihr alle, die ihr an der Zeitung Allmacht glaubt, kommt und sagt, ob Hans Höhrle deshalb ein Narr ist, weil ihn seine erregten Nerven wie ein Zirkuspferd in der Manege drei-, viermal in den Anlagen um die Stadt treiben!

Sah er nicht am Abendhimmel sich selber wie ein Sternbild an der Seite irgendeiner blondgelockten Range in karierter Bluse auf der Klavierbank vor der »Schönen, blauen Donau«, vor den »Klosterglocken«, dem »Meeresleuchten« oder »Alpenglühen« sitzen? Und wenn dann der Samstagabend kam und ihm in rosa Seidenpapier gewickelt sein Honorar auf die Klaviatur schneite, dann sollte in ihm der Stolz des Self-made man aufflammen, und er wollte unter den Plafond der Kneipe treten mit dem gehobenen Selbstgefühl eines Lohgerbers, der von der Frankfurter Messe kommt.

Der nächste Morgen änderte an den äußeren Verhältnissen unseres Freundes zunächst noch nichts. Der Pumpenschwengel seufzte und schrie in seinem Scharnier wie alle Tage, die Hühner gackerten vor dem Hause, und die Mägde, die zum Wasserholen kamen, lachten und schäkerten mit den Bäckerjungen, die hausgemachte Melodien pfiffen, anzügliche Witze rissen und ihre Ware in Säckchen an die Haustüren hingen. Der Mittag verging und selbst der Abend, ohne dass auch nur der Schimmer eines Briefträgers in Hansens Wohnung gekommen wäre. Der folgende Tag glich seinem Vorgänger genau an Bedeutungslosigkeit und hoffnungsloser Erwartung. Der dritte Tag brachte über Hans eine trübselige Melancholie ohne einen Ton von Davids oder sonst eines Sängers beruhigender Harfe. Der vierte Tag endlich brachte auf dem Kaffeebrett, begraben unter zwei Semmeln, das langersehnte Rosakuvert aus feinstem Büttenpapier, das die zarten Linien einer weiblichen Handschrift trug. Hans ignorierte den Duft der Kaffeekanne und öffnete mit dem Messer vorsichtig den lang erwarteten Brief. Es war nur eine Karte mit Goldrand, und einem kleinen Wappen in der Ecke, aber ein süßer, fast betäubender Geruch ging von ihr aus und zauberte vor das Auge des jungen Studenten das Bild einer herrlichen Menschenblume. Der Inhalt der Karte war kurz, fast trivial:

»Auf Ihr Gesuch in Nr. 32 des Täglichen Anzeigers hin, werden Sie gebeten, sich in den nächsten Tagen in der Ostanlage Nr. 30 zwischen 11 und 12 des Vormittags vorstellen zu wollen.

Hochachtungsvollst:

Helene de Lerée.«

Möglicherweise war es Schüchternheit, was Hans Höhrle veranlasste, nicht am gleichen Tage noch seinen Schnurrbart in die Höhe zu quälen, in seinen Bratenrock zu schlüpfen und den erbetenen Besuch bei der duftenden Helene de Lerée abzustatten. Dies alles aber und noch einiges mehr besorgte er am folgenden Tage, und zehn Minuten nach elf Uhr besah er und die Herbstsonne sich am Hause Nr. 30 in den Ostanlagen in einem glänzenden Messingschild mit der Aufschrift: Hermann de Lerée, Kommerzienrat. Ein behandschuhter Finger griff in einen blinkenden Ring. Ein Hebel von innen hob das Schloss. Hans trat ein und ließ die Sonne draußen, die ihm warm auf den Schultern gelegen hatte. Ein Schatten umfing ihn, und eine fröstelnde Kühle, die, von weißen Marmorplatten geboren, an marmorverkleideten Wänden hinlief und ohne sich zu mildern mit ihm eine Marmortreppe emporstieg nach dem zweiten Stockwerk.

Hans sah kein lebendes Wesen, auch hörte er keinen Laut, und nur der Widerhall seiner Tritte fiel aus der Höhe des Stiegenhauses auf ihn nieder. Vor ihm war ein Glasverschlag, dessen Scheiben von innen durch ein feines, cremefarbenes Spitzengewebe geblendet wurden. Dahinter verborgen weilte Helene de Lerée, für ihn das Geheimnis des stillen Hauses. Ein weißer Elfenbeinknopf deutete an, dass niemand überraschend eintreten dürfe, um die Freude nicht zu stören oder auch das Leid, die hier lachten oder auch weinten.

Hans Höhrle fühlte sich bedrückt in dem mürrischen Schweigen dieser hohen Räume. Wie eine Erlösung hätte er das Bellen eines Hundes, oder das Rauschen eines Wasserhahnes empfunden, und doch erschrak er wieder, als er das Anschlagen des kleinen Läutewerkes hörte, das den Druck seines Fingers dem Dornröslein da drinnen meldete. Eine Tür an einer Stelle, wo Hans sie nicht vermutete, öffnete sich geräuschlos, und es erschien der Kopf einer Zofe mit einer Spitzenkrause über das leicht ergrauende Haar des Schädels hin. Das Gesicht unter der Spitze sah aus wie das Rätsel, das einst die Sphinx dem nach Theben reisenden Ödipus aufgegeben hatte und schien eine Tragödie weissagen zu wollen.

»Wen darf ich melden?« fragte das Rätsel.

Hans gab seine Karte ab und konnte eintreten. Jetzt dämpfte ein Teppich das Geräusch der Tritte, und die Stille wurde noch unheimlicher. Wenn nur wenigstens eine Tür geknarrt hätte! Aber auch das geschah nicht, und Hans befand sich allein auf den Pfoten eines Eisbären in einem kleinen Salon. Die Fenster waren dicht verhängt, und doch verstand es die Herbstsonne durch einen kleinen Spalt hereinzugucken und ein gelbes Prisma aufzustellen, in dem Myriaden kleiner Körper tanzten, ein Mikrokosmos, um dessen Einzelexistenzen sich niemand kümmerte, sowenig wie um den jungen Mann, den der Zufall in ihre Nähe gebracht hatte.

Solches und ähnliches dachte Hans, als eine tadellos elegante Frauengestalt vor ihn trat und den rechten Fuß mit dem feinen Saffianpantoffel auf den Kopf des Eisbären stellte. Hans fühlte die Glut zweier Augen auf sich gerichtet, die bis in seine Seele niederbrannten, zu fordern schienen und doch auch wieder so rührend zu sagen wussten:

»Ich habe gelernt, zu entbehren.«

Vielleicht hat Hans ähnlich ausgesehen wie sein vis-à-vis, denn eine weiche Frauenhand streckte sich ihm mitleidsvoll entgegen, und eine einschmeichelnde sympathische Stimme sagte fast flehend:

»Sie sind Herr Höhrle und geneigt, ein wenig Leben in unser stilles Haus zu bringen.«

»Sofern ich Ihren Ansprüchen zu genügen vermag.«

»Kommen Sie und nehmen Sie neben mir Platz, so werde ich prüfen, was Sie meiner Stieftochter zu bieten vermögen,« und sie führte Hans an seinem kleinen Finger zu einem Flügel, der in der Ecke stand, rückte die Klavierbank über den Hinterpfoten des Eisbären zurecht und setzte sich.

Der Probekandidat Höhrle war selbstverständlich über eine Eisbärklaue gestolpert, als er sich von dem Worte: »Stieftochter« ausgehend, den schönen Gedanken klar machte, dass dies blühende Weib unmöglich Mutter sein könne.

Während er sich neben ihr einzurichten suchte, tänzelten ihre schlanken Finger bereits präludierend über die Tasten hin. Ein dutzendmal hatte es den Anschein, als ob sie einem angefangenen Motiv treu bleiben wolle, aber sie sprang ab und irrte unstet in einem wahren Labyrinth von Melodien herum. Es war offenbar, sie suchte irgendetwas, was der Stimmung gerecht werden konnte, von der sie augenblicklich beherrscht wurde. Ihre Stirne senkte sich nachdenklich. Ein Kranz feiner Härchen fiel nach und umrahmte ihren Kopf mit einem berückenden Flammenschein, während immer noch ihre Finger trunken über die Klaviatur taumelten. Plötzlich gab es ihr einen Ruck, ihr Nacken streckte sich, und ihre Rechte suchte zwischen den Heften, die unter der Decke des Flügels lagen. Ein erregtes Rauschen umgewandter Blätter, und auf dem Notenpulte stand die Partitur aus Carmen. Ihr Körper bog ein wenig nach rechts aus, ihr Blick sprang befehlend vom Antlitz des Jünglings auf den leeren Platz neben ihr. Hans avancierte kühn, und zwei Körper durchschauerte eine belebende Wärme.

Nun kam Takt und Führung in das Ganze. Ihre Seele war mit all ihren Leidenschaften in die Fingerspitzen geglitten und tobte sich aus, wie sich ein Gewitter austobt in der schwülen Atmosphäre einer Julinacht. Es war die drohende Sprache hinabgewürgten Unrechts, die das Schicksal herausfordernd auf den Saiten donnerte. Was ihr niemals aus der Feder geflossen wäre, was nie das Gehege ihrer Zähne verlassen hätte, das schrie das betrogene Weib in Tönen hinaus, und wie der geschwollene Wildbach an das Wehr schlägt, so schlugen unheilverkündend die Klagetöne ihres Herzens an Hansens Ohr:

»Die Liebe vom Zigeunerstamme frägt nicht nach Recht, Gesetz und Macht.«

Die Wucht des Vortrages riss Hans mit sich fort, auch ihm saß ein verhaltenes Weh im Busen. Seine Gedanken weilten einen Augenblick bei Agnes, und sein Zorn stürmte hinter dem Grimme seiner Nachbarin her. Der Flügel bebte unter der Wolke von Ingrimm, die über ihm grollte und krachte.

 

So ging es eine Weile fort, bis die gepaarte Leidenschaft zweier Seelen im eigenen Feuer sich verzehrt hatte. Müde sanken der bleichen Dame die Hände in den Schoß. Ihr Haupt fiel mit einem Seufzer leise auf die Seite, und der Strahlenkranz ihres Haares streifte begehrlich die Wange ihres Nachbars. Auch Hans erschlaffte. Er war so müde, als ob er von der Mensur käme, und es herrschte wieder das morose Schweigen, das diesem Hause sein Stigma gab. Im gelben Prisma der Herbstsonne tanzten die kleinen gespenstischen Wesen, aber leidenschaftslos oder vielleicht doch nicht? Wissen wir, ob sie nicht der Hunger und die Liebe peitscht, wie uns. Gleich dumm sind wir im Großen wie im Kleinen. Hans ahnte sogar nicht einmal, wie schwer es seiner Nachbarin wurde, ihre Leidenschaft am Stangenzaun der Sitte zu halten.

»Nun sollen Sie ihre Schülerin kennen lernen,« mit diesem Worte hatte sie für heute über sich gesiegt und lief aus dem Zimmer. Bald kam sie wieder und führte ein aufgeschossenes Mädchen mit sich, schon nicht mehr Kind und doch noch nicht Jungfrau. Ihre Schultern waren knochig, die Füße groß, die Bewegungen eckig. Sie machte vor Hans ein einstudiertes Kompliment und schien froh zu sein, dass sie es fertig gebracht hatte, ohne sich die Beine zu verrenken. Hans sah das Kind mit Erstaunen neben der Mutter. Niemals noch hatte er das Ideal der Schönheit so unvermittelt neben geradezu bedauernswerter Hässlichkeit gesehen. – Dem jungen Mediziner wäre die ganze Vererbungstheorie aus dem Leime gegangen, wenn ihm nicht das Wort Stieftochter einen erläuternden Aufschluss gegeben hätte. Eben ging zudem die Tür nach dem Korridor auf, und sofort wusste Hans, nach welchem Modell hier gearbeitet worden war. Ein großer Mann, dessen Stirne erobernd über den Schädel bis in den Nacken vorgedrungen war, stand vor ihm, hustete sich ins Blaurote hinein, zog den Kopf in Kragenweite Nr. 52 und legte eine breite Speckfalte, die von genossenen Provisionen zeugte, über denselben. Eine helle Weste hüllte das edle Herz ein, und weite Hosen einen hochwohlgeborenen Bauch und Beine von brutaler Stärke. Trotz der Weitläufigkeit der äußeren Form machte der aufgeschwemmte Mann den Eindruck innerer Hohlheit, und er sah so minderwertig aus wie eine Treberaktie. Übrigens ganz so leer, wie er anderen erschien, muss er sich selber nicht vorgekommen sein, denn als er den Mund öffnete, kam eine bemerkenswerte Dividende von anmaßlicher Grobheit zur Ausschüttung.

»Ich habe wohl die Ehre, den Hauslehrer meiner Tochter begrüßen zu dürfen. Geben sie sich Mühe, junger Mann, Ihre Stunden so zu legen, dass ich in meiner Gedankenarbeit möglichst wenig gestört werde. Also, die Zeit, in der ich esse, trinke, wache und schlafe, muss unbedingt musikfrei sein. Wagnermusik und Strauß’sche Walzer verträgt ›Waldmann,‹ mein Jagdhund nicht, weshalb ich bitten muss, das Konto dieser Herren nicht übermäßig belasten zu wollen. Im übrigen darf ich Ihnen die Schonung meines Kindes ebenso wie die meines Steinwayflügels ans Herz legen.« Damit verneigte er sich ein klein wenig gegen den hungrigen Schnurrer, tat mit gespreizten Fingern großtuerisch so, als ob er hinter dem Ohre noch einige Haare zu kämmen hätte und verschwand nach einem Zimmer, aus dessen Innerm man das Klappern von Tellern vernehmen konnte.

Hans dachte: »Welch’ sträflicher Unverstand mag diesen Sellerieknollen mit der Rose zum Strauß gebunden haben?« und betrachtete mitleidig die schöne Frau, über deren blasses Antlitz die Stichflamme verschämter Verlegenheit schoss und der Ausdruck grenzenloser Geringschätzung, der dem erlauchten Gemahl galt auf seinem Gange nach dem Speisezimmer. Die Tochter knixte ein wenig und folgte dem Vater. Hans und die Dame waren allein.

»Ich werde sorgen, dass Sie ihm nicht all zu oft begegnen müssen,« flüsterte sie, ihre Empörung kaum bemeisternd. »Kommen Sie übermorgen wieder. Was zu verhandeln ist, geschieht nur zwischen Ihnen und mir.« Sie reichte Hans die Fingerspitzen ihrer Rechten und begleitete ihn auf den Korridor.

Hinter dem Rücken des Probekandidaten schlug das Hoftor knallend ins Schloss. »Meinetwegen brauchst du dies nicht ein zweites Mal zu tun, ich öffne dich nicht wieder,« dachte er und schritt in das leicht verschleierte Sonnenlicht des Herbstnachmittags hinein.

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