Handbuch Ius Publicum Europaeum

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b) Die Auseinandersetzung bei den Verfassungsänderungen von 1986 und 2001

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Die Verfassungsrevision von 1986 hat die für die Beziehungen zu den Gemeinschaften relevanten Verfassungsbestimmungen unberührt gelassen. Sie waren auch kein Thema in der politischen Diskussion über die Verfassungsänderung.

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Bevor die Verfassungsrevision von 2001 näher dargestellt wird, soll hier auf den im März 1995 von der damaligen PASOK-Regierung eingebrachten Verfassungsänderungsvorschlag eingegangen werden, dem wegen der vorgezogenen Parlamentswahlen im Jahr 1996 jedoch kein Erfolg beschieden war.[25] In den Motiven zu diesem Vorschlag vom 27.3.1995 wurde die Revision des Art. 28 Verf. näher erörtert. Es sollte eine neue Bestimmung in Art. 28 Verf. aufgenommen werden, die die Teilnahme Griechenlands „an der Europäischen Union und ihren weiteren Entwicklungen“ und „am Verfahren der europäischen Integration“ ausdrücklich vorsah, wobei der Rahmen für diese Teilnahme näher umrissen war: Die „künftigen Entwicklungen“ setzten ein entsprechend den verfassungsrechtlichen Vorgaben der Mitgliedstaaten in Kraft getretenes Regierungsabkommen voraus; außerdem sollte die Teilnahme an der europäischen Integration auf der Grundlage der „Achtung der nationalen Identität“ der Mitgliedstaaten erfolgen, die wiederum „Regierungsformen haben, die das Demokratieprinzip und das Rechtsstaatsprinzip achten“. Auch die damalige Oppositionspartei N.D. hielt in ihrem Vorschlag vom 15.3.1995 die „Anpassung“ von Art. 28 für erforderlich, „damit er eine klare, spezielle und unzweifelhafte Grundlage für die Teilnahme des Landes am Prozess der europäischen Integration bietet und zugleich die wichtigen Gründe von nationalem Interesse präzisiert, denen die Zuerkennung von staatlichen Zuständigkeiten an Organe der Europäischen Union und der Europäischen Gemeinschaften dient und die in der Absicherung des Friedens, des Rechts, des Wohlstands und der Demokratie bestehen“. Bemerkenswert ist auch, dass die N.D. zugleich eine Dreifünftelmehrheit für die diesbezüglichen Ratifikationsgesetze vorgeschlagen hatte.

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Unter Berücksichtigung der obigen Vorschläge, die nur wegen der Parlamentsauflösung scheiterten, erscheint die Verfassungsänderung von 2001 eher „farblos“. Bei dieser letzten Revision hat der verfassungsändernde Gesetzgeber auf der einen Seite punktuell (nur) einige der durch den Unionsvertrag entstandenen „Konfliktsituationen“ zwischen dem griechischen Verfassungsrecht und dem europäischen Gemeinschaftsrecht berücksichtigt und diesbezüglich die Verfassung den Erfordernissen der europäischen Integration angepasst. Auf der anderen Seite hat der verfassungsändernde Gesetzgeber anstelle der oben erwähnten Vorschläge von 1995 eine allgemeine Klausel in Form einer „Interpretationserklärung“[26] zu Art. 28 Verf. in die Verfassung aufgenommen, die lapidar festhält, dass „Artikel 28 […] die Grundlage für die Beteiligung des Landes an den Verfahren der europäischen Vollendung“ ist.[27] An dieser Stelle genügt es darauf hinzuweisen, dass PASOK und N.D. der Änderung zustimmten, während sich die Parteien „Synaspismos“ und KKE gegen die Aufnahme dieser Bestimmung aussprachen. Während Erstere Bedenken aus der Sicht der Souveränitätseinschränkung äußerte und konkrete Änderungsvorschläge (qualifizierte Mehrheiten und Referendum) machte, sprach sich die KKE dafür aus, Art. 28 Verf. nicht zu ändern, weil dies die weniger belastende Lösung wäre.[28]

2. Die „nationalen Interessen“ einer Teilnahme an der EU

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Sucht man nach den „nationalen Interessen“, die Griechenland zu einer Teilnahme an den Gemeinschaften bewogen haben, sind es in erster Linie politische und nicht wirtschaftliche Gründe. Kulturell seit jeher an „West-Europa“ gebunden und nach den Erfahrungen mit der siebenjährigen Diktatur erhofften sich die Griechen durch diese Mitgliedschaft hauptsächlich eine Stabilisierung der Demokratie und eine außenpolitische Sicherheit insbesondere hinsichtlich der nationalen Grenzen. Der mit dem Beitritt zu den Gemeinschaften erwartete wirtschaftliche Aufschwung des Landes war daher nicht der primäre Beweggrund für den am 12.6.1975 vom damaligen Premierminister Konstantin Karamanlis gestellten Antrag auf volle Mitgliedschaft.[29] Zu den politischen Gründen zählte er insbesondere die Überbrückung einer gewissen mit der geopolitischen und strategischen Lage Griechenlands zusammenhängenden „Distanz“ zu Europa sowie die aus dem Beitritt folgende Vertretung des Landes in den Entscheidungszentren und seine Teilnahme an der Ausgestaltung der Politik. Karamanlis sah ferner in der Mitgliedschaft eine Stärkung der nationalen Unabhängigkeit und Souveränität. Als wirtschaftliche Gründe gab Karamanlis insbesondere die traditionellen Handelsbeziehungen Griechenlands zu einigen Mitgliedstaaten an, die 48% der griechischen Exporte ausmachten, und die durch die Mitgliedschaft zu erwartende Vergrößerung des wirtschaftlichen Wohlstandes über den größeren Gemeinsamen Markt und die Beteiligung Griechenlands an der Gestaltung der Wirtschaftspolitik der Gemeinschaft. Schließlich verwies er auf die sich durch den Beitritt ergebende Möglichkeit einer strukturellen Modernisierung der Wirtschaft mit finanziellen Mitteln aus den Strukturfonds.

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Diese für den Beitritt und die Mitgliedschaft vom Ministerpräsidenten Karamanlis angeführten nationalen Interessen wurden bis zum Jahre 1981, als die Sozialisten an die Macht kamen, nur von seiner liberal-konservativen Regierungspartei voll getragen, wobei sich auch einige kleine Oppositionsparteien[30], wenngleich mit Vorbehalten, für den Beitritt ausgesprochen hatten. Demgegenüber lehnten bis dahin die PASOK von Andreas Papandreou und die KKE die Mitgliedschaft entschieden ab und verließen das Parlament bei der Debatte über das Ratifikationsgesetz für den Beitritt.[31] Diese ursprünglich negative Einstellung der PASOK[32] war, wenn nicht ausschließlich, so doch eher auf innenpolitische Gründe und weniger auf eine prinzipielle Ablehnung der europäischen Integration zurückzuführen. Nachdem die PASOK von 1981 bis 2004 (mit nur einer kleinen Pause von 1990 bis 1993) Regierungspartei war und ihre Haltung gegenüber der europäischen Integration radikal änderte (der Beitritt zu der WWU wurde von der PASOK-Regierung von Costas Simitis vollzogen), lehnt nur noch die KKE die Teilnahme an der EU weiterhin prinzipiell ab, wobei sie allerdings durchgehend über sehr wenige Mandate im Parlament verfügt und traditionell nur ca. 4,5–6% der Stimmen erhält. Demgegenüber scheint die andere linksorientierte Oppositionspartei „Synaspismos“ (mit einem regelmäßigen Stimmenanteil von ca. 3–5%) nicht prinzipiell gegen eine Mitgliedschaft zu sein, auch wenn sie dem Ratifikationsgesetz zum VVE nicht zugestimmt hat.

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Zu den nationalen Interessen, die für die Teilnahme Griechenlands an der EU sprechen, zählt schließlich nach allgemeiner Auffassung die mit der Mitgliedschaft verbundene Chance einer besseren Bewältigung von nationalen Fragen, wie etwa der Beziehungen zu der Türkei oder der Zypernfrage.[33]

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Die Motivationslage, die Griechenland auf den Weg der Integration gebracht hat und es dort hält, hat sich bis heute nicht wesentlich geändert. Auch wenn bei der Ratifikation des Maastrichter Unionsvertrags im Parlament von allen Parteien – mit Ausnahme der regierenden liberal-konservativen Partei N.D. – in kleinerem oder größerem Umfang Zweifel oder sogar Bedenken gegen einige neue Regelungen geäußert wurden, wogen für die überwiegende Mehrheit der politischen Kräfte die durch die Teilnahme eröffnete Chance der Mitgestaltung der Zukunft Europas in der Eigenschaft eines gleichberechtigten Mitglieds und die Gefahr einer Isolation des Landes bei Nicht-Ratifizierung des Änderungsvertrags doch so schwer, dass die Frage eines Austritts weder damals noch zu einem anderen Zeitpunkt zur Diskussion stand. Mit Ausnahme der grundsätzlich negativen Haltung der KKE besteht bis heute keine Motivation, die Griechenland von einer verstärkten Integration in den europäischen Rechtsraum abhalten würde. Dies wird durch Umfragen immer wieder bestätigt. Die zwei größten Parteien, N.D. und PASOK, sind sogar dafür, dass Griechenland dem harten Kern der Mitgliedstaaten angehört, die die Integration weiter vertiefen wollen.[34]

3. Die dogmatischen Grundlagen
a) Die verfassungsrechtliche Absicherung der Öffnung der Rechtsordnung

aa) Die ursprünglichen Grundlagen

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Wie bereits erwähnt, sind in der Verfassung von 1975 in Art. 28 Verf. zwei Bestimmungen aufgenommen worden, die die „Zuerkennung von Zuständigkeiten, die in der Verfassung vorgesehen sind, an Organe internationaler Organisationen“ (Abs. 2) und die „Einschränkung der Ausübung der nationalen Souveränität“ (Abs. 3) regeln. Diese Vorschriften sichern i.V.m. dem ersten Absatz desselben Artikels, der die Stellung des Völkerrechts in der griechischen Rechtsordnung bestimmt, die Öffnung der griechischen Rechtsordnung verfassungsrechtlich ab. Da sie allerdings von Anfang an gesetzestechnisch recht problematisch waren, haben sie zu Auslegungsschwierigkeiten geführt.[35] Bereits die Lektüre beider Vorschriften fördert den paradoxen Befund zu Tage, dass die Zuerkennung oder Übertragung von Zuständigkeiten gemäß Art. 28 Abs. 2 Verf. zwar an die gewichtige formelle Voraussetzung der für eine Verfassungsänderung vorgesehenen Dreifünftelmehrheit geknüpft ist, aber anders als bei mit nur absoluter Mehrheit möglichen Einschränkungen der nationalen Souveränität (Art. 28 Abs. 3 Verf.) keine materiellen Schranken kennt. Deshalb ist es leicht verständlich, dass es sowohl in der Politik als auch insbesondere in der Wissenschaft Streit darüber gegeben hat, welche dieser beiden Vorschriften im Falle des Beitritts oder der Änderungsverträge anzuwenden ist. Wenn man darüber hinaus bedenkt, dass im griechischen Schrifttum vereinzelt[36] ebenso wie teilweise in der Politik[37] auch die Meinung vertreten wird, dass für bestimmte EG/EU-Verträge auch eine Anwendung von Art. 28 Abs. 1 Verf. allein in Betracht komme – dieser regelt u.a. die Stellung der (normalen) völkerrechtlichen Verträge in der griechischen Rechtsordnung und verlangt für das Ratifikationsgesetz die absolute Mehrheit lediglich der anwesenden Parlamentsmitglieder –, dann liegt es auf der Hand, dass die genaue Bestimmung der verfassungsrechtlichen Grundlage für die Beziehungen zwischen dem griechischen Verfassungsrecht und dem Unionsrecht von besonderer Bedeutung ist. Als herrschend kann heute die Meinung angesehen werden, die sich unter Hinweis insbesondere auf eine teleologische Auslegung für die kumulative Anwendung der Voraussetzungen beider Vorschriften ausspricht.[38] Zudem sei angemerkt, dass die Anwendung von Abs. 1 allein zwangsweise dazu führen würde, einigen europarechtlichen Verträgen den dem (normalen) Völkervertragsrecht kraft dieser Verfassungsvorschrift zukommenden (schlichten) übergesetzlichen Rang zu verleihen. Ohne dass die damit zusammenhängenden Konsequenzen hier vertieft werden könnten, erscheint diese Meinung auch aus diesem Grunde nicht stichhaltig.

 

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Der politische Streit um die verfassungsrechtliche Grundlage, der bereits bei der Ratifizierung des Beitrittsvertrags im Parlament zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen den Parteien geführt hat,[39] flammt – insbesondere im Hinblick auf die erforderliche Mehrheit – immer wieder auf, wenn es darum geht, europarechtliche Verträge zu ratifizieren. Bemerkenswert ist allerdings, dass in der Praxis alle Ratifikationsgesetze bis heute mit einer Mehrheit beschlossen worden sind, die die von Art. 28 Abs. 2 Verf. verlangte Dreifünftelmehrheit überstieg, in den meisten Fällen sogar weit darüber lag. Wie die Ratifikation des VVE gezeigt hat, bleibt aber die Frage offen. Dennoch zeigt die Entstehungsgeschichte, dass in der Konstituente von 1975 Übereinstimmung zwischen den Parteien darüber bestand, dass die für die Mitgliedschaft erforderliche verfassungsrechtliche Grundlage die Bestimmung des Art. 37 nach dem Verfassungsentwurf der Regierung bilden sollte, der die Zuerkennung von Zuständigkeiten regelte und dem heutigen Art. 28 Abs. 2 Verf. entspricht.[40] Auf der anderen Seite kann dem Bericht des zuständigen Parlamentsausschusses entnommen werden, dass die für Souveränitätseinschränkungen vorgesehenen materiellen Grenzen auch für die Zuerkennung von Zuständigkeiten gelten sollten, für die allerdings eine Dreifünftelmehrheit erforderlich ist. Die historische Auslegung erlaubt somit die Feststellung, dass bereits in der Konstituente eine kumulative Anwendung beider Vorschriften zumindest ins Auge gefasst war. Wie auch immer man zu der Frage der kumulativen Anwendung beider Vorschriften stehen mag, jedenfalls wurde von Anfang an in Politik und Wissenschaft nicht grundsätzlich angezweifelt, dass die in Art. 28 Abs. 3 Verf. für Einschränkungen der Souveränitätsausübung vorgesehenen materiellen Voraussetzungen bzw. Grenzen nicht nur für den Beitritt, sondern auch für die Mitgliedschaft und künftige Integrationsschritte gelten sollen. Diese Haltung ist auch logisch, da die Mitgliedschaft als solche mit Einschränkungen der Souveränitätsausübung verbunden ist.

bb) Die Ergänzung der Grundlagen – insbesondere die „Interpretationserklärung“ zu Art. 28 Verf.

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Durch die Revision des Jahres 2001 ist einigen Integrationsschritten, die aus verfassungsrechtlicher Sicht fragwürdig waren, insbesondere der Beteiligung an der WWU, nachträglich eine spezifische verfassungsrechtliche Grundlage verschafft worden. So wurde Art. 80 Verf. um eine so genannte „Interpretationserklärung“ ergänzt, die ausdrücklich klarstellt, dass „Absatz 2 [...] einer Beteiligung Griechenlands an den Verfahren der Wirtschafts- und Währungsunion im weiteren Rahmen der europäischen Integration gemäß den Regelungen des Art. 28 nicht entgegen [steht]“. In ähnlicher Weise wurde dem die gesetzgeberische Tätigkeit des Parlaments regelnden Art. 70 Verf. ein neuer Abs. 8 hinzugefügt, der eine Informations- und Diskussionspflicht der Regierung gegenüber dem Parlament über die Fragen vorsieht, „die im Rahmen der Europäischen Union Gegenstand normativer Regelung sind“. Darüber hinaus wurde in Art. 28 Verf. eine neue Bestimmung in Form einer „Interpretationserklärung“ eingefügt, die in sibyllinischer Weise feststellt, dass „Artikel 28 […] die Grundlage für die Beteiligung des Landes an den Verfahren der europäischen Vollendung“[41] bildet.

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Letztere Verfassungsbestimmung ist teilweise kritisiert worden. Es wurde zunächst angezweifelt, ob sie überhaupt eine „Interpretationserklärung“ im Sinne des Wortes darstellt. Art. 28 Verf. war nämlich von Anfang an unbestritten die verfassungsrechtliche Grundlage für die Beziehungen Griechenlands zu den Gemeinschaften; fraglich war lediglich der für die verschiedenen Integrationsschritte jeweils anzuwendende Absatz. Eine ausdrückliche Antwort auf diese Interpretationsfrage vermag die neue Vorschrift nicht zu geben,[42] es sei denn, man interpretiert sie dahin, dass sie stillschweigend und mittelbar die kumulative Anwendung beider Vorschriften über die Zuerkennung von Zuständigkeiten und über Souveränitätseinschränkungen fordert.[43] Außerdem vermag sie keine Klarheit über die zumindest theoretisch noch in der griechischen Rechtsprechung und Lehre umstrittene Frage nach der Stellung des Unionsrechts gegenüber der Verfassung[44] zu schaffen. Nicht zuletzt muss angemerkt werden, dass mit dieser Vorschrift Griechenland als soweit ersichtlich einziger Mitgliedstaat die „Vollendung“ der europäischen Konstruktion vorauszusagen und seine quasi bedingungslose Teilnahme an der weiteren Integration verfassungsrechtlich abzusichern scheint. Wie den Parlamentsdebatten über das Ratifikationsgesetz zum VVE zu entnehmen ist, scheint allerdings die obige Interpretationserklärung von den Politikern als eine ausreichende Grundlage für diesen Vertrag und weitere Integrationsstufen angesehen zu werden.[45]

b) Konsequenzen aus der spezifischen Form der Öffnung und der Absicherung

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Der Umstand, dass die Grundlage für die Öffnung der nationalen Rechtsordnung in Art. 28 Verf. lokalisiert wird, der ein (formelles) Gesetz verlangt, hat zur Folge, dass europarechtliche Verträge nur über ein Ratifikationsgesetz in die griechische Rechtsordnung Eingang finden und Teil des in Griechenland zu beachtenden Rechts werden können. Bemerkenswert ist, dass nach der griechischen Verfassung die Ratifizierung internationaler Verträge nicht einmal Gegenstand einer gesetzlichen Ermächtigung sein kann (Art. 36 Abs. 4 Verf.). Ein anderer Weg, etwa mittels eines Referendums, würde demzufolge verfassungsrechtlich nicht ausreichen, auch unter Berücksichtigung der Tatsache nicht, dass in der griechischen Verfassung das Referendum als Institution vorgesehen ist.[46]

4. Die aus der Sicht des griechischen Verfassungsrechts bestehenden Konfliktfelder hinsichtlich der Mitgliedschaft in der EU

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Im Laufe der Mitgliedschaft Griechenlands ergaben sich echte oder scheinbare Kollisionsfälle zwischen griechischem Verfassungsrecht und Gemeinschaftsrecht, die entweder auf bereits von Anfang an bestehende Eigenheiten der griechischen Verfassung oder auf ihre Entwicklung zurückzuführen sind bzw. der Entwicklung des Gemeinschaftsrechts entstammen. Die Lehre hat früh eingeräumt, dass mögliche Konflikte zwischen Gemeinschaftsrecht und griechischer Verfassung eher selten sind,[47] eine These, die zumindest bis zum Vertrag von Maastricht bzw. bis zur Verfassungsrevision des Jahres 2001 auch berechtigt war. Die wenigen Konfliktfelder, die es gibt, werden eher im Bereich der Grundrechte und weniger im Bereich der Kompetenzordnung, der Souveränität und der Demokratie verortet. Während viele von diesen „Konflikten“ zum größten Teil bewältigt werden konnten (a), bestehen noch heute einige Konfliktfelder hinsichtlich der Mitgliedschaft Griechenlands in der EU (b). Schließlich scheint auch der Vorrang des Gemeinschafts- bzw. Unionsrechts gegenüber der Verfassung noch eine offene Frage zu sein (c).

a) Die gelösten Kollisionsfragen

aa) „Konfliktsituationen“ bis zum Vertrag über die Europäische Union

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Die den meisten Mitgliedstaaten gemeinsamen „Konfliktsituationen“ zwischen dem nationalen Verfassungsrecht und dem Gemeinschaftsrecht – so etwa die Verletzung der Souveränität oder Eingriffe in die interne Organisation des Staates[48] – hat es auch in Griechenland seit dem Beitritt gegeben.[49] Solche Schwierigkeiten bzw. „Konfliktsituationen“ konnte die Lehre, ähnlich wie in anderen Mitgliedstaaten, bis zum Vertrag über die Europäische Union mit dem vorhandenen verfassungsrechtlichen Instrumentarium bewältigen, meistens mittels einer gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung der Verfassung oder unter Heranziehung des Prinzips der praktischen Konkordanz der einschlägigen Verfassungsbestimmungen.[50]

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Über diese allgemein bestehenden Berührungspunkte hinaus ergaben sich in Griechenland zusätzliche Schwierigkeiten, die mit Besonderheiten seiner Verfassung zusammenhängen. Als typisches Beispiel sei der in ihr garantierte Zugang zu den öffentlichen Ämtern bzw. zum Beamtentum nur für eigene Staatsbürger (Art. 4 Abs. 4 Verf.) genannt. Hervorzuheben ist, dass diese Vorschrift nach Art. 110 Abs. 1 Verf. von einer Verfassungsänderung ausgeschlossen ist. Eine zweite Regelung ist die Verfassungsvorschrift, die die Rückwirkung von Steuergesetzen nur für ein Jahr zulässt (Art. 78 Abs. 2 Verf.). Bekanntlich stellt die Rückwirkungsjudikatur des EuGH auf Vertrauensschutzerwägungen und die Erforderlichkeit der Rückwirkung, nicht aber auf eine absolute zeitliche Einschränkung der Rückwirkung ab.[51] Rechtsprechung und Lehre konnten bis jetzt die aus diesen beiden Verfassungsbestimmungen in der Praxis entstandenen Schwierigkeiten bzw. „Konfliktsituationen“ mit Lösungen bewältigen, die in der Regel auf einer gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung der Verfassung, weniger auf einer expliziten Anerkennung des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts gegenüber der Verfassung, beruhten. So wurde beispielsweise die Zulässigkeit des Zugangs von EG-Ausländern zu öffentlichen Ämtern damit begründet, dass das Gemeinschaftsrecht als Ganzes als eine der nach Art. 4 Abs. 4 Verf. „in speziellen Gesetzen geregelten Ausnahmen“ anzusehen sei.[52] Diese dogmatisch wenig überzeugende Begründung hat einen Teil des Schrifttums allerdings dazu veranlasst, über andere Auslegungsmöglichkeiten nachzudenken. Insbesondere wurde der Vorrang des Gemeinschaftsrechts mit den europarelevanten Vorschriften von Art. 28 Abs. 2 und 3 Verf. begründet, die als Klausel für eine stillschweigende Modifizierung der Verfassung im Bereich des Gemeinschaftsrechts angesehen wurden.[53] Auch die Frage der rückwirkenden Entziehung von Steuervorteilen, die vom EuGH als gemeinschaftswidrige Beihilfe qualifiziert wurden,[54] konnte vom Staatsrat und vom höchsten Verwaltungsgericht durch eine europarechtskonforme Auslegung der einschlägigen Verfassungsbestimmung gelöst werden. So hat der Staatsrat entschieden, dass die Rückforderung der gemeinschaftswidrigen Beihilfen nicht als rückwirkende Auferlegung von Steuern im Sinne von Art. 78 Abs. 2 Verf. anzusehen ist.[55] Damit konnte die Rückforderung auch Steuerbefreiungen erfassen, die lange vor der in Art. 78 Abs. 2 Verf. niedergelegten Jahresgrenze gewährt worden waren.