Handbuch Ius Publicum Europaeum

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5. Verfassungsrechtliche Grenzen der Integration

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Die Frage der Souveränität, der Kompetenz-Kompetenz und andere wichtige Punkte wurden von Sir John Laws im Fall Thoburn v. Sunderland City Council[71] angesprochen. Dieser Fall betraf Markthändler, die sich geweigert hatten, beim Verkauf ihrer Waren metrische Gewichte zu benutzen. Sie beharrten darauf, die alten gesetzlichen Gewichte zu benutzen und wurden deshalb von den unteren Strafgerichten zu Bußgeldern verurteilt. Der Fall hätte in der Berufung einfach mit dem Argument entschieden werden können, dass die gesetzlichen Vorschriften, die den Übergang zu metrischen Maßen festlegten, im Einklang mit Gemeinschaftsrecht stehen, und dass die Verurteilungen daher rechtmäßig waren. Im Divisional Court (Abteilung des High Court) bezog sich Sir John Laws, der unter den älteren Richtern als besonders eigenwillig bekannt ist, jedoch auf die von den Anwälten vorgebrachten Argumente, um seine Überlegungen zu Souveränität und Verfassungstheorie darzustellen. Genau besehen war keine seiner Ausführungen für den Fall notwendig, und diese somit obiter dicta. Es ist jedoch die gewandteste Analyse zur Frage der Souveränität und weist unübersehbare Anklänge an das Urteil des deutschen Bundesverfassungsgerichtes in der Maastricht-Entscheidung[72] aus dem Jahre 1993 auf.

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Ein Argument der Berufungskläger war, dass der European Communities Act durch eine spätere Maßnahme implizit außer Kraft gesetzt worden sei. Dies wäre jedoch mit der europarechtsfreundlichen Auslegungsregel für nationales Recht in Abschnitt 2 Abs. 4 des European Communities Act nicht vereinbar. Die Staatsanwaltschaft war der Ansicht, dass das Gemeinschaftsrecht im Recht des Vereinigten Königreiches fest verankert sei und nicht implizit außer Kraft gesetzt werden könne. Im vorliegenden Fall waren gemäß Abschnitt 2 Abs. 2 European Communities Act Verordnungen erlassen worden, die das Gesetz verändert hatten und welche vorsahen, dass die metrischen Maße unwiderruflich die einzig zulässigen sein sollten, und welche die Verhängung von Bußgeldern für den Fall der Nichtbefolgung vorsahen.[73] Für den „little Englander“ und seine Ansichten über Souveränität war dies natürlich ein rotes Tuch.

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Lordrichter Laws war hingegen der Ansicht, dass es im Vereinigten Königreich so genannte constitutional statutes gibt. Dies seien Gesetze, die als verfassungsrechtlich bezeichnet werden können und sich deshalb von anderen normalen Gesetzen unterschieden. Sie gehörten insofern einer anderen Kategorie an, als sie – anders als einfache Gesetze – nicht implizit widerrufen werden könnten. Ein Widerruf könne bei ihnen grundsätzlich nur ausdrücklich geschehen und allenfalls dann ausnahmsweise implizit, wenn der Wortlaut keinen Zweifel zulasse, dass sie von einem anderen Gesetz außer Kraft gesetzt werden dürfen. Der European Communities Act 1972 sei so ein constitutional statute. Dasselbe muss man für die Magna Carta (die Version von 1215, die kurz nach ihrem Erlass widerrufen wurde), die Bill of Rights 1688–89, den Act of Settlement 1701, den Parliament Act 1911, den Human Rights Act 1998 und andere annehmen. Aufgrund der verfassungsrechtlichen Bedeutung dieser Gesetze ist es unwahrscheinlich, dass sie implizit widerrufen werden können. Dies wäre rechtlich und politisch nicht akzeptabel, so dass sie zu Recht als „verfassungsrechtlich“ bezeichnet werden. Das belegt auch der kürzlich vom Court of Appeal entschiedene Fall R (Jackson) v. Attorney General, in dem es zentral um die Auslegung des Parliament Act 1911 ging. Das Verfahren hatte die Gültigkeit des Parliament Act 1911 zum Gegenstand, auf dessen Grundlage das Gesetz zum Verbot der Fuchsjagd erlassen worden war.[74] Der Parliament Act sieht vor, dass das Parlament unter bestimmten Umständen ohne die Zustimmung des House of Lords Gesetze beschließen kann. Ohne auf Thoburn Bezug zu nehmen, rekurrierte der Court of Appeal erstmals auf die Gesetzgebungsdebatten im Parlament von 1911, um die verfassungsrechtliche Bedeutung des Gesetzes zu erforschen und ging damit weit über die traditionellen (englischen) Interpretationsmethoden hinaus. Im House of Lords fand dieser neuartige Gebrauch von Hansard (amtliches Parlamentsprotokoll, nach dem Drucker Hansard benannt) indes keine Unterstützung.[75]

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Die umstrittene Neuerung in Thoburn besteht in der Hierarchisierung von Gesetzen durch Sir John Laws: „There are now classes or types of legislative provisions which cannot be repealed by mere implication. These instances are given, and can only be given, by our own courts, to which the scope and nature of Parliamentary sovereignty are ultimately confided.“[76] Zur Hierarchie dieser Gesetze führte Laws weiterhin aus: „We should recognise a hierarchy of Acts of Parliament: as it were ‚ordinary‘ statutes and ‚constitutional‘ statutes. The two categories must be distinguished on a principled basis. In my opinion a constitutional statute is one which (a) conditions the legal relationship between citizen and State in some general, overarching manner, or (b) enlarges or diminishes the scope of what we would now regard as fundamental constitutional rights.“[77] Laws entfaltete für diese Kategorisierung vier Argumente: Das Gemeinschaftsrecht sei durch den European Communities Act implementiert[78] worden und vorrangig; der European Communities Act 1972 sei, wie oben ausgeführt, gemäß englischem Recht ein verfassungsrechtliches Gesetz, wobei das Common Law die Kategorie der verfassungsrechtlichen Gesetze anerkenne; die Rechtsgrundlage für die Beziehung zu der EU befinde sich innerhalb der nationalen Kompetenz und nicht innerhalb der Kompetenzen der EU. Die Grundlage dieses Verhältnisses liegt im Common Law, und dieses definiere die Souveränität.[79]

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Eine der wichtigsten Aussagen der Entscheidung Thoburn ist im folgenden Abschnitt enthalten: „In the event, which no doubt would never happen in the real world, that a European measure was seen to be repugnant to a fundamental or constitutional right guaranteed by the law of England, a question would arise whether the general words of the ECA were sufficient to incorporate the measure and give it overriding effect in domestic law. But that is very far from this case.“[80] Dies kann wohl als die britische Version des deutschen Maastricht-Urteils angesehen werden, in der Lordrichter Laws die Haltung der britischen Gerichte zur Frage der Kompetenz-Kompetenz verdeutlicht: „I consider that the balance struck by these four propositions gives full weight both to the proper supremacy of Community law and to the proper supremacy of the United Kingdom Parliament. By the former, I mean the supremacy of substantive Community law. By the latter, I mean the supremacy of the legal foundation within which those substantive provisions enjoy their primacy. […] If this balance is understood, it will be seen that these two supremacies are in harmony, and not in conflict.“[81]

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Falls die Argumentation von Sir John Laws bezüglich der verfassungsrechtlichen Gesetze korrekt ist und Akzeptanz findet, dann ist es gut, sich daran zu erinnern, was der Court of Appeal in R (Jackson) v. Attorney General ausgeführt hat.[82] Das Gericht bemerkte dort, dass der Parliament Act 1911, der es dem House of Commons und der Krone gestattet, Gesetze ohne die Zustimmung des House of Lords zu verabschieden, nicht in Bezug auf Gesetze von verfassungsrechtlichem Rang angewendet werden kann. Der Court of Appeal war der Ansicht, dass, je größer der verfassungsrechtliche Wandel sei, desto größer auch die Wahrscheinlichkeit sei, dass die Gesetzgebungskompetenz des House of Commons nicht unter den Parliament Act 1911 fallen würde. Diese Interpretation des Gesetzes fand jedoch in der Entscheidung des House of Lords keine Zustimmung. Lord Bingham wies darauf hin, dass der historische Zweck des Parliament Act die Gewährung der Home Rule (Selbstregierung) für Irland gewesen war. Die Gewährung der Home Rule für Irland habe eine so fundamentale verfassungsrechtliche Veränderung dargestellt, dass das Argument des Court of Appeal leerlaufe.[83] Er gestand jedoch ein, dass es Beweise gibt, dass nachfolgende Regierungen jedweder politischer Gesinnung gewillt waren, den Parliament Act 1949, mit dem das Gesetz von 1911 umfassend novelliert worden war, nicht für einschneidende verfassungsrechtliche Zwecke in der Weise anzuwenden, in welcher der 1911 Act in seiner ursprünglichen Fassung angewandt worden war (der Government of Ireland Act 1914, der Welsh Church Act 1914, der 1949 Act selbst), sondern eher um Gesetze von geringerer verfassungsrechtlicher Bedeutung durchzusetzen (der War Crimes Act 1991, der European Parliamentary Elections Act 1999, der Sexual Offences [Amendment] Act 2000 und nun der Hunting Act 2004).[84] Lord Steyn führte aus, dass der 1949 Act potentielle Fragen wie die Abschaffung des House of Lords oder die Prinzipien im Judicial Review-Verfahren aufwerfen könnte. Diese Fragen seien seiner Ansicht nach „rein theoretischer Natur“, da die britische Verfassung nicht unbeschränkt verändert werden dürfe. Er betonte, dass es verfassungsrechtliche Prinzipien gäbe, die selbst ein souveränes Parlament nicht abschaffen könne.[85]

Erster Teil Offene Staatlichkeit › § 17 Offene Staatlichkeit: Großbritannien › III. Verfassungsrecht und die Europäische Konvention für Menschenrechte

 
III. Verfassungsrecht und die Europäische Konvention für Menschenrechte

1. Das Common Law als Grundlage des nationalen Grundrechtsschutzes

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Historisch gesehen spielten die Menschenrechte im Vereinigten Königreich keine große Rolle. Dafür gibt es mehrere Gründe: Abgesehen von der irischen Frage herrschte in Großbritannien bemerkenswerte politische Stabilität, und Exzesse der Exekutive gab es wenig. Auch wurden Menschenrechte im nationalen Recht nicht näher rechtlich präzisiert oder definiert, obwohl britische Juristen beim Entwurf der EMRK mitgewirkt haben. Drittens gab und gibt es den verfassungsrechtlichen Ausgleich zwischen Krone und Parlament aus dem 17. Jahrhundert, der zur Folge hat, dass das Parlament die überlieferten Freiheiten der Bürger beschützte. Freilich wurden die Schwächen dieser etwas selbstgefälligen Haltung bald deutlich.[86] Das lässt sich auch daran ablesen, dass die Gerichte schon vor der Inkorporierung der EMRK in nationales Recht durch den Human Rights Act 1998 deren Terminologie benutzten und annahmen, dass das Common Law längst im Einklang mit der Konvention stand. Die Gerichte begannen, so weit dies möglich war, Gesetze im Sinne der Menschenrechte auszulegen und entwickelten eine rechtliche Vermutung dahingehend, dass das Parlament keinen Bruch mit internationalem Recht beabsichtigen würde.[87] Mehrdeutige Vorschriften sollten im Einklang mit der Konvention gelesen werden. Darüber hinaus wurden Menschenrechte zur Auslegung herangezogen, wenn das Common Law unterentwickelt war oder Rechtsunsicherheit bestand.[88] Dies kann als eine Einbruchstelle für den europäischen Menschenrechtsschutz in das nationale Recht angesehen werden.[89]

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Obwohl das Common Law oft als unzureichend angesehen wurde, wenn es um den Schutz von Menschenrechten ging, da es auf dem Schutz von Eigentum und eigentumsähnlichen Rechten basierte, lässt sich jedenfalls aus der jüngeren Rechtsprechung ersehen, dass der Schutz von Menschenrechten unter dem Common Law mit dem Schutz unter der Konvention durchaus kompatibel ist. Der Fall Attorney General v. Guardian[90] illustriert, dass das Recht auf Pressefreiheit schon lange vor dem Inkrafttreten des Human Rights Act 1998 ein Recht mit Verfassungsrang war.[91] Die Richter haben insoweit stolz verlautbart, dass die Rechte der EMRK nur die Rechte widerspiegeln, die bereits in der Magna Carta enthalten sind.[92]

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Sir Stephen Sedley hat dies in seinem Urteil in McQuillan eindrucksvoll auf den Punkt gebracht, als er ausführte: „Once it is accepted that the standards articulated in the Convention are standards which both march with those of the common law and inform the jurisprudence of the European Union, it becomes unreal and potentially unjust to continue to develop English public law without reference to them. Accordingly, and without in any way departing from the ratio of Brind, the legal standards by which the decisions of public bodies are supervised can and should differentiate between those rights which are recognised as fundamental and those which, though known to the law, do not enjoy such a pre-eminent status. Once this point is reached the standard of justification of infringements of rights and freedoms by executive action must vary in proportion to the significance of the right which is in issue.“[93]

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Es kann also festgehalten werden, dass Sir Stephen Sedley von „fundamentalen Rechten“ spricht, die er von anderen Rechten unterscheidet, und auch Sir John Laws hat von constitutional statutes gesprochen, die er von einfachen Gesetzen unterschied. Das Argument ist ähnlich und läuft auf dasselbe hinaus: Das Common Law hat eine Verfassung höheren Ranges entwickelt.

2. Die „Inkorporation“ der EMRK in das britische Verfassungsrecht

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Das Vereinigte Königreich war die erste Nation, welche die Europäische Menschenrechtskonvention ratifizierte.[94] Es hat sie jedoch nicht in nationales Recht transformiert. Aus britischer Perspektive war die EMRK zwar völkerrechtlich verbindlich, nicht aber innerhalb der nationalen Rechtsordnung. Dabei hatte ein britischer Jurist maßgeblichen Einfluss auf den Entwurf der Europäischen Konvention für Menschenrechte.[95] Sir Oscar Dowson, ehemaliger Rechtsberater im Home Office, trug einen der Hauptentwürfe in seiner Funktion als Mitglied im Expertenkomitee vor. Die Konferenz der Experten bestand aus hohen Beamten, die von ihren Regierungen im März 1950 instruiert waren, „die Grundlage für die politischen Entscheidungen des Ministerkomitees vorzubereiten“[96]. Der aus 25 Artikeln bestehende Entwurf des Vereinigten Königreiches wurde an das Ministerkomitee weitergeleitet.[97] Schon vor dem Inkrafttreten des Human Rights Act haben die Gerichte die EMRK jedoch zur Interpretation unklarer Gesetze herangezogen und sie für die Fortentwicklung des Common Law fruchtbar gemacht.

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Die Labour Regierung war 1997 mit der Absicht angetreten, große verfassungsrechtliche Veränderungen im Vereinigten Königreich herbeizuführen. Im Oktober 1997 veröffentlichte der Innenminister in diesem Zusammenhang auch Pläne zur Inkorporierung der EMRK.[98] Ein Gesetzesentwurf – die Human Rights Bill (heute der Human Rights Act 1998) – wurde zusammen mit dem White Paper „Rights Brought Home“ bekannt gemacht. Alle Richter wurden vor dem Inkrafttreten des Human Rights Act in Menschenrechten unterwiesen, was zu einer Verzögerung des Inkrafttretens des Gesetzes um zwei Jahre führte. Das White Paper führte aus, dass kein Minister die Verantwortung für den Human Rights Act haben würde. Dennoch ressortiert der Human Rights Act heute im Verantwortungsbereich des Department for Constitutional Affairs,[99] welchem der Lordkanzler Lord Falconer vorsteht.[100] Der Gesetzesentwurf sah ferner Derogationen und Vorbehalte von der Konvention und ihren Zusatzprotokollen vor.

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Das White Paper „Rights Brought Home“ hatte schließlich eine Menschenrechtskommission vorgeschlagen, dies allerdings nur im Sinne eines zukünftigen Vorhabens, nicht als eine Verpflichtung. Aus einem Gesetzesentwurf von März 2005 geht nun die Planung einer Equality and Human Rights Commission hervor.[101] Die Anmerkungen zur Vereinbarkeit mit dem Human Rights Act werden von dem Department for Constitutional Affairs dahingehend überarbeitet, dass sie den Abteilungen bei der Anfertigung von Verordnungen und Gesetzesentwürfen bei der Interpretation von im Zusammenhang mit der Konvention stehenden Fragen eine Hilfestellung bieten können.

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Der Human Rights Act 1998 „inkorporiert“ aber nicht die ganze Konvention, sondern nur die Rechte, die sich in Anhang 1 des Human Rights Act 1998 befinden. Das betrifft die Art. 2–12, 14–18 des 1. ZP-EMRK sowie die Art. 1 und 2 des 6. ZP-EMRK. Es ist daher streitig, ob der Ausdruck „inkorporieren“ überhaupt korrekt ist. Gemäß Abschnitt 6 des Human Rights Act 1998 darf eine Behörde (public authority) nicht auf eine Weise handeln, die gegen die im Human Rights Act 1998 aufgeführten Rechte der Konvention verstößt. Das nationale Gericht muss zudem die Rechtsprechung des EGMR „in Betracht ziehen“. Eine unmittelbare Bindung wird allerdings nicht angeordnet. Die „public authority“ wird in Abschnitt 6 weit definiert und schließt alle Vertreter von zentralen und örtlichen Regierungsstellen, einschließlich der Polizei, der Gerichte und Tribunale (gerichtsähnliche Institutionen) ein. Im Fall von Art. 8 und 10 der EMRK wurde dies damit begründet, dass die Menschenrechte unmittelbare Wirkung zwischen Privaten entfalten, hier zwischen der Presse und dem Bürger.[102] Die Definition der „public authority“ bezieht sich auch auf private Stellen, die hoheitliche Funktionen ausüben, was zu einigen Rechtsstreitigkeiten geführt hat. Sie umfasst allerdings nicht das Parlament. Minister müssen bei Gesetzen so genannte Vereinbarkeitsstatements im Parlament abgeben. Falls dies nicht möglich ist, müssen sie ihre Position vor dem Parlament zumindest erklären. Wohl aber ist das House of Lords in seiner richterlichen Funktion „public authority“. Das gestattet es Individuen und Organisationen, in jedem Prozess eine Verletzung der Menschenrechte geltend zu machen, unabhängig davon, ob sie Kläger oder Beklagte sind. Menschenrechtsverletzungen können vor jedem Gericht gerügt werden.

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Wenn sich ein Bürger gegen eine Menschenrechtsverletzung zur Wehr setzen möchte, kann er sich direkt an die Gerichte wenden. Soweit Menschenrechtsverletzungen im Judicial Review-Verfahren gerügt werden, muss der Kläger klagebefugt sein. Test für die Klagebefugnis ist die Frage, ob der Kläger „Opfer“ eines Menschenrechtsverstoßes geworden ist. Die Gerichte und Tribunale können alle „normalen“ Entscheidungen treffen, Gerichte auch auf Schadensersatz erkennen und einstweilige Verfügungen erlassen. Die genaue Qualifizierung des Schadensersatzanspruches ist streitig. Einerseits wird die Ansicht vertreten, es handele sich um einen deliktischen Anspruch; andererseits wird angenommen, es handele sich um einen öffentlich-rechtlichen Schadensersatzanspruch. Diese Unterscheidung ist relevant, da die von den Richtern festzusetzende Art und Höhe des Schadensersatzanspruches von dieser Zuordnung abhängen kann.[103] Die Gewährung des Schadensersatzes steht im Ermessen des Gerichts und erfolgt nur, falls sie „notwendig“ ist. Die Gerichte haben somit die Befugnis zur Gewährung von Schadensersatz, sind aber nicht dazu verpflichtet. Die Gewährung von Schadensersatz wegen Verstoßes gegen Menschenrechte gemäß Absatz 8 des Human Rights Act 1998 sollte sich an den Grundsätzen, die vom EGMR entwickelt worden sind, orientieren, so dass der nationale Schadensersatz „äquivalent“ mit diesen ist. Das Gericht ist somit gehalten, die europäischen Grundsätze „in Betracht“ zu ziehen; es ist jedoch – anders als im Hinblick auf die aus dem Gemeinschaftsrecht fließenden Verpflichtungen[104] – nicht an sie gebunden.[105] Nur wenige Entscheidungen haben diese Frage bislang erörtert. Der Bericht der Law Commission aus dem Jahre 2000 stellt in detaillierter Weise die Schwierigkeiten dar, die sich aus den lückenhaften Grundsätzen des EGMR in dieser Frage für die englischen Gerichte ergeben.[106] Die zwei wichtigsten Entscheidungen sind die vom Court of Appeal getroffene Entscheidung in der Rs. Anufrijeva[107] und die Entscheidung des House of Lords in der Rs. Greenfield[108]. In der Rs. Anufrijeva waren die Kläger, aus dem Baltikum stammende Asylbewerber, der Ansicht, dass ihre Unterbringung in einer Notunterkunft unzureichend sei und dass ihre Anträge auf Asyl so langsam bearbeitet worden seien, dass hierin jeweils ein Verstoß gegen Art. 8 des Human Rights Act i.V.m. der EMRK liege, der zu einem Schadensersatzanspruch gemäß Abschnitt 8 des Human Rights Act berechtige. Die Anträge blieben erfolglos. Lord Woolf formulierte in Anufrijeva einige wichtige Grundsätze: Der Kläger sollte in die Lage versetzt werden, in der er sich vor dem Menschenrechtsverstoß befunden habe, die Rechtsprechung des EGMR sei in der Frage des Schadensersatzes für immaterielle Rechtsverletzungen nicht beständig, Schadensersatz für prozessuale Rechtsverletzungen sei selten, und die Schwere der Rechtsverletzung im Einzelfall müsse in die Erwägungen einbezogen werden. In der Rs. Greenfield ging es ursprünglich um den Schadensersatzanspruch eines Inhaftierten, der der Ansicht war, dass die wegen Verstoßes gegen die Anstaltsordnung angeordnete Haftverlängerung nicht in Einklang mit den Anforderungen des Art. 6 des Human Rights Act i.V.m. der EMRK erfolgt sei. Das House of Lords hatte nur noch über den Schadensersatzanspruch zu befinden. Lord Bingham argumentierte, dass der Schadensersatzanspruch gemäß Abschnitt 8 des Human Rights Act nicht im Deliktsrecht anzusiedeln sei. Sein Zweck sei weitergehend und mit der Europäischen Menschenrechtskonvention zu vergleichen.[109] Es wird angenommen,[110] dass dies die Höhe des Schadensersatzes begrenzen wird. Menschenrechtsverstöße sind jedoch nicht zwingend Straftaten.

 

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Der Human Rights Act 1998 erlaubt es den Gerichten nicht, nationales Recht außer Kraft zu setzen. Die höheren Gerichte können eine so genannte Declaration of Incompatibility (Unvereinbarkeitserklärung) gemäß Abschnitt 4 abgeben, die in zweifacher Hinsicht Wirkungen entfaltet: Zum einen erregen solche Erklärungen das öffentliche Interesse und drängen die Regierung zu einer Änderung der Rechtslage. Zum anderen versuchen die Gerichte, solche Erklärungen zu vermeiden und die Gesetze menschenrechtskonform auszulegen. Nur die höheren Gerichte können eine solche Erklärung abgeben. Das sind der High Court, der Court of Appeal und das House of Lords. Die unteren Gerichte müssen zwar Gesetze, soweit dies möglich ist, menschenrechtskonform auslegen; County Courts, Tribunals, der Crown Court oder Magistrates Courts können jedoch keine Unvereinbarkeitserklärung abgeben. Im Falle einer Unvereinbarkeit müssen sie das britische Recht anwenden.[111]

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Im Fall Gahaidan v. Mendoza stellte Lord Steyn fest, dass es bislang fünfzehn solcher Erklärungen gegeben hat, von denen fünf von höheren Gerichten aufgehoben worden seien.[112] Einer der wichtigsten Fälle war R (Alconbury Developments Ltd) v. Secretary of State for Transport, the Environment and the Regions.[113] In diesem Fall hob das House of Lords die Unvereinbarkeitserklärung des Divisional Court bezüglich einer Unvereinbarkeit des Bauplanungsrechts mit Art. 6 der Konvention auf und entschied, dass die Rechtsschutzmöglichkeiten im Judicial Review-Verfahren ausreichend seien, um den Verstoß gegen Art. 6 EMRK zu heilen. Darüber hinaus sei der Secretary of State, der die Planungsentscheidung in bestimmten Fällen selbst trifft, dem Parlament gegenüber verantwortlich. In Wilson v. First County Trust Ltd (no. 2)[114] entschied das House of Lords, dass entgegen dem Urteil des Court of Appeal Abschnitte des Consumer Credit Act 1974 nicht mit Art. 6 unvereinbar waren. R (H) v. Mental Health Review Tribunal[115] bezog sich auf die teilweise Unvereinbarkeit des Mental Health Act 1983 mit Art. 5 Abs. 1 und 4 der EMRK. Problematisch war hier die Beweislastverteilung zu Lasten des Patienten, welcher laut Gesetz das Nichtmehrvorliegen der Einweisungsbedingungen darzulegen hatte. Das Gesetz wurde entsprechend abgeändert und betroffene Patienten erhielten Schadensersatz. In International Transport Roth GmbH v. Secretary of State for the Home Department[116] wandten sich die Kläger, 50 Lastwagenfahrer und Speditionen, gegen die Auferlegung von Strafen gemäß dem Immigration and Asylum Act 1999. Sie hatten, ohne davon Kenntnis zu haben, illegale Einwanderer nach Großbritannien mitgenommen und waren zu Geldstrafen verurteilt worden. Dagegen brachten sie vor, dass das Gesetz gegen das Recht auf Eigentum und das Recht auf rechtliches Gehör verstoße, denn es schrieb vor, dass die Geldstrafe mit der Entdeckung der Einwanderer erhoben werden müsse, und somit keine Anhörung stattzufinden habe, von der Möglichkeit, einen Dolmetscher zuzuziehen, ganz zu schweigen. Das House of Lords entschied, dass das Gesetz nicht auslegungsfähig sei, und dass es unverhältnismäßig sei, Geldstrafen aufzuerlegen, ohne die Schuld des Fahrers zu berücksichtigen. Der Immigration and Asylum Act 1999 wurde dementsprechend geändert (jetzt Nationality, Immigration and Asylum Act 2002).

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Zu diesem früheren Fall muss die wohl wichtigste Unvereinbarkeitserklärung bezüglich des Anti-terrorism, Crime and Security Act 2001 gezählt werden. Hier ging es um die Inhaftierung von Ausländern, die ohne Gerichtsverhandlung gemäß den Bestimmungen des Anti-terrorism, Crime and Security Act 2001 vom Secretary of State als verdächtige Terroristen benannt werden.[117] Das Gesetz hatte dem Innenminister die Befugnis eingeräumt, Verdächtige auf unbestimmte Zeit zu internieren.[118] Der Attorney General verteidigte die Regierung dahingehend, dass die Richter gegen den Willen einer demokratischen Regierung gehandelt hätten. Lord Bingham argumentierte dagegen, dass der Human Rights Act 1998 den Gerichten ein genau festgelegtes, demokratisches Mandat zugewiesen habe.[119] Die Entscheidung ist verfassungsrechtlich insoweit bedeutsam, als es seit Inkrafttreten des Human Rights Act 1998 das erste Mal war, dass ein englisches Gericht ein Gesetz, welches der Exekutive so umfangreiche Befugnisse einräumt, für menschenrechtswidrig erklärte.[120] Bemerkenswert ist auch, dass das Gericht erstmals in einer Besetzung mit neun Richtern statt in der Besetzung mit fünf Richtern entschied. Mit einer Mehrheit von acht zu einer Stimme befand das House of Lords, dass der betreffende Abschnitt des Gesetzes nicht mit Art. 5 und 14 der EMRK vereinbar sei. Während des Gesetzgebungsverfahrens hatte die Regierung bereits erkannt, dass diese Maßnahmen nicht mit Art. 5 der EMRK übereinstimmen würden und derogierte insoweit gemäß Art. 15 die Konvention. Fraglich war jedoch, ob tatsächlich eine Notstandssituation vorlag, die eine solche Derogation rechtfertigte. Die Law Lords entschieden, dass diese Frage politischer Natur sei und die Gerichte in dieser Hinsicht nicht kompetent seien. Die zweite Frage bezog sich jedoch auf die Verhältnismäßigkeit der Derogation von Art. 5, die nur ausländische Verdächtige, die nicht deportiert werden konnten, betraf. Sie erachtete das House of Lords als eine Rechtsfrage und entschied, dass der Innenminister weniger einschneidende Maßnahmen als die Internierung der Verdächtigen hätte in Betracht ziehen müssen, die Überwachung etwa, und dass das Gesetz somit unverhältnismäßig sei. Auch sei die Unterscheidung zwischen ausländischen und britischen Verdächtigen diskriminierend und verstoße gegen Art. 14 EMRK. Seit den Londoner Terroranschlägen vom 7. Juli 2005 wird die Haltung der britischen höchsten Richter in der Belmarsh-Entscheidung kontroverser denn je bewertet. Einerseits wird befürchtet, dass die Inhaftierung von zehn ausländischen Verdächtigen als Vorbereitung zu deren Ausweisung ein Rückschritt in Bezug auf die in der Belmarsh-Entscheidung hochgehaltenen Freiheitsrechte sei;[121] andererseits warnt die konservative Presse davor, dass sich die Judikative nicht zu sehr in politische Fragen einmischen solle, wenn es um die nationale Sicherheit gehe.[122]

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Die geplanten Gesetzesvorhaben erfordern eine behutsame Balance zwischen Freiheit, Sicherheit und der Rolle des Staates. Der Innenminister hat bereits verschärfte administrative Maßnahmen verkündet, die Ausweisungen und Einreiseverbote für unerwünschte Ausländer erleichtern. So sind Abkommen mit vorwiegend arabischen Staaten geplant, die mit Blick auf Art. 3 EMRK sicherstellen sollen, dass Ausgewiesenen keine Folter droht. Diesbezüglich wird jedoch bereits befürchtet, dass solche Abkommen ohne die Überwachung durch internationale Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International wirkungslos seien.[123] Premierminister Tony Blair verkündete weitere neue Gesetzesvorschläge und eine eventuelle Änderung des Human Rights Act 1998.[124] Aufgrund der konkret gewordenen Bedrohung durch den totalitären Islamismus ist die vom Parlament geforderte Herstellung der Balance zwischen Freiheit und Sicherheit noch schwieriger geworden.

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Das Belmarsh-Urteil hatte praktische Konsequenzen, die in der Verabschiedung des neuen Prevention of Terrorism Act im März 2005 kulminierten, welcher einen Teil des Anti-terrorism, Crime and Security Act 2001 ersetzt. Darüber hinaus verdeutlicht der Fall, dass verfassungsrechtliche Fragen durch die Inkorporierung der Menschenrechte und die Einbeziehung der Gerichte nuancierter und komplizierter geworden sind.[125] Die Belmarsh-Entscheidung hat fundamentale Fragen in Bezug auf die Gewaltenteilung und den Schutz von Menschenrechten in Zeiten der Bedrohung aufgeworfen. Kritisiert wurde zum Beispiel die untergeordnete Rolle des Parlamentes in der Frage der Derogation. Obwohl der Innenminister dem Parlament noch Mitte Oktober 2001 versichert hatte, dass keine „unmittelbaren Beweise für eine besondere Bedrohung des Vereinigten Königreiches vorlagen“[126], benachrichtigte er wenig später den Europarat von der geplanten Derogation.[127]