Handbuch Ius Publicum Europaeum

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Durch den Human Rights Act 1998 wurde formell-rechtlich gesehen kein Verfassungsrecht geschaffen. Wie bereits ausgeführt, wurde den Gerichten jedoch eine wichtige Rolle bei der Überprüfung von Gesetzesrecht in Bezug auf die Vereinbarkeit mit Konventionsrechten übertragen. Gemäß Abschnitt 3 werden Gesetze so ausgelegt, dass sie, „soweit dies möglich ist“, mit der Konvention übereinstimmen. Wenn die Vereinbarkeit nicht zu erreichen ist, dann kann keine Interpretation vorgenommen werden. Der Zweck eines Gesetzes darf nicht verletzt werden. Falls jedoch zwei Interpretationen möglich sind, muss die konventionskonforme Auslegung gewählt werden. Diese Auslegungsregel, die sich auf vergangene und zukünftige Gesetze bezieht, ist mit enormer Flexibilität angewandt worden.[128] Die Regierung wollte den Gerichten aber keine Verwerfungskompetenz einräumen, weil dies dem Prinzip der Parlamentssouveränität entgegengestanden hätte.

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Den Gerichten die Kompetenz zu verleihen, Gesetze außer Kraft zu setzen, würde den Richtern eine Kompetenz über die Entscheidungen des Parlaments geben, die unter den heutigen verfassungsrechtlichen Bedingungen nicht möglich ist. Eine solche Kompetenz würde die Richterschaft mit Wahrscheinlichkeit in große Konflikte mit dem Parlament geraten lassen. Es gibt keine Anzeichen dafür, dass die Richterschaft dies wünscht, oder dass dies ein Wunsch der Öffentlichkeit wäre. Die gegenwärtige Regierung hat keine Befugnis, ein solches politisches Mandat zu gewähren.[129]

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Der Human Rights Act sieht in Abschnitt 10 und Anhang 2 jedoch ein Schnellverfahren vor, in dem durch delegierte Gesetzgebung, die von beiden Kammern im Parlament genehmigt wird, die Gesetze so abgeändert werden, dass sie konventionskonform werden. Es muss jedoch angemerkt werden, dass eine Unvereinbarkeitserklärung für die Parteien eines Rechtsstreits nicht bindend ist.[130] So wird die Souveränität des Parlaments erhalten. Die Gesetze des Schottischen Parlaments müssen mit der Konvention in Einklang stehen. Streitigkeiten werden an das Judicial Committee des Privy Council weitergeleitet, soweit schottische Gerichte den Streit nicht beigelegt haben. Gesetzesentwürfe des Schottischen Parlaments können zur Überprüfung der Vereinbarkeit mit der Konvention oder EU-Recht an den Privy Council weitergeleitet werden.

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Da England über kein Verfassungsgericht verfügt, sah es die Regierung als wichtig an, dass die Konventionsrechte umfassend und unmittelbar von allen Gerichten herangezogen werden können und die Rüge ihrer Verletzung nicht „auf eine Art Verfassungsgericht beschränkt blieb“[131]. Allerdings ist die Modernisierung der britischen Richterschaft und der traditionellen Rolle des Lordkanzlers seit Jahren sehr eingehend diskutiert worden.[132] Der Constitutional Reform Act 2005 beabsichtigt, die zwölf Law Lords, die im Moment im Appellate Committee des House of Lords sitzen, in einen neuen „Supreme Court“ zu überführen.[133] Dieser Teil des Constitutional Reform Act 2005 ist noch nicht in Kraft, da der neue Sitz für den Supreme Court, die Middlesex Guildhall, erst im Jahre 2008 bezugsfähig sein wird. Darüber hinaus sieht das Gesetz Reformen für die Richterwahl durch die Einsetzung eines Richterwahlausschusses und die Modizifierung der Position des Lordkanzlers vor. Vorgesehen ist weiterhin eine Reform des 400 Jahre alten Auswahlsystems für die Anwaltschaft (Queen’s Counsel). Geplant ist ein Bewertungssystem, welches den informalen Vorgang des „sounding out“, einer Art geheimen Diskussion von potentiellen Kandidaten für die Richterbank, ersetzen soll.[134] Die Pläne für die Schaffung eines Supreme Court sehen den Zusammenschluss des Appellate Committee des House of Lords und des Judicial Committee des Privy Council vor.[135] Ersteres ist momentan die letzte Instanz für die Gerichte in England, Wales und Nordirland und für Zivilrechtsfälle in Schottland. Der Privy Council ist ein Relikt der königlichen Prärogative und für Fälle aus Übersee und Fälle, die sich mit Dezentralisierungsfragen befassen, zuständig. Der neue Supreme Court wird von der Rechtsetzungsbefugnis des House of Lords getrennt sein und in ein anderes Gebäude ziehen.

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Es gibt allerdings nicht allzu viel Unterstützung für den Vorschlag zur Errichtung eines neuen Supreme Court. Die Hälfte der Law Lords ist dagegen, hat die Vorschläge als „schädlich“ und „unnütz“ bezeichnet und hält den Kostenaufwand für unverhältnismäßig.[136] Andere sind der Meinung, dass die Reformen nicht weit genug gehen.[137] Der neue Supreme Court werde keine Kompetenz zur Annullierung von Gesetzen erhalten, so dass Lord Woolf, der Lord Chief Justice of England and Wales, befürchtete, dass „among the Supreme Courts of the world, our Supreme Court will, because of its more limited role, be a poor relative. We will be exchanging a first class final court of Appeal for a second class Supreme Court“[138]. Ferner machte er darauf aufmerksam, dass die Flexibilität der traditionellen britischen Verfassung erhebliche Nachteile zeitigt: „We have never had the protection that a written constitution can provide for institutions that have a fundamental role to play in society“[139]. Lord Woolf gehört zu den prominentesten Befürwortern einer geschriebenen Verfassung, um die britische Verfassung vor weiteren rasanten Veränderungen zu bewahren.[140]

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Der offenkundige Trend zu einer stärkeren Verrechtlichung der Verfassung ist zum Teil auf den Druck zurückzuführen, der vom EGMR auf das Vereinigte Königreich ausgeübt worden ist, insbesondere basierend auf Art. 6 EMRK. In McGonnell v. UK[141] wurde entschieden, dass die Position des Deputy Bailiff of Guernsey mit Art. 6 EMRK inkompatibel war, da er als Richter und als Präsident des Parlaments tätig war, welches das fragliche Gesetz beschlossen hatte. Im Fall Starrs v. Ruxton[142] entschied der High Court of Justiciary, dass die Position des Temporary Sheriff (Richter in Schottland, der von der Exekutive auf Zeit ernannt wird), nicht dem Kriterium der Unabhängigkeit im Sinne von Art. 6 der Konvention entsprach. Bemerkenswert ist ferner, dass der britische Verfassungswandel von einem zunehmenden Interesse an anderen europäischen Rechtsordnungen begleitet ist.[143] Das Consultation Paper von 2003 verdeutlichte jedoch, dass das neue höchste Gericht nicht mit dem US Supreme Court oder dem deutschen Bundesverfassungsgericht vergleichbar sein soll.[144] Der logische Schritt zum Aufbau eines Verfassungsgerichts wäre sicher die Akzeptanz einer geschriebenen Verfassung und deren Anerkennung als höherrangiges Recht. Anders als in der deutschen Verfassungsgeschichte ist jedoch das Wachstum der englischen Verfassung immer organisch gewesen.[145] Das Vereinigte Königreich wird deshalb auch insoweit seinen eigenen Weg gehen. Trotz einiger Unzufriedenheit mit dem Gesetz bezüglich der kaum veränderten Kompetenzen des neuen Gerichts ist die Einwirkung einer solchen Reform auf den altehrwürdigen Teil der Verfassung des Vereinigten Königreiches nicht zu unterschätzen.

3. Bedeutung der EMRK für das nationale Verfassungsrecht

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In ihrem White Paper „Rights Brought Home: The Human Rights Bill“[146] hat die Regierung dargelegt, warum das „Modell“ von Abschnitt 2 Abs. 1 des European Communities Act 1972 nicht auf den Human Rights Act 1998 übertragen wurde.[147] Sie betonte die Schwierigkeiten mit der Europäischen Konvention für Menschenrechte. Es gab erhebliche Verzögerungen bis zum Inkrafttreten des Gesetzes, da die Behörden und die Richterschaft sich auf die Implikationen des Human Rights Act vorzubereiten hatten. Die Regierung sah jedoch die Inkorporierung auch als einen vorteilhaften Schritt an, weil der Human Rights Act britischen Richtern dazu verhelfen würde, „einen britischen Beitrag zur Entwicklung der Menschenrechte in Europa zu leisten.“[148] Die Regierung akzeptierte darüber hinaus, dass die Art und Weise, in der der Gesetzgeber die EMRK in der Vergangenheit behandelt hatte, nicht zur Weiterentwicklung der Menschenrechtsjurisprudenz beigetragen hatte. Mit dem Human Rights Act wurde dagegen die Möglichkeit eröffnet, dass die britische Menschenrechtsrechtsprechung in Zukunft auch ausländischen Gerichten als Inspiration dienen könnte. Britische Richter haben jedenfalls die Jurisprudenz des EGMR beeinflusst und bereichert. Hinweise auf einen derartigen Dialog zwischen englischen Gerichten und dem EGMR gibt es schon in Entscheidungen, die kurz vor Inkrafttreten des Human Rights Act 1998 gefällt wurden.[149] In Barrett v. Enfield[150], einem wichtigen Staatshaftungsfall, der im Lichte der Osman v. UK[151]-Entscheidung vom House of Lords entschieden wurde, setzte sich das englische oberste Gericht kritisch mit der diesbezüglichen Rechtsprechung des EGMR zu Art. 6 EMRK auseinander. Im Fall Z v. UK[152] gestand der EGMR sodann ein, dass die Interpretation von Art. 6 im Fall Osman auf einem Verständnis des englischen Staatshaftungsrechts basierte, welches nach den Erläuterungen durch das House of Lords überdacht werden müsse.[153]

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Die Beziehung zwischen der britischen Jurisprudenz und der des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte steckt zwar noch in „Kinderschuhen“[154], aber die Fälle Diane Pretty[155] und Alconbury[156] zeigen, dass britische Argumente im EGMR breite Unterstützung finden, wenn nicht sogar dazu beitragen, die Interpretation durch den Gerichtshof weiterzuentwickeln. Wie bereits ausgeführt, war das House of Lords im Fall Alconbury mit der Frage befasst, ob das englische Bauplanungsverfahren mit Art. 6 EMRK vereinbar war. Im Einklang mit der Rechtsprechung des EGMR gelangte es zu der Überzeugung, dass das Judicial Review-Verfahren dem Erfordernis eines umfangreichen Rechtsschutzes genüge. Hierbei machte das House of Lords detaillierte Ausführungen zur Kontrolldichte im Verwaltungsgerichtsverfahren, welche die Analyse des EGMR in vorangegangenen Fällen überstiegen.[157] Obwohl die Unvereinbarkeitserklärung aufgehoben wurde, hat dieses Urteil wichtige Aspekte des englischen Verwaltungsrechtsschutzes dargelegt. Auch in dem tragischen Fall Diane Pretty, in dem die Klägerin vor dem EGMR kurz vor ihrem Tod mit dem Begehren scheiterte, dass ihr Ehemann sie ungestraft töten dürfe – sie hatte seit Jahren an der unheilbaren Nervenkrankheit Amytrophe Lateralsklerose (ALS) gelitten – liefen die Wertungen parallel. Das House of Lords hatte entschieden, dass Art. 2 EMRK keine Garantie für die Beendigung des Lebens enthalte. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte kam zu derselben Schlussfolgerung und stützte sein Urteil auf Lord Binghams Ausführungen.[158]

 

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Es ist evident, dass der Human Rights Act 1998 die Menschenrechtsdebatte im Vereinigten Königreich belebt hat. Dies trifft insbesondere auf den Rechtsstreit zu, in dem das House of Lords entschied, dass von Polizei und Sicherheitspersonal unter Folter erzwungene Aussagen vor Gericht nicht verwertbar sind, da dies gegen das englische Common Law und internationales Recht verstoße.[159] In britischen Gerichten ist es nun anerkannt, dass der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte bei der Anwendung des Human Rights Act Rechnung getragen werden sollte. Im Fall R (on the application of Ullah) v. Special Adjudicator führte Lord Bingham aus: „[...] the meaning of the Convention should be uniform throughout the states party to it. The duty of national courts is to keep pace with the Strasbourg jurisprudence as it evolves over time: no more, but certainly no less.“[160] Ebenso führte Lord Steyn im Fall R v. Chief Constable of the South Yorkshire Police aus, dass Art. 8 Abs. 1 in Bezug auf die Einbehaltung von Fingerabdrücken und Gewebeproben „im Geltungsbereich der Konvention einheitlich zu interpretieren“ sei.[161]

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Der Human Rights Act 1998 ist jedoch nicht ohne Kritik geblieben. Einer Meinung nach hat er die Richter dazu animiert, in rein politische Bereiche vorzustoßen und politische Urteile zu fällen, als ob sie demokratisch gewählt wären. Vor allem Lord Hoffmann äußerte im Fall R (Alconbury Development Ltd and Others) v. Secretary of State for the Environment, Transport and the Regions[162], dass der Human Rights Act nicht beabsichtige, die „rule of lawyers“, sondern die „rule of law“ zu stärken. Die europafeindlichen Medien stellten den Human Rights Act als Schutz für die Minderwertigen, Egozentriker und Streitsüchtigen dar. Die konservative Opposition hatte eine Überprüfung des Human Rights Act angekündigt, falls sie 2005 die Wahl gewinnen würde; es wurde sogar seine Abschaffung diskutiert. Andere sind der Ansicht, der Human Rights Act habe wenig zu einer Verbesserung des Menschenrechtsschutzes beigetragen. Kurz vor der Belmarsh-Entscheidung des House of Lords wurde auch die sich der Exekutive unterordnende konservative Haltung der Richter kritisiert.[163] Weitere Kritikpunkte betrafen die unterschiedlichen Ansätze verschiedener Richter in Menschenrechtsfragen, von denen einige kreativer seien als andere.[164]

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Es besteht jedoch kein Zweifel, dass die Rechtsprechung zum Human Rights Act bereits Teil des Common Law geworden ist.[165] Ein kompletter Widerruf des Human Rights Act ist deshalb wahrscheinlich unmöglich. Der Human Rights Act ist ein Parlamentsgesetz, welches eine legitime Rolle für den gerichtlichen Schutz von Menschenrechten in einem demokratischen Rahmen vorsieht und die Rolle der Richter im Verhältnis zu Parlament und Regierung substantiell gestärkt hat.

Erster Teil Offene Staatlichkeit › § 17 Offene Staatlichkeit: Großbritannien › IV. Verfassungsrechtliche Konzeption der europäisierten nationalen Verfassung

IV. Verfassungsrechtliche Konzeption der europäisierten nationalen Verfassung

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Es gibt unterschiedliche Ansätze, die europäisierte nationale Verfassung verfassungsrechtlich zu konzeptionalisieren. Der britische Ansatz ist in erster Linie in der Abstimmung unserer auf der Souveränität des Parlaments beruhenden verfassungsrechtlichen Tradition mit der europäischen Ordnung zu sehen. Dies bezieht sich vor allem auf zwei Aspekte: die Mitgliedschaft in der Europäischen Union und die Inkorporierung der Europäischen Konvention für Menschenrechte durch den Human Rights Act 1998. Beides hatte enorme Wirkungen auf unsere Rechtsordnung. Hier waren sie deutlicher zu spüren als auf politischer Ebene.[166] Unsere Verfassung ist politisch fundiert, sieht sich aber zunehmend gerichtlichen Rechtmäßigkeitsanforderungen ausgesetzt. Dies wäre ohne die geschilderte Europäisierung nicht möglich gewesen. Diese Europäisierung der Verfassung gelang im Vereinigten Königreich möglicherweise einfacher als in anderen Mitgliedstaaten, da Großbritannien keine geschriebene Verfassung besitzt. Die verfassungsrechtliche Entwicklung Großbritanniens vollzieht sich vor diesem Hintergrund heute mehr denn je von einer politischen zu einer normativen Verfassungskonzeption.

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Wie dargestellt, hat die europäische Integration das britische Verfassungsrecht entscheidend geprägt. Dies hat die Entwicklung hin zu einer Verfassung mit rechtlicher Bindungswirkung beschleunigt. Das Verhältnis zwischen der Judikative und der Legislative ist durch die Mitgliedschaft in der Europäischen Union und durch den verstärkten Schutz der Menschenrechte verändert worden. Aufgrund dieser Faktoren musste das Prinzip der Parlamentssouveränität neu überdacht werden. Durch Gesetzgebung ist dieser Entwicklung Geltung verliehen worden und die Gerichte sind nun in der Lage, Gesetze auf ihre Vereinbarkeit mit Gemeinschaftsrecht oder Menschenrechtsgarantien hin zu überprüfen.

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Großbritannien hat lange die Reputation eines schwierigen Partners in Europa gehabt. Dies liegt unter anderem daran, dass sich aus verfassungsrechtlicher Sicht die „Mentalität“[167] des britischen Rechtssystems nicht so leicht in die Europäische Verfassungskonzeption einfügen lässt. Es ist daher für viele britische Juristen und Politiker schwierig, die verfassungsrechtliche Konzeption einer europäisierten nationalen Verfassung zu analysieren. Die theoretische Aufarbeitung des Einflusses der Mitgliedschaft in der Europäischen Union auf das Prinzip der Parlamentssouveränität ist von den Gerichten nur vereinzelt vorgenommen worden. Dies entspricht der langjährigen Tradition der britischen Verfassungslehre, zumindest im Bereich der Parlamentssouveränität.[168]

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Die Gerichte haben ihr Äußerstes getan, der Mitgliedschaft in der Europäischen Union und den Auswirkungen derselben im Rahmen eines modifizierten Verständnisses der Parlamentssouveränität gerecht zu werden. Unterschiedliche Ansätze in der rechtstheoretischen Behandlung dieser Fragen sind auf die grundsätzlich unterschiedlichen Verfassungstraditionen in Großbritannien und Staaten mit geschriebenen Verfassungen zurückzuführen. Bereits der technisch anmutende Unterschied in der Zitierweise von Urteilen in Großbritannien und Deutschland weist auf tiefer liegende Unterschiede in der Verfassungsstruktur hin. Dies veranschaulicht die Übersetzung der deutschen Maastricht-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes[169] in der Common Market Law Review als Brunner v. European Union Treaty.[170] Das Fehlen einer Verfassungsgerichtsbarkeit in England erklärt den traditionell persönlicheren Stil, der die Aufgabe des Richters als Schlichter eines Rechtsstreites zwischen zwei Parteien widerspiegelt.

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Die Entscheidung im Fall Thoburn v. Sunderland hingegen ist außergewöhnlich, weil das Gericht hier erstmalig eine abstrakte Analyse der Auswirkungen des Europarechts auf die britische Verfassung vornimmt. Insgesamt gesehen hat das britische Verfassungsrecht Anpassungsfähigkeit bewiesen; es wird jedoch weiterhin in materiellrechtlichen und stilistischen Fragen Einfluss ausüben. Der Einfluss des Common Law-Systems auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte wird erheblich sein.[171]

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Der Urteilsstil der britischen Richter, die die Parameter der britischen Verfassung verfeinern, ist viel bewundert worden: Die analytische und induktive Technik des Richters im Common Law-System könnte eine Bereicherung für den kontinentalen Rechtsstil sein.[172]

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Die Haltung der britischen Regierung zum Europäischen Verfassungsvertrag ist positiv, und in ihrem White paper on the Treaty establishing a Constitution for Europe (Informationsbericht) werden denn auch dessen Vorteile in einer allgemein zugänglichen Form dargestellt.[173] Das Vorwort des Außenministers reflektiert diese positive Stimmung: Die Verfassung reformiert die erweiterte Union, um sie effizienter, effektiver und offener zu gestalten. Dies soll es der EU ermöglichen, sich auf Themen zu konzentrieren, die für die Unionsbürger wichtig sind, vor allem Wohlstand und Sicherheit auf unserem Kontinent. Der VVE macht andererseits deutlicher als je zuvor, dass die EU eine Union souveräner Staaten ist, die nur die Kompetenzen ausübt, die sie von ihren Mitgliedern erhalten hat (Art. I-11 Abs. 1 VVE).[174] Im April 2004 verkündete Tony Blair, dass es ein Referendum über den Europäischen Verfassungsvertrag geben werde, so dass es eine Entscheidung des Parlaments und des Volkes geben soll. Das Parlament muss auch den European Communities Act 1972 abändern. Es ist gleichwohl fraglich, ob der VVE der Mehrheit der Menschen in allen Details zugänglich ist. Der Ratifizierungsprozess im Vereinigten Königreich läuft dabei – unabhängig von den in Frankreich und den Niederlanden aufgetretenen Schwierigkeiten – in besonderer Weise Gefahr, von einer europafeindlichen Presse und politischen Gegnern durch Fehlinformation und Fehlinterpretationen überschattet zu werden.[175] Es bleibt daher eine schwierige Aufgabe für die Regierung, das Volk zu einer Zustimmung zu bewegen. Da es jedoch eine wichtige verfassungsrechtliche Entwicklung betrifft, erscheint es legitim, das Volk nach seiner Meinung zu fragen.

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Zurzeit liegt die Behandlung all dieser Fragen noch vor uns. Großbritanniens Zugehörigkeit zu Europa und der Einfluss der europäischen Rechtsordnung auf unser Rechtssystem ist unbezweifelt. Die Prinzipien unseres Rechts sind durch die Mitgliedschaft in der Europäischen Union stark beeinflusst worden – die Vorteile einer flexiblen Common Law-Verfassung sind jedoch weiterhin spürbar.

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