Handbuch Ius Publicum Europaeum

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Erster Teil Offene Staatlichkeit › § 18 Offene Staatlichkeit: Italien

Carlo Panara

§ 18 Offene Staatlichkeit: Italien

I.Einführung: Die Öffnung der italienischen Rechtsordnung für das Völkerrecht1 – 14

1.Theoretische Grundlagen1

2.Die Öffnung für das allgemeine Völkerrecht2 – 5

3.Die Öffnung gegenüber dem Völkervertragsrecht6 – 11

4.Die Lage nach der Verfassungsnovelle des Jahres 200112 – 14

II.Die Mitgliedschaft Italiens in den Europäischen Gemeinschaften und in der Europäischen Union15 – 57

1.Die europäische Frage im Kontext der Verfassunggebung und die nachfolgende politische Entwicklung15, 16

a)Die Verfassunggebung15

b)Die weitere politische Entwicklung16

2.Die verfassungsrechtliche Grundlage der Mitgliedschaft Italiens in den Europäischen Gemeinschaften und in der Europäischen Union17 – 19

3.Europarecht und nationales Recht: Die Entwicklung der Judikatur des italienischen Verfassungsgerichts20 – 36

a)Zunächst: Reiner Dualismus21, 22

b)Später: Zunehmend moderater Dualismus23 – 33

aa)Die Frage der unmittelbaren Geltung der europarechtlichen Normen in der nationalen Rechtsordnung28 – 30

bb)Ausnahmefälle, in denen die Feststellung der Verfassungsmäßigkeit durch das Verfassungsgericht weiterhin zulässig ist31

cc)Der nur indirekte Dialog zwischen dem Verfassungsgericht und dem EuGH32, 33

c)Die so genannte „controlimiti“-Lehre34 – 36

4.Die Verfassungsnovelle des Jahres 2001 und ihre Folgen37 – 43

5.Grundfragen der italienischen Mitgliedschaft in der Europäischen Union44 – 57

a)Der Machtverlust des nationalen Gesetzgebers44 – 56

aa)Der Machtverlust des nationalen Parlaments44 – 48

bb)Die Metamorphose der Garantiefunktionen: Gesetzesvorbehalt und Legalitätsprinzip49

cc)Der Machtverlust der Regionen50 – 56

b)Grundrechte und Grundprinzipien der Verfassung57

III.Verfassungsrecht und EMRK58 – 62

1.Einführung: Die Menschenrechte in der italienischen Verfassung58

2.Der Rang der EMRK in der nationalen Normenhierarchie59, 60

a)Die EMRK als völkerrechtlicher Vertrag59

b)Die Lage nach der Verfassungsnovelle des Jahres 200160

3.Die Rolle der EMRK und der Rechtsprechung des EGMR in der Rechtsprechung der Fachgerichte und des Verfassungsgerichts61, 62

a)Die Anerkennung der unmittelbaren Anwendbarkeit der EMRK61

b)Die Rolle der EMRK und der Rechtsprechung des Straßburger Gerichtshofs vor den Fachgerichten und der Corte costituzionale62

IV.Schlussbemerkungen63 – 67

Bibliographie

Erster Teil Offene Staatlichkeit › § 18 Offene Staatlichkeit: Italien › I. Einführung: Die Öffnung der italienischen Rechtsordnung für das Völkerrecht

I. Einführung: Die Öffnung der italienischen Rechtsordnung für das Völkerrecht

Übersetzt von Dr. Karin Oellers-Frahm; redaktionell bearbeitet von Fabian Kahlert und Dr. Ferdinand Wollenschläger. Abkürzung in Ergänzung zu dem Beitrag von Mario Dogliani und Cesare Pinelli, § 5 Grundlagen und Grundzüge staatlichen Verfassungsrechts: Italien: col.colonna (Spalte).

1. Theoretische Grundlagen

1

Italien folgt der traditionellen Auffassung, wonach die Regeln des Völkerrechts nicht ohne Weiteres im nationalen Recht unmittelbar anwendbar sind. Die innerstaatliche Anwendbarkeit von Regeln des Völkerrechts erfordert die Umsetzung in nationales Recht, die im Wege unterschiedlicher Umsetzungsverfahren erfolgt. Die Regeln des Völkerrechts gelten in der italienischen Rechtsordnung nicht als solche. Es gelten vielmehr allein die innerstaatlichen Normen, die diese umsetzen. Das hat zur Folge, dass der Rang der völkerrechtlichen Regeln in der nationalen Normenhierarchie grundsätzlich dem Rang der Rechtsquelle entspricht, mit der die Umsetzung erfolgt ist. [1]

2. Die Öffnung für das allgemeine Völkerrecht

2

Art. 10 Abs. 1 Cost. schreibt die so genannte „automatische“ Anpassung der nationalen Rechtsordnung an die allgemein anerkannten Regeln des Völkerrechts vor.[2] Das bedeutet, dass von dem Augenblick an, in dem in der internationalen Rechtsordnung eine allgemeine Regel des Völkerrechts entsteht, der „ständige Transformator“ in Art. 10 Abs. 1 eine nationale Norm mit entsprechendem Inhalt generiert, die im nationalen Recht so lange Geltung hat wie die entsprechende völkerrechtliche Regel in der internationalen Rechtsordnung.

3

Nach der h.L. und der Judikatur des Verfassungsgerichts gehören zur Kategorie der allgemein anerkannten Regeln des Völkerrechts sowohl das Völkergewohnheitsrecht als auch die allgemeinen, den staatlichen Rechtsordnungen gemeinsamen Rechtsprinzipien; Völkervertragsrecht ist jedoch nach h.M. vom Anwendungsbereich des Art. 10 Abs. 1 Cost. ausgeschlossen.

4

Die nationalen Ausführungsnormen allgemeiner Regeln des Völkerrechts, die auf der Grundlage von Art. 10 Abs. 1 Cost., d.h. einer Verfassungsbestimmung, in der nationalen Rechtsordnung in Kraft treten, haben, wie bereits erwähnt, im innerstaatlichen Recht grundsätzlich den gleichen Rang wie die Umsetzungsnorm, also Verfassungsrang. Die Ausführungsnormen der allgemein anerkannten Regeln des Völkerrechts können folglich sogar Bestimmungen der Verfassung aufheben, mit Ausnahme der grundlegenden Prinzipien der Verfassung, die in keinem Fall derogiert werden können.[3] Sie haben Vorrang vor einfachen Gesetzen. Infolgedessen ist ein einfaches Gesetz, das im Widerspruch zu einer Ausführungsnorm einer allgemeinen Regel des Völkerrechts steht, wegen einer mittelbaren Verletzung von Art. 10 Abs. 1 Cost. verfassungswidrig.[4]

5

Die soeben dargelegte Rechtsfigur der Verletzung einer Bezugsnorm (parametro interposto) zwischen Verfassung und Gesetz wird in diesem Beitrag mehrfach auftauchen und soll daher an dieser Stelle erläutert werden. Sie beschreibt den Fall, in dem die Verfassung bestimmt, dass Gesetze eine Norm zu beachten haben, die an sich keinen Verfassungsrang hat. In diesen Fällen, die in der italienischen Verfassung relativ häufig sind, führt die Verletzung der zwischengeschalteten Bezugsnorm zu einer indirekten oder mittelbaren Verletzung der Verfassung.

 

3. Die Öffnung gegenüber dem Völkervertragsrecht

6

Die Anpassung an völkerrechtliche Verträge findet hingegen nicht automatisch auf der Grundlage einer verfassungsrechtlichen Bestimmung statt, sondern verlangt jeweils einen besonderen innerstaatlichen Transformationsakt. Die Transformation erfolgt im Allgemeinen entweder durch den Erlass von Regeln, die die Neuerungen oder die zur Umsetzung der internationalen Verpflichtung erforderlichen Änderungen direkt in die nationale Rechtsordnung einführen (das sog. ordentliche Verfahren der Umsetzung) oder, häufiger, durch einen Anwendungsbefehl, der üblicherweise in dem Gesetz enthalten ist, mit dem das Parlament gemäß Art. 80 der Verfassung den Präsidenten der Republik zur Ratifikation des Vertrages ermächtigt (das sog. besondere oder spezielle Verfahren der Umsetzung).

7

Den Umsetzungsnormen völkerrechtlicher Verträge wurde traditionell dieselbe aktive und passive Wirkungskraft in der nationalen Normenhierarchie zuerkannt wie anderen Gesetzen auch. Das bedeutete, dass sie nicht anders als diese aktiv andere gleichrangige Normen aufheben und passiv der Aufhebung durch rangniedrigere Normen widerstehen konnten. Vor der Verfassungsreform von 2001 galt dementsprechend das Prinzip lex posterior derogat legi priori, das im Konfliktfall zwischen einfachgesetzlichen Umsetzungsnormen und späteren einfachgesetzlichen Bestimmungen, die nicht die Umsetzung einer Änderung des Vertrages auf der internationalen Ebene zum Inhalt hatten, aber die die Regelungsmaterie des umgesetzten völkerrechtlichen Vertrages betrafen, grundsätzlich anwendbar war. Die Folge dieses Ansatzes war, dass spätere Gesetze in Widerspruch zu vorhergehenden Normen der Vertragsumsetzung stehen konnten, was eine Völkerrechtsverletzung des italienischen Staates bedeuten konnte. Aus diesem Grund haben sowohl die Verfassung ausdrücklich für bestimmte Verträge als auch die Rechtsprechung der Fachgerichte in besonderen Fällen den Anwendungsbereich des Prinzips lex posterior derogat legi priori begrenzt.

8

Die einzigen ausdrücklich in der Verfassung genannten Verträge sind die Konkordate zwischen dem italienischen Staat und dem Heiligen Stuhl (Art. 7 Abs. 2 Cost.) sowie Verträge über die Rechtsstellung der Ausländer (Art. 10 Abs. 2 Cost.). Ein einfaches Gesetz, das Bestimmungen zur Umsetzung eines Konkordats oder zur Umsetzung eines Vertrages über die Rechtsstellung von Ausländern widerspricht, wäre daher wegen indirekter Verfassungsverletzung rechtswidrig.

9

Die Begrenzung des lex posterior-Prinzips durch die Fachgerichte wurde oft dadurch erreicht, dass das Kriterium der Spezialität ratione materiae bzw. ratione personarum (lex specialis derogat legi generali) herangezogen wurde, um die früheren Normen aus völkerrechtlicher Quelle an Stelle der späteren nationalen Gesetze anwenden zu können, oder es wurde versucht, dieses Ziel durch eine völkerrechtskonforme Auslegung zu erreichen. Mit einem isoliert gebliebenen und in der Doktrin heftig kritisierten Urteil zur EMRK hat dann das Verfassungsgericht (Corte costituzionale) die einfachgesetzlichen Normen zur Anpassung an völkerrechtliche Verträge als „Ausdruck einer atypischen Kompetenz“ beschrieben und damit jedenfalls im konkreten Fall den Vorrang der früheren Anpassungsnormen vor späteren nationalen Normen anerkannt.[5] Außerdem sind einfache Gesetze zur Durchführung völkerrechtlicher Verträge nach ständiger Rechtsprechung des Verfassungsgerichts von der Möglichkeit der Aufhebung durch den in Art. 75 Abs. 2 der Verfassung vorgesehenen Volksentscheid ausgeschlossen.[6] Für die Gesetzgebungszuständigkeit der Regionen galt die Schranke der internationalen Verpflichtungen schon vor der Verfassungsnovelle von 2001,[7] mit der bedeutenden Folge, dass es regionaler Gesetzgebung im Unterschied zur staatlichen Gesetzgebung nicht möglich war, Bestimmungen zu erlassen, die im Widerspruch zu Verpflichtungen aus völkerrechtlichen Verträgen stehen; derartige regionale Gesetze wären verfassungswidrig.[8]

10

Der Gesamtkomplex der Öffnung der italienischen Verfassung für die internationale Zusammenarbeit findet seine „Krönung“ und seinen deutlichsten Ausdruck schließlich in Art. 11 Cost., der, wie unten noch detailliert dargelegt wird, als die zentrale Bestimmung der Verfassung für die Beziehungen zwischen der nationalen Rechtsordnung und der Gemeinschaftsrechtsordnung anzusehen ist. Art. 11 Cost., der vor allem den Beitritt Italiens zur UNO ermöglichen sollte, bestimmt, dass Italien „den Krieg als Mittel des Angriffs auf die Freiheit anderer Völker und als Mittel zur Lösung internationaler Streitfragen“ verwirft und dass es „[…] unter der Bedingung der Gleichstellung mit den anderen Staaten Souveränitätsbeschränkungen [zustimmt], die für die Ordnung notwendig sind, welche den Frieden und die Gerechtigkeit unter den Nationen gewährleistet“ und internationale Organisationen, die diesem Zweck dienen, fördert und begünstigt.

11

Mit Bezug auf das sekundäre Völkerrecht besteht die herrschende Orientierung der Praxis in dem Erlass von Ad hoc-Akten zur Anpassung der italienischen Rechtsordnung. Der Anwendungsbefehl für den zugrunde liegenden völkerrechtlichen Vertrag wird demnach nicht für ausreichend gehalten, um gleichzeitig auch die Anpassung des nationalen Rechts an alle nachfolgenden Akte des sekundären Vertragsrechts sicherzustellen. Allerdings gibt es in der Lehre einen maßgeblichen Ansatz, der die Anpassung an den zugrunde liegenden Vertrag als ausreichend und die spezielle Anpassung an die einzelnen Sekundärakte als überflüssig ansieht.[9] Das Problem dieses Ansatzes liegt darin, dass man allein mit einem einfachen Gesetz bzw. genauer: mit dem in einem einfachen Gesetz enthaltenen Anwendungsbefehl bezüglich eines völkerrechtlichen Vertrages keine mit diesem Gesetz konkurrierenden Rechtsquellen einführen könnte.[10] Das Gesetz zur Umsetzung eines Vertrages zur Gründung einer internationalen Organisation kann folglich bei Fehlen einer expliziten oder zumindest impliziten Grundlage in der Verfassung nicht genügen, um den Eingang der von dieser Organisation erlassenen Normen in die italienische Rechtsordnung zu rechtfertigen; daher ist es erforderlich, die Umsetzung der sekundären Rechtsakte jeweils durch ein gesondertes Gesetz oder einen anderen innerstaatlichen Akt vorzunehmen. Dieser Auffassung widerspricht es, dass die Anwendung von Art. 11 Cost., dessen Heranziehung zur Rechtfertigung der automatischen Umsetzung des sekundären Völkerrechts, einschließlich des sekundären Rechts der UNO, abgelehnt worden ist, gebilligt wird, um den Eingang von sekundärem Gemeinschaftsrecht in die italienische Rechtsordnung zu bewirken, das, außer zur Durchführung und Spezifizierung, i.d.R. keinen internen Akt zur Umsetzung erfordert, ja ihn sogar verbietet.

4. Die Lage nach der Verfassungsnovelle des Jahres 2001

12

Im Jahre 2001 wurden verschiedene Artikel über die Regionen und die lokalen Körperschaften in Titel V der Verfassung durch Verfassungsgesetz Nr. 3 vom 18.10.2001 geändert. Dabei wurde u.a. Art. 117 Abs. 1 Cost. über die Grenzen der staatlichen und regionalen Gesetzgebung neu gefasst. Der neue Art. 117 Abs. 1 Cost. zählt zu diesen Schranken neben der „Beachtung der Verfassung“ nunmehr auch die „sich aus dem Gemeinschaftsrecht und internationalen Verpflichtungen ergebenden Bindungen“.

13

Infolgedessen können die nationalen Umsetzungsnormen nach h.L. nicht mehr durch spätere einfache Gesetze geändert bzw. aufgehoben werden, da Umsetzungsnormen nach der Verfassungsänderung als Bezugsnormen (parametro interposto) für die Verfassungsmäßigkeit späterer einfacher Gesetze anzusehen sind: Eine Verletzung dieser Bezugsnormen stellt also eine mittelbare Verletzung von Art. 117 Abs. 1 Cost. dar.[11] Dennoch kommt den Umsetzungsnormen in der nationalen Normenhierarchie kein Verfassungsrang zu. Sie behalten weiterhin den Rang der Rechtsquelle, die die Anpassung an die völkerrechtlichen Verpflichtungen bewirkt. In der Regel handelt es sich dabei um einfache Gesetze, die, wie auch alle anderen Normen, alle Verfassungsbestimmungen und nicht nur die Grundprinzipien der Verfassung zu beachten haben.[12] Die Bedeutung der Erklärung der Verfassungswidrigkeit sollte jedoch nicht überbewertet werden, da sie nur in außergewöhnlichen Fällen zum Tragen kommt, nämlich dann, wenn der Normenkonflikt nicht durch den Rückgriff auf hermeneutische Instrumente, wie die völkerrechtskonforme Auslegung des nationalen Rechts oder die Anwendung des Grundsatzes der Spezialität, zu lösen ist.[13] Das heißt nicht, dass die Umsetzungsgesetze (und ganz allgemein die internen Anpassungsnormen) Rechtsquellen mit verstärkter passiver Wirkungskraft sind, deren Vorrang vor späteren Gesetzen von jedem Richter festgestellt werden könnte: Wenn der Konflikt nicht im Wege der Auslegung ausgeräumt werden kann, muss der Richter das Verfahren aussetzen und dem Verfassungsgericht die Frage des Normenkonflikts zur Entscheidung vorlegen.[14]

14

Die Umsetzungsgesetze völkerrechtlicher Verträge haben jedoch unmittelbaren Vorrang vor bereits bestehenden Gesetzen in Anwendung des Grundsatzes lex posterior derogat legi priori. Jeder Richter ist daher zuständig, die Aufhebung des früheren Gesetzes selbst festzustellen, ohne dass die Corte costituzionale zur Feststellung der inzwischen eingetretenen Verfassungswidrigkeit des Gesetzes eingeschaltet werden müsste. Der neue Art. 117 Abs. 1 Cost. bezweckt gerade eine Stärkung der Beachtung internationaler Verpflichtungen in der italienischen Rechtsordnung, so dass es widersprüchlich wäre, wenn der ordentliche Richter, der in der Vergangenheit die Aufhebung früherer Gesetze durch spätere Umsetzungsgesetze feststellen konnte, heute die Aufhebung nicht mehr feststellen könnte, nicht einmal, wenn der Normenkonflikt für ihn evident ist. Wenn jedoch der Konflikt zwischen einem Gesetz und dem Umsetzungsgesetz dem ordentlichen Richter nicht klar und eindeutig scheint, kann er sich heute – hier gilt das quid pluris im Vergleich zur früheren Regelung – an die Corte costituzionale wenden, um die Aufhebung des früheren Gesetzes zu erwirken.

Erster Teil Offene Staatlichkeit › § 18 Offene Staatlichkeit: Italien › II. Die Mitgliedschaft Italiens in den Europäischen Gemeinschaften und in der Europäischen Union

II. Die Mitgliedschaft Italiens in den Europäischen Gemeinschaften und in der Europäischen Union
1. Die europäische Frage im Kontext der Verfassunggebung und die nachfolgende politische Entwicklung

a) Die Verfassunggebung

15

Die Frage der Mitgliedschaft Italiens in den Europäischen Gemeinschaften als solche konnte schon aus zeitlichen Gründen kein Thema der Beratungen in der Verfassunggebenden Versammlung (Assemblea costituente) von 1946/47 sein. Allerdings war die Idee einer Kooperation der europäischen Staaten bereits damals Gegenstand der politischen Debatte und wurde auch in der Verfassunggebenden Versammlung angesprochen. Einige kleinere in der Verfassunggebenden Versammlung vertretene politische Parteien – die republikanische Partei (mitte-links) und die Aktionspartei (links) – hatten in ihren Programmen sogar die Bildung eines „europäischen Bundes“ vorgesehen.[15] Darüber hinaus fand in den Programmen aller in der Verfassunggebenden Versammlung vertretenen Parteien die Idee einer Öffnung des Staates zugunsten einer internationalen Zusammenarbeit und einer friedensorientierten Außenpolitik auch um den Preis möglicher Souveranitätsbeschränkungen Ausdruck, als Reaktion auf den engstirnigen Nationalismus und die aggressive Außenpolitik der faschistischen Zeit sowie als definitiver Abschied von dieser Politik.[16] Eine entsprechende allgemeine politische Orientierung hat vor allem in den schon erwähnten Art. 10 Abs. 1 und 11 Cost. Niederschlag gefunden. Art. 11 ist in die Verfassung vor allem aufgenommen worden – wie Wortlaut und Entstehungsgeschichte deutlich machen –, um den Beitritt Italiens zu den zukünftigen Vereinten Nationen zu ermöglichen. Die allgemeine Formulierung dieser Vorschrift eröffnete jedoch auch weitere Entwicklungsmöglichkeiten, über die sich der Verfassunggeber völlig im Klaren war. Das führte dazu, dass zwei Änderungsanträge abgewiesen wurden, die eine ausdrückliche Bezugnahme in Art. 11 auf die „europäischen internationalen Organisationen“ vorsahen. Die Ablehnung der Änderungsanträge wurde damit begründet, dass die „europäischen Organisationen“ in dem Oberbegriff „internationale Organisationen“ schon enthalten seien, so dass ihre ausdrückliche Erwähnung überflüssig sei.[17] Aus den vorhergehenden Bemerkungen kann man schließen, dass die europäische Frage zwar nicht im Mittelpunkt der Beratungen der Verfassunggebenden Versammlung über Art. 11 Cost. stand, dass aber trotzdem die noch ganz allgemeine Idee einer Vereinigung der europäischen Staaten und Völker im Hintergrund durchaus präsent war, zumal der von der Verfassunggebenden Versammlung gewählte Text des Art. 11 flexibel genug war, um die europäische Tür zu öffnen, und in nuce die Grundlage für eine weitere Öffnung der italienischen Rechtsordnung für die europäische Integration enthielt.

 

b) Die weitere politische Entwicklung

16

Italien gehört zu den Gründungsmitgliedern der Europäischen Gemeinschaften. Es hat den Vertrag von Paris zur Gründung der EGKS und die Verträge von Rom zur Gründung der EWG und Euratom umgehend ratifiziert, was u.a. auf die Initiative des großen Christdemokraten Alcide de Gasperi und die von ihm geführten Zentrumsregierungen zwischen 1948 und 1953 zurückzuführen ist. Wirtschaftliche und politische Gründe waren wesentlich für die Teilnahme Italiens am Prozess der europäischen Integration. Aus politischer Sicht war es das Anliegen Italiens, durch die Schaffung einer neuen Solidarität unter den Staaten inter-europäische Konflikte zu vermeiden und Italien damit nach der Niederlage im Zweiten Weltkrieg zu ermöglichen, seine Rolle im europäischen Konzert wieder zu finden.[18] Dies erklärt z.B. die Unterstützung Italiens für das letztlich gescheiterte Projekt einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG), d.h. für ein nicht vorrangig „wirtschaftliches“, sondern auch „politisches“ Europa, und den Vorschlag Italiens, der Niederschlag in Art. 38 des EVG-Vertrages von Mai 1952 gefunden hat, eine echte politische Gemeinschaft zu gründen (die Europäische Politische Gemeinschaft), Vorläufer eines europäischen Bundes. Aus wirtschaftlicher Sicht stellte für Italien die Schaffung eines gemeinsamen Marktes eine beispiellose Chance für die Entwicklung und Modernisierung der eigenen Wirtschaft dar, die durch die Einführung des Prinzips der Freizügigkeit im EWG-Vertrag zugleich ein Ventil für die Abwanderung aus Italien schuf.[19] Seit 1950 ist die Beteiligung Italiens am Prozess der Integration zum Eckpfeiler der italienischen Außenpolitik geworden und wurde nie von Regierung oder Parlament in Zweifel gezogen, auch nicht nach dem Zusammenbruch einiger, darunter der wichtigsten, Nachkriegsparteien zu Beginn der 1990er Jahre. Damit lässt sich auch aus Sicht der internen politischen Debatte die unspektakuläre Vornahme der verschiedenen Schritte der Integration im Laufe der 1980er Jahre (Einheitliche Europäische Akte von 1986), der 1990er Jahre (Vertrag von Maastricht von 1992, Vertrag von Amsterdam von 1997) und ab dem Jahre 2000 (Vertrag von Nizza, 2001) erklären. Diese Fortschritte im Prozess der Integration, einschließlich des Vertrags von Maastricht und des Vertrags über die Europäische Verfassung, sind von der Mehrheit der „politischen Klasse“ und der öffentlichen Meinung als weitere Schritte des in Paris und Rom eingeleiteten „unumkehrbaren Prozesses der Integration“ akzeptiert worden. In diesen Zusammenhang passt es, dass Italien der Ratifikation des Verfassungsvertrages mit Gesetz Nr. 57 vom 7.4.2005 bereits zugestimmt hat.