Handbuch Ius Publicum Europaeum

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b) Grundrechte und Grundprinzipien der Verfassung

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Auf mögliche Verletzungen der Grundrechte und Grundprinzipien der italienischen Verfassung hat das Verfassungsgericht durch die schon dargestellte „controlimiti“-Lehre reagiert, die der Anlass für den Schutz der Grundrechte durch den EuGH auf der Grundlage der Doktrin der allgemeinen Rechtsgrundsätze war. Die „controlimiti“-Lehre der Corte costituzionale hat den europäischen Integrationsprozess nicht behindert, sondern hat ihn, ganz im Gegenteil, gefördert, wobei der Schutz der Grundrechte durch den EuGH jedoch durch die Festlegung einiger unantastbarer, wenn auch sehr allgemeiner, inhaltlicher Grenzen beschränkt wurde.

Erster Teil Offene Staatlichkeit › § 18 Offene Staatlichkeit: Italien › III. Verfassungsrecht und EMRK

III. Verfassungsrecht und EMRK

1. Einführung: Die Menschenrechte in der italienischen Verfassung

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Die italienische Verfassung weist dem Schutz der Grundrechte bzw. der Menschenrechte eine zentrale Rolle zu. Das ergibt sich vor allem aus dem unter dem Titel „Grundprinzipien“ in der Verfassung angesiedelten Art. 2, wonach die Republik die unverletzlichen Rechte des Menschen „anerkennt“ – womit zum Ausdruck kommt, dass diese Rechte schon vorher bestanden haben und durch die Verfassung nur bestätigt werden – und „gewährleistet“[74]. Es ergibt sich außerdem aus dem umfassenden Katalog der Grundrechte in den Art. 13ff. Cost.

2. Der Rang der EMRK in der nationalen Normenhierarchie

a) Die EMRK als völkerrechtlicher Vertrag

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Wie schon erwähnt, hatten vor der Reform des Jahres 2001 völkerrechtliche Verträge in der nationalen Normenhierarchie den Rang der entsprechenden nationalen Umsetzungsnorm, d.h. allenfalls den Rang eines einfachen Gesetzes (die EMRK ist durch Gesetz Nr. 848 vom 4.8.1955 umgesetzt worden). Damit konnten sie, zumindest grundsätzlich, durch ein späteres einfaches Gesetz derogiert, geändert oder aufgehoben werden. Um dieses Risiko für den Schutz der Menschenrechte zu vermeiden, haben Lehre und Rechtsprechung außer den üblichen Techniken der völkerrechtsfreundlichen Auslegung (Auslegung im Einklang mit den völkerrechtlichen Verpflichtungen und Grundsatz der lex specialis) versucht, den nationalen Umsetzungsnormen dieser speziellen völkerrechtlichen Verträge höhere Bestandskraft einzuräumen als den Umsetzungsnormen anderer völkerrechtlicher Verträge. Alle vor der Reform des Jahres 2001 angestellten Versuche, Verträgen zum Schutz der Menschenrechte Verfassungsrang oder verfassungsähnlichen Rang beizulegen, sind jedoch vom Verfassungsgericht nicht übernommen worden oder in der Rechtsprechung vereinzelt geblieben. So lehnt die Corte costituzionale beständig die These ab, dass die EMRK und andere internationale Verträge zum Schutz der Menschenrechte in die „allgemein anerkannten Regeln des Völkerrechts“ nach Art. 10 Abs. 1 Cost. einbezogen werden können, an die sich, wie bereits dargestellt, die italienische Rechtsordnung automatisch anpasst. Denn – so die formale Begründung – völkerrechtliche Verträge zum Schutz der Menschenrechte als solche stellten internationales Vertragsrecht dar und könnten daher in keiner Weise in den Anwendungsbereich von Art. 10 Abs. 1 Cost. fallen.[75] Auch die Auslegung von Art. 2 Cost. als „Öffnungsklausel“, die die entsprechenden in internationalen Übereinkommen niedergelegten Menschenrechte mit Verfassungs- oder mit übergesetzlichem Rang einbeziehen kann,[76] ist von der Corte costituzionale nicht übernommen worden, auch wenn sie bisweilen zur Auslegung der Grundrechte der Verfassung auf internationale Menschenrechtsverträge zurückgreift; dabei hat sie jedoch noch nie den Verfassungsrang von in internationalen Verträgen niedergelegten Menschenrechten bestätigt.[77] Ebenso hat die Corte costituzionale die von einer Minderheit in der Lehre vertretene Auffassung nicht übernommen, die unter Rückgriff auf Art. 10 Abs. 2[78] oder Art. 11[79] Cost. den Umsetzungsnormen internationaler Menschenrechtsverträge die Bedeutung einer Bezugsnorm beilegt, so dass ihre Verletzung eine indirekte Verletzung der Verfassung darstellen würde. Das Verfassungsgericht hatte seinerseits in dem Urteil Mujanovic Nr. 10 vom 19.1.1993 festgestellt, dass die nationalen Umsetzungsnormen zu Art. 6 EMRK und Art. 14 IPbürgR von nachfolgenden einfachgesetzlichen Normen nicht aufgehoben bzw. geändert werden können, „weil es sich um Normen aus einer atypischen Quelle handelt“. Diese Feststellung findet sich aber nur in einem obiter dictum der Entscheidung und ist in der Judikatur des Verfassungsgerichts gänzlich isoliert geblieben. Der Kassationshof (Corte di Cassazione) hat dagegen die These vertreten, der Vorrang der EMRK vor kollidierendem nationalen Recht sei durch die „Vergemeinschaftung“ der EMRK gemäß Art. 6 Abs. 2 EU zu rechtfertigen, da dieser die EU verpflichte, die in der EMRK niedergelegten Menschenrechte – als allgemeine europarechtliche Prinzipien – zu beachten. Damit sei die EMRK in das Gemeinschaftsrecht inkorporiert worden. Auf der Grundlage dieser These käme der EMRK, wie dem Europarecht, Vorrang vor allen nationalen Normen zu.[80] Die h.L. lehnt diese Theorie jedoch ab.[81] Die Bindung an die EMRK könne nämlich auf der Grundlage von Art. 6 Abs. 2 EUV nur für Normen des sekundären Gemeinschaftsrechts gelten, so dass sich ein nationales Gericht bei Zweifeln an der Vereinbarkeit von Sekundärrechtsakten mit den Menschenrechten der EMRK, d.h. mit der Frage, ob Sekundärrecht die allgemeinen Prinzipien des Europarechts verletzt, im Wege der Vorabentscheidung gemäß Art. 234 lit. b EG an den EuGH wenden kann (im Fall der letztinstanzlichen Gerichte wenden muss), um die Nichtigerklärung der europarechtlichen Norm zu erreichen.

b) Die Lage nach der Verfassungsnovelle des Jahres 2001

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Der neue Art. 117 Abs. 1 Cost. weist – nach der hier vertretenen Meinung – den Umsetzungsnormen völkerrechtlicher Verträge Maßstabscharakter für die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit nationaler Normen zu. Es scheint jedoch nicht haltbar, Umsetzungsnormen bestimmter völkerrechtlicher Verträge, die die Menschenrechte schützen, wie z.B. die EMRK, auf der Grundlage von Art. 117 Abs. 1 Cost. den besonderen Status von Rechtsquellen mit besonderer Bestandskraft gegenüber späteren einfachen Gesetzen zuzuerkennen, so dass jedes Gericht über die Nichtanwendung derartiger Gesetze entscheiden kann.[82] Das wäre unvereinbar mit dem italienischen Verfassungssystem, da damit die inzidente Kontrolle der Vereinbarkeit nationaler Gesetze mit der EMRK durch die Fachgerichte verbunden wäre, was die Zuständigkeit und die Rolle des Verfassungsgerichts untergraben und die der Fachgerichte ausweiten würde, die zudem mangels eines Vorlageverfahrens vor den EGMR zur Auslegung der Bestimmungen der Konvention über eine völlig unbestimmte Kontrollbefugnis verfügen würden. Außerdem würden damit die Umsetzungsnormen der EMRK in der nationalen Normenhierarchie eine Stellung erhalten, die zum Teil jener der europarechtlichen Normen vergleichbar wäre, jedoch ohne eine entsprechende überzeugende verfassungsrechtliche Grundlage, die allein eine solche Souveranitätsbeschränkung Italiens rechtfertigen könnte. Man muss vielmehr weiterhin davon ausgehen, dass der Status der Umsetzungsnormen der EMRK (und anderer völkerrechtlicher Verträge zum Schutz der Menschenrechte) derselbe ist wie der der Umsetzungsnormen jedes anderen Vertrages: Allein das Verfassungsgericht kann daher spätere nationale, im Widerspruch zum Umsetzungsgesetz der EMRK stehende Gesetze prüfen und dabei, soweit möglich und verfassungsmäßig, die vom Straßburger Gerichtshof vertretene Auslegung übernehmen.[83] Der einzige Fall, in dem ein nationales Gericht eine Vorschrift der EMRK direkt anwenden könnte anstelle des mit dem Umsetzungsgesetz kollidierenden nationalen, auch späteren, Gesetzes, ist der, in dem ein bestimmtes Recht der EMRK in einer früheren Entscheidung des EuGH als allgemeines Prinzip der Gemeinschaftsrechtsordnung verstanden wurde; in diesem Fall wäre es aber, genau betrachtet, nicht die EMRK-Norm oder die entsprechende nationale Umsetzungsnorm, sondern ein allgemeines Prinzip des Gemeinschaftsrechts, das, da es unmittelbar in der nationalen Rechtsordnung gilt, Grundlage für die Nichtanwendung des nationalen Rechts wäre.[84]

3. Die Rolle der EMRK und der Rechtsprechung des EGMR in der Rechtsprechung der Fachgerichte und des Verfassungsgerichts

a) Die Anerkennung der unmittelbaren Anwendbarkeit der EMRK

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Im Zusammenhang mit der Anerkennung des self-executing-Charakters der EMRK, d.h. der Möglichkeit der direkten Anwendung der dort niedergelegten Rechte und Freiheiten durch die Gerichte, ist es zu einem Rechtsprechungskonflikt zwischen den verschiedenen Sektionen der Corte di Cassazione gekommen. Zunächst wurde der EMRK der self-executing-Charakter abgesprochen, insbesondere mit der Begründung, dass die Bestimmungen der EMRK als Vertragsbestimmungen nur die „Hohen Vertragsparteien“ binden können.[85] Ein anderer Ansatz stützte sich auf den self-executing-Charakter der Bestimmungen der EMRK mit Ausnahme derer, die zu allgemein gefasst waren, um direkt anwendbar zu sein. Dieser Ansatz wurde auf Art. 1 EMRK gestützt, der bestimmt, dass die Vertragsparteien dem Einzelnen die in der Konvention niedergelegten Rechte und Freiheiten „zusichern“ (und sie sich nicht nur „verpflichten, sie zu achten“, wie andere völkerrechtliche Verträge es vorsehen, u.a. auch der Pakt über bürgerliche und politische Rechte). Aus dieser „Zusicherung“ folge, dass „[…] im Innern jedes Staates der Schutz der Menschenrechte für den Einzelnen nicht indirekt gewährleistet ist über die Verpflichtung des Normadressaten, nämlich des Staates, sondern direkt, weil die Menschenrechte dem Einzelnen als Attribut seiner Persönlichkeit eigen sind, und die Konvention einerseits formal deren Existenz anerkennt [Art. 1 EMRK, Anm. d. Verfassers] und andererseits dem Einzelnen die Aktivlegitimation zu ihrer gerichtlichen Durchsetzung überträgt [Art. 13 EMRK, Anm. d. Verfassers]“[86]. Die Corte di Cassazione ist seit dem Urteil Polo Castro von 1989,[87] das diesen Rechtsprechungsstreit gelöst hat, dem zweiten der oben angeführten Ansätze gefolgt. Sie vertritt seit dieser Entscheidung in ständiger Rechtsprechung, dass die Bestimmungen der EMRK nach ihrer Umsetzung in innerstaatliches Recht grundsätzlich, d.h. mit Ausnahme derer, die zu allgemein gefasst sind, direkte Quelle von Rechten und Pflichten aller Rechtssubjekte sind, und dass folglich die entsprechenden Rechte und Pflichten vom Einzelnen vor nationalen Gerichten geltend gemacht werden können.[88] Es muss jedoch erwähnt werden, dass trotz dieser prinzipiellen Auffassung, die in allen Urteilen der Corte di Cassazione wiederholt wird, in denen es um die Anwendung der EMRK geht, in vielen Fällen, einschließlich der Leitentscheidung Polo Castro, für die einzelnen, im konkreten Fall erheblichen Bestimmungen der EMRK sehr häufig die direkte Anwendbarkeit verneint wurde.[89]

 

b) Die Rolle der EMRK und der Rechtsprechung des Straßburger Gerichtshofs vor den Fachgerichten und der Corte costituzionale

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Die Fachgerichte und die Corte costituzionale greifen häufig auf die sog. menschenrechtsfreundliche Auslegung der nationalen Bestimmungen zurück. Das geschieht vor allem mit Bezug auf den Wortlaut der Bestimmungen der EMRK und das „lebende Recht (diritto vivente)“, also das EMRK-Recht, wie der EGMR es interpretiert, obwohl sowohl die Corte di Cassazione als auch die Corte costituzionale noch nicht eindeutig geklärt haben, ob und inwieweit die Urteile des EGMR (und vor allem die gegen Italien ausgesprochenen Urteile) eine bindende Wirkung den Nationalgerichten gegenüber besitzen[90]. In diesem Zusammenhang muss man jedoch zwei Alternativen unterscheiden: Die erste ist die menschenrechtsfreundliche Auslegung der einfachen Gesetze (oder ggf. der untergesetzlichen Normen), die ohne weiteres mit dem allgemeinen Prinzip der völkerrechtskonformen Auslegung des nationalen Rechts vereinbar ist und demgemäß keine besonderen theoretischen Probleme aufwirft. Die andere hingegen ist die menschenrechtsfreundliche Auslegung bzw. Ergänzung der Verfassungsbestimmungen durch die Corte costituzionale unter Rückgriff auf Bestimmungen in Menschenrechtsverträgen.[91] In diesem Fall ergeben sich eine ganze Reihe theoretischer Probleme, da die Verfassung in der nationalen Normenhierarchie einen höheren Rang einnimmt als die Umsetzungsnormen internationaler Verträge, einschließlich der Menschenrechtsverträge. Damit entsteht also die Situation, dass die Verfassung im Licht einfacher Gesetze ausgelegt (oder sogar ergänzt) wird. Dies gilt insbesondere im Fall der EMRK, eines echten verfassungsexternen Rechtssystems, das über ein Gerichtsorgan verfügt, dessen Auslegungstätigkeit letztendlich die Auslegung der Verfassungsbestimmungen beeinflussen kann. Die Auslegung der Verfassung am Maßstab einfacher, auch nach der Verfassung in Kraft getretener Gesetze, wurde jedoch ohnehin bereits weitgehend vom Verfassungsgericht praktiziert, insbesondere vor der Verfassungsreform zur Föderalisierung im Jahre 2001, um den Umfang der Zuständigkeiten der Regionen zu bestimmen.[92] Auch wenn diese Praxis überwiegend akzeptiert wurde, so hat sie doch von einem nicht unerheblichen Teil der Lehre herbe Kritik erfahren, die eine Verletzung der Bestandskraft des Verfassungstextes für unerträglich hält, weil damit eine Änderung der Abgrenzung der Zuständigkeiten ohne Anwendung des erschwerten Verfahrens der Verfassungsänderung möglich wurde.[93] An der menschenrechtsfreundlichen Auslegung der Verfassung wird eine vergleichbare Kritik dagegen nicht geübt, obwohl auch sie die Bestandskraft der Verfassung abschwächt. Wie erklärt sich diese unterschiedliche Haltung der Lehre gegenüber einem wesentlich sensibleren Teil der Verfassung als der Aufteilung der Kompetenzen zwischen Staat und Regionen? Der Grund dürfte in der breiten Akzeptanz der Bedeutung der Menschenrechte in der italienischen Rechtslehre liegen, die einerseits wohl auf die große Bedeutung dieser Normen zurückzuführen ist,[94] die als Träger einer „progressiven“ Verfassungsentwicklung angesehen werden, und andererseits ihre „naturgegebene“ Begabung, die notgedrungen sehr allgemeinen Verfassungsbestimmungen über die Grundrechte zu ergänzen. Die EMRK (einschließlich des „lebenden Rechts“ der Rechtsprechung) und andere internationale Menschenrechtsverträge, die vor der Reform des Jahres 2001 keinen übergesetzlichen Rang einnahmen, sind de facto von der Verfassungsrechtsprechung und der Doktrin als integraler Bestandteil der „materiellen Verfassung“ des Staates angesehen worden, auch weil sie im Allgemeinen als eine Fortentwicklung der zumindest implizit in der Verfassung enthaltenen Prinzipien verstanden werden. Dabei darf nicht vergessen werden, dass die Auslegung der Verfassung nach Maßgabe der EMRK und der Rechtsprechung des EGMR Grenzen kennt, wonach in dem (eher unwahrscheinlichen) Fall eines unüberbrückbaren Widerspruchs zwischen (Umsetzungs-)Normen der EMRK und Verfassung letzterer Vorrang zukommt. Die menschenrechtsfreundliche Auslegung kann folglich akzeptiert werden, solange sie sich darauf beschränkt, in der Verfassung allgemein niedergelegte Bestimmungen fortzuentwickeln und zu spezifizieren; sobald sie in Widerspruch zur Verfassung stünde, ist sie hingegen ausgeschlossen.

Erster Teil Offene Staatlichkeit › § 18 Offene Staatlichkeit: Italien › IV. Schlussbemerkungen

IV. Schlussbemerkungen

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Aus den bisherigen Darlegungen lassen sich aus der Perspektive der Verfassung einige Schlussfolgerungen für die Anpassung der italienischen Rechtsordnung an die Gemeinschaftsrechtsordnung und an die EMRK ziehen. In einer ersten Phase wurden beide Systeme, das der Gemeinschaft und das der Grundfreiheiten der EMRK, dem Völkerrecht zugeordnet, da ihre Grundlage ein völkerrechtlicher Vertrag ist. In der Praxis ist die Entwicklung jedoch dahin gegangen, dass die Verfassungsnormen über die Beziehungen zwischen nationalem Recht und Völkervertragsrecht auf der Grundlage der Verfassungsrechtsprechung auf die Beziehungen zwischen nationalem Recht und Gemeinschaftsrecht nicht mehr angewendet wurden, während sie für die Beziehungen zwischen nationalem Recht und dem EMRK-System weiter anwendbar sind. Die Abweichungen lassen sich in folgenden Punkten zusammenfassen:

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Der erste Unterschied liegt darin, dass nach der Verfassungsnovelle des Jahres 2001 unbestreitbar ist, dass die nationalen Normen zur Umsetzung internationaler Verträge Bezugsnormen für die Beurteilung der Verfassungsmäßigkeit von einfachen Gesetzen darstellen, die später erlassen wurden und den Vertragsnormen widersprechen. Die beim Verfassungsgericht konzentrierte Überprüfung der Vereinbarkeit von einfachen (früheren oder späteren) Gesetzen mit Gemeinschaftsrecht findet jedoch nur begrenzte Anwendung, wenn es sich um direkt anwendbares oder bindendes Gemeinschaftsrecht handelt; in diesem Fall hat jeder Richter und die Verwaltung die Pflicht, den Vorrang des Gemeinschaftsrechts durch Nichtanwendung des entgegenstehenden nationalen Rechts zu gewährleisten. Auf die Normen zur Umsetzung der EMRK sind hingegen weiter die allgemeinen Regeln über die Beziehung zwischen nationalem Recht und Völkervertragsrecht anwendbar: Für die Feststellung eines Widerspruchs zwischen der EMRK und einem späteren Gesetz ist das Verfassungsgericht zuständig, das die Rechtswidrigkeit des späteren Gesetzes feststellen kann.

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Zweitens wurde gezeigt, dass die Normen zur Umsetzung völkerrechtlicher Verträge nach der Verfassungsnovelle von 2001 zwar den Status einer Bezugsnorm bei der Beurteilung der Verfassungsmäßigkeit, jedoch nicht den Rang einer Verfassungsbestimmung haben. Die Normen zur Umsetzung von Völkervertragsrecht nehmen in der Normenhierarchie weiterhin nur den Rang der Umsetzungsnorm ein, d.h. in der Regel den Rang eines einfachen Gesetzes, das den Anwendungsbefehl enthält und folglich der Verfassung nicht widersprechen darf. Für das Gemeinschaftsrecht gilt dies jedoch nicht, seit das Verfassungsgericht dem Gemeinschaftsrecht Vorrang vor nationalem Recht, einschließlich Verfassungsrecht, zuerkannt hat, mit der Ausnahme eines „änderungsfesten Kerns“, der in der sog. „controlimiti-Doktrin“ Ausdruck findet. Das EMRK-Recht hingegen bleibt, trotz der Bemühungen der Doktrin und der Rechtsprechung, „normales“ nationales Recht aus völkerrechtlicher Quelle, das der Verfassung und anderen Quellen mit Verfassungsrang untersteht, denen es nicht widersprechen und die es nicht abändern kann. Auch die wachsende Rolle der EMRK und des „lebenden Rechts“ bei der Auslegung von Grundrechten der Verfassung durch das Verfassungsgericht berührt, wie gezeigt, weder die Stellung der Verfassung an der Spitze der nationalen Normenhierarchie noch die Rolle der Corte costituzionale als Garant dieser Ordnung. Das „Phänomen EMRK“ fällt demnach nicht aus der verfassungsrechtlichen Regelung über die Beziehung zwischen nationalem Recht und Völkervertragsrecht heraus.

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Ein weiterer Unterschied zwischen der verfassungsrechtlichen Regelung mit Bezug auf das Gemeinschaftsrecht und das Völkervertragsrecht ergibt sich aus dem Status, den das europäische Sekundärrecht im nationalen Recht im Vergleich zum Sekundärrecht anderer internationaler Organisationen einnimmt. Während letzteres, außer im Fall der vertraglich bestimmten direkten Anwendbarkeit, jeweils nationale Umsetzungsakte erfordert, da der Anwendungsbefehl des Gründungsvertrages der Organisation nicht als ausreichend angesehen wird, wird Gemeinschaftsrichtlinien, die nicht in der vorgesehenen Frist umgesetzt werden, unter bestimmten Bedingungen die sog. Direktwirkung zuerkannt, d.h. die Anwendbarkeit in der nationalen Rechtsordnung, wenn auch nur auf vertikaler Ebene. Das Institut der Direktwirkung von nicht fristgerecht umgesetzten Richtlinien stellt demnach eine Sonderregelung für das Gemeinschaftsrecht dar, die aus der Übernahme der Auffassung des EuGH durch die Corte costituzionale folgt. Die Direktwirkung von Richtlinien kann auch nicht mit dem self-executing-Charakter gleichgesetzt werden, der Völkervertragsrecht (wie z.B. der EMRK oder den Gründungsverträgen der Europäischen Gemeinschaften) zuerkannt wird, da hierfür immer ein Anwendungsbefehl vorausgesetzt ist, der die völkerrechtlichen Regeln in nationale Regeln umwandelt, was bei Richtlinien nicht der Fall ist, die, obwohl nicht „umgesetzt“, Wirkung in der nationalen Rechtsordnung entfalten. Ein derartiges Phänomen gibt es mit Bezug auf das EMRK-System nicht, das, wie bereits erwähnt, in die Verfassungsbestimmungen über die Beziehungen zwischen nationalem Recht und Völkerrecht eingebettet bleibt.

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Schließlich ist abermals hervorzuheben, dass es bis heute in der italienischen Verfassung keine Bestimmung gibt, die klare Voraussetzungen und Grenzen für die Integration Italiens in die Europäischen Gemeinschaften und die Europäische Union enthält; die sehr allgemeine Bestimmung in Art. 11 Cost. hat daher auf Seiten des italienischen Verfassungsgerichts im Wege eines „Dialogs auf Entfernung“ mit dem Luxemburger Gerichtshof in Ermangelung normativer Bestimmungen zur Anerkennung einer bedeutenden „Ersatzrolle“ der Verfassungsrechtsprechung im Bereich der Beziehungen zwischen nationaler Rechtsordnung und Gemeinschaftsordnung bei formal unveränderter Verfassungslage geführt.

 

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