Handbuch Ius Publicum Europaeum

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2. Die nationalen Interessen im Kontext der Ratifikationsdebatten

a) Die Ratifikation des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl

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Da die Niederlande zu den Gründungsmitgliedern der Europäischen Gemeinschaft zählen, fand die Diskussion über mögliche Übertragungen von Hoheitsrechten bereits in den 1950er Jahren statt. Im Jahre 1953 wurde der heutige Art. 92 Grondwet in die Verfassung aufgenommen, welcher Folgendes vorsieht: „Durch Vertrag oder kraft eines Vertrages können völkerrechtlichen Organisationen Gesetzgebungs-, Verwaltungs- und Rechtsprechungsbefugnisse übertragen werden, erforderlichenfalls unter Berücksichtigung von Art. 91 Abs. 3.“

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Wie bereits dargelegt, wurde Art. 92 Grondwet im Hinblick auf die mögliche Übertragung von Hoheitsrechten auf die Europäischen Gemeinschaften in die niederländische Verfassung eingeführt. Darüber hinaus sollte Art. 92 Grondwet der europäischen Integration förderlich sein.[31] Die Übertragung von Hoheitsrechten wurde von 1953 bis heute erweitert, vertieft und geographisch ausgedehnt.[32] Es wurde ausdrücklich anerkannt, dass die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl mit einem, wenn auch funktional begrenzten, „Souveränitätstransfer“ verbunden war. Man ging davon aus, dass die Hoheitsrechte auf einen neu gegründeten „funktionalen Staat“ übertragen würden.[33]

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Durch Art. 92 Grondwet soll die ständige Praxis der Übertragung von Hoheitsrechten auf internationale Organisationen in der Verfassung geregelt werden.[34] Mit der Formulierung, dass die Übertragung nur durch oder kraft eines Vertrages erfolgen kann, kommt deutlich zum Ausdruck, dass der Gesetzgeber nunmehr sein Monopol bei der Ausübung der Staatsgewalt verloren hat. Der Staatsrat[35] sowie die Regierung[36] wiesen zudem darauf hin, dass gemäß Art. 94 Grondwet Hoheitsrechte ausschließlich auf internationale Organisationen übertragen werden können. Hoheitsrechte können natürlich darüber hinaus auch auf andere (souveräne) Nationalstaaten übertragen werden, so dass es insofern bei der alten Rechtslage bleibt.[37] Aus der Begründung zu Art. 94 Grondwet geht hervor, dass durch seine Einführung jeder Zweifel beseitigt werden sollte, ob Hoheitsrechte auf internationale Organisationen übertragen werden können.[38] Außerdem macht Art. 92 Grondwet bezüglich der Art der internationalen Organisation, auf welche Hoheitsrechte übertragen werden können, keine Einschränkung.[39] Nicht einmal die Delegation von übertragenen Hoheitsrechten durch die Organisation auf andere Nationalstaaten soll ausgeschlossen bzw. eingeschränkt werden.[40] Nachdem ein entsprechender Vertrag von den Niederlanden ratifiziert und in Kraft getreten ist, erlangen die von der jeweiligen Organisation gefassten Beschlüsse Bindungswirkung und in dem vom Vertrag vorgesehenen Umfang Rechtsgeltung in der niederländischen Rechtsordnung.[41]

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Dies erklärt, weshalb sowohl die Regierung als auch die beiden Kammern des Parlaments von der Vereinbarkeit des EGKS-Vertrages und später des EG-Vertrages mit der niederländischen Verfassung ausgegangen sind und weshalb eine gründliche Debatte über die dabei möglicherweise auftretenden verfassungsrechtlichen Probleme ausgeblieben ist.[42] Sogar Verträge, die Hoheitsrechte auf dem Gebiet der Rechtsprechung auf internationale Gerichtshöfe übertragen, weichen nach dieser Auffassung nicht von den Verfassungsbestimmungen ab, welche die Befugnisse und die Ernennung der niederländischen Richter regeln.[43]

b) Die Ratifikation des Vertrages zur Gründung der Europäischen Union

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In Art. 91 Abs. 3 Grondwet ist ein Verfahren für den Fall vorgesehen, dass Verträge von den Bestimmungen der Verfassung abweichen (siehe unten, Rn. 26 ff.). Die Verträge von Maastricht, Amsterdam und Nizza wurden alle ohne Rückgriff auf Art. 91 Grondwet angenommen und ratifiziert, da sie (offensichtlich) nicht gegen die Verfassung verstießen und somit auch keine Notwendigkeit gegeben war, von ihren Bestimmungen abzuweichen.[44] Dagegen gab es einige Diskussionen darüber, ob möglicherweise die Einführung der Europäischen Währungseinheit ECU, die später Euro genannt wurde, gegen Art. 106 Grondwet verstößt, welcher wie folgt lautet: „Das Währungssystem ist durch Gesetz geregelt.“ Diese Bestimmung kam im Zuge der Verfassungsänderungen des Jahres 1983 in die Verfassung.[45] Mit ihr wollte der verfassungsändernde Gesetzgeber sicherstellen, dass die niederländische Währung (der Gulden) nur dann für eine europäische Währung aufgegeben wird, wenn die Zustimmung beider Häuser des Parlaments mit qualifizierter Mehrheit vorliegt.[46] Während des Gesetzgebungsverfahrens bestand man jedoch nicht mehr auf der qualifizierten Mehrheit, sondern legte dar, dass der Antrag zur Verfassungsänderung nur sicherstelle, dass derartige Entscheidungen ausschließlich im Wege des normalen Gesetzgebungsverfahrens getroffen werden. Daher wurden bei der Gründung der Europäischen Währungsunion durch Vertrag letztendlich keine Einwände erhoben.[47] Da sonst keine Schwierigkeiten bestanden, kam der Gesetzgeber zu dem Ergebnis, dass der Vertrag von Maastricht nicht gegen die niederländische Verfassung verstieß.

c) Die Ratifikation der Verträge von Amsterdam und Nizza

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Auch die Verfahren zur Ratifikation der Verträge von Amsterdam und Nizza waren durch das Ausbleiben einer verfassungsrechtlichen Diskussion gekennzeichnet. Die niederländische Regierung verteidigte beide Verträge vor dem Parlament damit, dass die Verträge zwar in einigen Punkten hinter den niederländischen Vorstellungen zurückblieben, in der vorliegenden Form aber ein Gesamtpaket bildeten, welches „einen bedeutenden Schritt nach vorne“ darstelle.[48] In der Parlamentsdebatte ging es vor allem um inhaltliche und weniger um verfassungsrechtliche Streitfragen.[49] So gab Senator van der Linden zu Protokoll: „[…] wir müssen feststellen, dass das erreichte Ergebnis in wichtigen Punkten hinter dem von der niederländischen Regierung erwünschten zurückbleibt. Es kommt dem einerseits so nahe, dass man es nicht ablehnen kann, reicht andererseits aber nicht aus, um der EU vollständige Aufnahmebereitschaft attestieren zu können.“ Andere Kommentatoren bezeichneten den Vertrag als ein „dürftiges Ergebnis“[50] oder als ein „Produkt verfestigter Nationalinteressen und völliger Einfallslosigkeit“[51]. Es hieß, „die Visionäre von Nizza haben offensichtlich dem Augenarzt einen Besuch abgestattet.“[52] Einige niederländische Abgeordnete des Europäischen Parlaments rieten sogar ihren Kollegen im nationalen Parlament dazu, gegen den Vertrag zu stimmen.[53]

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Es gab ungeachtet dieser Kritikpunkte jedoch auch einiges Lob für das Verhandlungsergebnis der Regierungskonferenzen. Die niederländischen Parlamentsabgeordneten (beider Kammern) begrüßten die Übertragung der Innen- und Rechtspolitik in die erste Säule der EU, die Neuorganisation und mögliche Verbesserung der Arbeitsweise des Europäischen Gerichtshofs, die stärkere Stellung der Europäischen Kommission sowie die leichteren Voraussetzungen im Verfahren der verstärkten Zusammenarbeit. Hieran gefiel insbesondere die Tatsache, dass kein Mitgliedstaat sein Veto gegen eine derartige Zusammenarbeit einlegen kann. Das Verfahren gilt als eine vielversprechende Ergänzung sowie als ein dynamisches Element des europäischen Integrationsprozesses insbesondere in Fällen, in denen das herkömmliche Verfahren der qualifizierten Mehrheitsentscheidung zu kurz greift.

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Im gleichen Zeitraum, während des Jahres 2001, warfen drei Senatoren die Frage auf, ob die Mitgliedschaft in der Europäischen Union nicht in irgendeiner Art und Weise in der niederländischen Verfassung verankert werden sollte.[54] Ihnen wurde die Unterstützung des Staatsrats (Raad van State) zuteil, der feststellte: Weil die Europäische Union sich ausdrücklich als eine Verfassungsordnung versteht, sei es nicht länger ausreichend, die Mitgliedschaft in der EU auf dieselben Normen zu gründen wie die Mitgliedschaft in anderen internationalen Organisationen.[55] Aus diesem Grund empfahl der Staatsrat, den Art. 92 Grondwet so zu ändern, dass das besondere Verhältnis zwischen der europäischen Verfassungsordnung und der Verfassung des Königreichs der Niederlande Berücksichtigung findet. Der Staatsrat schlug insbesondere vor, dass die Regierung sorgfältig untersuchen sollte, wie die europäische Integration sich auf die verfassungsrechtlichen Beziehungen in den Niederlanden auswirkt und wie die Entscheidungsfindung auf europäischer Ebene mit dem niederländischen Verfahren in einen engeren systematischen Zusammenhang gebracht werden kann. Der Staatsrat stellte weiterhin fest, dass mehr und mehr Entscheidungen auf europäischer Ebene getroffen werden und sich somit das Schwergewicht der Entscheidungsfindung dorthin verlagert. Die Tatsache, dass der niederländische Gesetzgeber einige seiner Hoheitsrechte auf Brüssel übertragen hat, wirkt sich auch auf das Verhältnis zwischen den Verfassungsorganen aus. Schließlich sind die Regierung und das Parlament nicht mehr nebeneinander für die Gesetzgebung zuständig. Stattdessen nimmt die Regierung zunehmend die Rolle des Verhandlungsführers auf europäischer Ebene wahr, während das Parlament immer häufiger nur den Verhandlungsauftrag erteilt und die Kontrolle ausübt.[56] Die Regierung nahm die Empfehlung des Staatsrates an und kündigte für das Jahr 2005 einen offiziellen Bericht zu diesem Thema an.[57] In diesem Bericht wird die Regierung auf die Rolle der politischen Akteure in den jeweiligen Abschnitten des „Verfahrens zur europäischen Rechtsetzung“ eingehen, angefangen mit den Vorbereitungen bis zur Festlegung der innerstaatlichen Durchführungsbestimmungen von europäischen Verordnungen. In diesem Zusammenhang steht auch die Antwort der Regierung auf den Antrag des Senators Jurgens und anderer Senatoren.[58] Darin wird die Regierung ihre Auffassung zu der Frage darlegen, ob das besondere Verhältnis zur Europäischen Union in irgendeiner Art und Weise in der niederländischen Verfassung verankert werden muss, und wie die parlamentarische Mitwirkung auch in den Fällen gewährleistet werden kann, in denen das beschleunigte Rechtsetzungsverfahren angewandt wird.

 

d) Die Ratifikation des Vertrages über eine Europäische Verfassung

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Eine verfassungsrechtliche Debatte kam wieder auf, als in den Jahren 2004 und 2005 über den Rang des Europäischen Verfassungsvertrages im Verhältnis zur niederländischen Verfassung gestritten wurde. Sowohl der Staatsrat als auch die Regierung haben zu diesem Thema umfassend Stellung genommen. Sie kamen zu dem Ergebnis, dass der Europäische Verfassungsvertrag nicht gegen die niederländische Verfassung verstößt. Daher sei dieser auch nicht gemäß Art. 91 Grondwet zustimmungsbedürftig. In der Diskussion wurden folgende Fragen aufgeworfen:[59]

– In Art. I-6 VVE ist das Prinzip des Vorrangs des Europarechts vor innerstaatlichem Recht enthalten. Dieses Prinzip ist für die europäische Rechtsordnung von wesentlicher Bedeutung. Mit Bezug auf Art. 92 Grondwet kam die Regierung auf der Grundlage einer Stellungnahme des Staatsrats[60] zu dem Schluss, dass Art. I-6 VVE nicht gegen Bestimmungen der niederländischen Verfassung verstößt.[61] Wie bereits dargelegt, wurde Art. 92 Grondwet geschaffen, um die Übertragung von Hoheitsrechten auf internationale Organisationen, insbesondere die Europäische Gemeinschaft/Union, zu ermöglichen.

– Welche Rechte hat das Parlament, wenn es um die Feststellung geht, ob europäische Verordnungen bzw. Rahmenbeschlüsse gegen das Subsidiaritätsprinzip verstoßen? Im Ergebnis verstoßen weder Art. I-11 Abs. 3 VVE noch das Subsidiaritätsprotokoll gegen die niederländische Verfassung. Erstens gewährt Art. I-11 VVE dem Parlament ein neues Recht, welches nicht auf die niederländische Verfassung zurückzuführen ist. Zweitens scheint Art. I-11 VVE weder gegen irgendeines der dem Parlament gemäß der niederländischen Verfassung zustehenden Rechte zu verstoßen, noch beeinflusst er das Parlament bei der Ausübung dieser Rechte.

– Art. I-13 Abs. 1 VVE enthält eine Aufzählung der ausschließlichen Zuständigkeiten der Europäischen Union. In diesen Bereichen haben die Mitgliedstaaten keine Zuständigkeiten mehr. Die Regierung ist übereinstimmend mit dem Staatsrat der Ansicht,[62] dass mit diesem Artikel lediglich bereits bestehende Bestimmungen und Rechtsprechung kodifiziert werden sollen. Wiederum gewährleistet Art. 92 Grondwet, dass die Übertragung von Hoheitsrechten nicht gegen die niederländische Verfassung verstößt.

– Art. I-14 VVE zählt die Zuständigkeiten auf, die sich die Europäische Union mit den Mitgliedstaaten teilt. Die Regierung vertritt auf der Grundlage der Stellungnahme des Staatsrats[63] die Auffassung,[64] dass dieser Artikel weder neue Zuständigkeiten schafft noch die gegenwärtige Aufteilung der Zuständigkeiten ändert. Es handele sich lediglich um eine Neuordnung der bestehenden Zuständigkeiten.

– Gemäß Art. III-364 VVE kann durch eine Verordnung dem Europäischen Gerichtshof die Zuständigkeit übertragen werden, über Rechtsstreitigkeiten bezüglich geistigen Eigentums zu entscheiden. Auf der Grundlage dieses Artikels und der entsprechenden Verordnung würden Rechtsstreitigkeiten bezüglich europäischer Patente von dem Europäischen Gerichtshof und nicht von niederländischen Gerichten entschieden werden. Dies würde auf die Einführung einer weiteren ausschließlichen Zuständigkeit des Europäischen Gerichtshofs hinauslaufen, wodurch die Zuständigkeit der niederländischen Gerichte aufgehoben wäre. Diese Möglichkeit bestand bereits auf der Grundlage von Art. 229a EG-Vertrag, jedoch konnte demgemäß eine solche Entscheidung nur unter der Voraussetzung getroffen werden, dass die Mitgliedstaaten diese Bestimmung gemäß ihren verfassungsrechtlichen Vorschriften annahmen. Im Falle der Niederlande würde demzufolge das normale Vertragsannahmeverfahren zur Anwendung kommen. Da diese Voraussetzung jedoch in Art. III-364 VVE entfallen ist, könnte ein Verstoß gegen Art. 112 Abs. 1 Grondwet vorliegen. Dieser Artikel lautet: „Der richterlichen Gewalt obliegt die Rechtsprechung in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten und in Bezug auf Schuldforderungen.“ Die amtliche Begründung zu Art. 112 Grondwet gibt keinen Aufschluss in Bezug auf die Verfassungsmäßigkeit von Art. III-364 VVE. In einigen Fällen (wie z.B. dem Lockerbie-Vertrag[65] und dem Statut des Internationalen Strafgerichtshofs[66]) war die Regierung im Hinblick auf das Gebot des gesetzlichen Richters der Auffassung, dass dieser nicht notwendigerweise ein niederländischer Richter sein müsse, sofern wirksamer Rechtsschutz gewährleistet werde.[67] Das Parlament hat diese Auffassung gebilligt. Daher liegt kein Widerspruch zu Verfassungsbestimmungen vor, wenn Gewähr dafür besteht, dass es einen Richter gibt, der in diesen Fällen wirksam Recht sprechen kann, und der Grundsatz der Gewaltenteilung eingehalten ist. Da der Europäische Gerichtshof in der Lage sein müsste, wirksamen Rechtsschutz in Streitigkeiten über geistiges Eigentum zu gewährleisten, scheint hier kein Verfassungsverstoß vorzuliegen. Die Tatsache, dass bei der Einführung von Art. 92 in die niederländische Verfassung keine besonderen Bestimmungen in Bezug auf Art. 112 Grondwet aufgenommen wurden, scheint diese Annahme zu bestätigen. Daher ist davon auszugehen, dass der Gesetzgeber stillschweigend auch die in Art. III-364 VVE angelegten Situationen in Betracht gezogen hat. Daher können sogar Hoheitsrechte auf dem Gebiet der Rechtsprechung auf den Europäischen Gerichtshof übertragen werden, ohne dass dadurch ein Widerspruch zur niederländischen Verfassung hervorgerufen wird.

3. Die Annahme von gegen die Verfassung verstoßenden Verträgen

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Für den Fall, dass sich aus der Mitgliedschaft in der Europäischen Gemeinschaft/Union möglicherweise Widersprüche zur niederländischen Verfassung ergeben, ist in Art. 91 Abs. 3 Grondwet die Möglichkeit vorgesehen, von den Bestimmungen der Verfassung abzuweichen. Alle verfassungsrechtlichen Bestimmungen zu den auswärtigen Beziehungen, einschließlich Art. 91 Grondwet, wurden während der Verfassungsrevision im Jahr 1953 umfassend verändert und erneuert. Die Verfassungsänderungen basierten auf den Berichten zweier Kommissionen,[68] der Staatskommission zur Verfassungsreform (Ausschuss van Schaik) und der Kommission zur Zusammenarbeit zwischen Regierung und Parlament im Bereich auswärtiger Angelegenheiten (Ausschuss Eysinga). Beide Berichte kamen zu dem Ergebnis, dass grundsätzlich weder die Regierung noch das Parlament befugt ist, Verträge anzunehmen, die von den Bestimmungen der Verfassung abweichen.[69] Während der Vorbereitungen zum Vertrag zur Gründung der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft[70] hat dieser Standpunkt jedoch Probleme hervorgerufen, da dieser Vertrag möglicherweise von Verfassungsbestimmungen abwich bzw. eine solche Abweichung erforderlich machte. Die Regierung ersuchte den Staatsausschuss um Stellungnahme zu dieser Frage. Der Staatsausschuss kam zu dem Ergebnis, dass die Regierung sowie die Mitglieder der Länderkammer durch den Treueschwur auf die Verfassung an deren Bestimmungen gebunden sind. Dies schließe aber im Allgemeinen nicht aus, dass der Gesetzgeber das Königreich der Niederlande an Verträge binden kann, welche von Verfassungsbestimmungen abweichen bzw. solche Abweichungen erforderlich machen.[71] Auf der Grundlage dieser Stellungnahme schlug die Regierung die Aufnahme einer Bestimmung in die Verfassung vor, nach welcher solche Verträge nur mit derselben qualifizierten Mehrheit angenommen werden können, die auch in der zweiten Lesung von Gesetzen zur Verfassungsänderung erforderlich ist.[72] Da ein von den Bestimmungen der Verfassung abweichender Vertrag im Ergebnis eine Verfassungsänderung darstellt, bedarf es zur Annahme dieses Vertrages richtigerweise ebenfalls einer Zweidrittelmehrheit in beiden Kammern des Parlaments.[73] Im Ergebnis führte dies zur Einführung von Art. 63 in die niederländische Verfassung im Jahr 1953. Infolge der Verfassungsrevision im Jahr 1983 wurde hieraus der derzeitige Art. 91 Abs. 3 Grondwet: „Enthält ein Vertrag Bestimmungen, die von der Verfassung abweichen bzw. eine solche Abweichung erforderlich machen, können die Kammern ihre Zustimmung durch Zweidrittelmehrheit der abgegebenen Stimmen erteilen.“ Ein in der Praxis näherliegender Grund zur Einführung von Art. 91 Abs. 3 in die niederländische Verfassung ist die Tatsache, dass Verfassungsänderungen in den Niederlanden viel Zeit in Anspruch nehmen.[74] Art. 91 Abs. 3 Grondwet sieht im Gegensatz zur Verfassungsänderung ein kurzes und praxisgerechtes Verfahren vor, da ein Zuwarten bis zu den nächsten Wahlen nicht immer möglich oder ratsam ist.[75]

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Demzufolge erfordert das Inkrafttreten eines von den Bestimmungen der Verfassung abweichenden Vertrages auf der Grundlage von Art. 91 Abs. 3 Grondwet keine vorhergehende Verfassungsänderung, sofern das Zustimmungsgesetz zum Vertrag mit einer Zweidrittelmehrheit verabschiedet wird.[76] Die Frage, ob ein Vertrag von den Bestimmungen der Verfassung abweicht, wird mit einfacher Mehrheit entschieden. Auch wenn dies ungewöhnlich erscheinen mag, so gibt es hierfür doch einen sehr praktischen Grund. Dieser liegt in der Tatsache, dass Art. 6 des Gesetzes über die Zustimmung zu und Bekanntmachung von internationalen Verträgen eine Zustimmung durch Gesetz für Verträge erfordert, die gegen Bestimmungen der Verfassung verstoßen. In diesem Zustimmungsgesetz muss festgestellt werden, dass der Vertrag gegen Verfassungsbestimmungen verstößt und somit Art. 91 Abs. 3 Grondwet berücksichtigt werden muss. Es ist die Aufgabe der Regierung, in dem Zustimmungsgesetz des Parlaments auf die Abweichung von Art. 91 Abs. 3 Grondwet in einer Klausel hinzuweisen. Sollte die Regierung einen Hinweis auf Art. 91 Abs. 3 Grondwet unterlassen, während die Zweite Kammer aber der Meinung ist, dass der Vertrag von Bestimmungen der Verfassung abweicht, so wird die Zweite Kammer das Gesetz im Änderungsverfahren um die Abweichungsklausel ergänzen. Sollte die Regierung dagegen die Abweichungsklausel in das Gesetz aufgenommen haben, während die Zweite Kammer jedoch der Meinung ist, dass der Vertrag mit der Verfassung im Einklang steht, so wird die Zweite Kammer die Abweichungsklausel im Änderungsverfahren wieder aus dem Gesetz nehmen. Da die Annahme oder Ablehnung der Abweichungsklausel nur eine Veränderung des Zustimmungsgesetzes, nicht jedoch die Zustimmung zu dem Vertrag selbst bewirkt, wird über die Änderungen mit einfacher Mehrheit abgestimmt. Daher entscheidet die Zweite Kammer des Parlaments mit einfacher Mehrheit darüber, ob ein Vertrag gegen die Verfassung verstößt und die Zustimmung aus diesem Grunde mit Zweidrittelmehrheit erfolgen muss.[77]

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Art. 91 Abs. 3 Grondwet findet nur Anwendung, wenn ein Vertrag von Bestimmungen der Verfassung abweicht.[78] Was aber ist mit dem Begriff „Abweichung“ gemeint? Weder aus der Verfassung, deren Entstehungsgeschichte noch aus irgendeinem anderen Gesetz oder aus den Stellungnahmen von Parlament und Regierung ergeben sich klare Kriterien zur Beurteilung der Frage, ob ein Vertrag Regelungen enthält, die von den Bestimmungen der Verfassung abweichen bzw. eine solche Abweichung erforderlich machen. Das ist auf eine bewusste Entscheidung des Gesetzgebers zurückzuführen.[79] Die einzige aus der Entstehungsgeschichte der Verfassung ableitbare Einschränkung liegt in der Auffassung des Verfassunggebers, der zufolge Art. 91 Abs. 3 Grondwet nur bei Abweichungen von konkreten und bestimmten Verfassungsbestimmungen angewendet werden soll.

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Wann aber enthält ein Vertrag Regelungen, die von den Bestimmungen der Verfassung abweichen bzw. eine solche Abweichung erforderlich machen? Um diese Frage zu beantworten, ist eine Unterscheidung notwendig zwischen Verträgen, die gegen ein außerhalb des Geltungsbereichs der Verfassung liegendes Grundprinzip verstoßen einerseits, und andererseits solchen, die von dem Inhalt der Verfassung selbst abweichen. Der Geltungsbereich der Verfassung ist durch das (geschriebene und ungeschriebene) Völkerrecht begrenzt. Wenn ein Vertrag den Geltungsbereich der Verfassung bezüglich eines Gegenstandes begrenzt, in dem die Verfassung selbst Rechtsgeltung reklamiert, dann kann die Zustimmung zu dem Vertrag nur gemäß Art. 91 Abs. 3 Grondwet erfolgen. Ist jedoch ein Gegenstand betroffen, welcher nicht durch die Verfassung geregelt ist, kann die Zustimmung zu dem Vertrag auch ohne die besonderen Voraussetzungen des Art. 91 Abs. 3 Grondwet erteilt werden. Eine derartige Situation liegt oft vor, da die Verfassung über ihren eigenen Geltungsbereich so gut wie keine Aussagen macht. Demnach könnte die Regierung einen Vertrag mit Deutschland über die Abtretung eines Teils der Niederlande abschließen, ohne dass Art. 91 Abs. 3 Grondwet zur Anwendung kommen würde, da dieser Gegenstand nicht von der Verfassung geregelt ist.[80] Die rechtliche Anerkennung der niederländischen Landesgrenzen und damit deren Festlegung erfolgt durch das Völkerrecht und nicht durch die niederländische Verfassung. Das heißt nicht, dass die Frage nach dem Geltungsbereich der Verfassung keinerlei Bedeutung hätte. Sie muss aber wegen ihrer Unbestimmtheit an konkreten Bestimmungen[81] festgemacht werden, bevor sie im Verhältnis zu Art. 91 Abs. 3 Grondwet herangezogen werden kann.[82]

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Andererseits gibt es Verträge, die von dem Inhalt der Verfassung selbst abweichen. Bei der Festlegung, ob ein solcher Fall vorliegt, sollte die Frage, ob das Königreich an einen Vertrag gebunden werden kann, dessen Inhalt von Verfassungsbestimmungen abweicht, von der Frage nach der konkreten Abweichung von einer Verfassungsbestimmung unterschieden werden.[83]

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In vielen Fällen weichen die Verträge nur scheinbar von dem Inhalt der Verfassung ab. Dies ist auf die Tatsache zurückzuführen, dass viele Verfassungsbestimmungen nur die niederländische Gesetzgebung betreffen.[84] Wenn die Verfassung zum Beispiel die Regelung eines bestimmten Gegenstandes an den formellen Gesetzgeber delegiert, bedeutet das lediglich, dass die autonomen Gesetzgebungsorgane der niedrigeren Ebene keine Befugnisse in diesem Bereich haben. Dies hat aber keine Auswirkungen auf die Frage, ob dieser Gegenstand auch durch Vertrag geregelt werden kann.[85] Daher kann ein Vertrag grundsätzlich nicht von den die innerstaatliche Gesetzgebung betreffenden Bestimmungen der Verfassung abweichen. Diesen Standpunkt nahm der Hoge Raad bereits in seinem Urteil vom 25. Mai 1906 ein, in dem er ausführte, dass derartige Verfassungsbestimmungen nur in Bezug auf die innerstaatliche Gesetzgebung anwendbar sind und für das Völkerrecht keinerlei Bedeutung haben.[86] Seit diesem Urteil ist unbestritten, dass Verträge von Verfassungsbestimmungen immer dann nicht abweichen, wenn sie einen von der Verfassung an den niederländischen Gesetzgeber delegierten Gegenstand betreffen.[87] In der Tat war der Ausgangspunkt der Verfassungsänderung des Jahres 1953 nicht, die Handlungsmöglichkeiten und Interessen des Königreichs auf internationaler Ebene einzuschränken. Da dies indes der Fall wäre, wenn dem Abschluss vieler völkerrechtlicher Verträge eine Verfassungsänderung vorausgehen müsste, entschied sich der verfassungsändernde Gesetzgeber dafür, der Stellung der Niederlande auf internationaler Ebene Vorrang einzuräumen, indem er ein relativ einfaches Verfahren vorsah, das die Ratifikation von völkerrechtlichen Verträgen, die von der Verfassung abweichen, gestattete. Dies beschränkt die Anzahl der Gegenstände, die nur nach einer Verfassungsänderung völkervertragsrechtlich geregelt werden können.[88] Ein mögliches Beispiel hierfür wären die Grundrechte. In dem parlamentarischen Zustimmungsverfahren zu den Verfassungsänderungen im Jahr 1953 vertrat die Regierung die Auffassung, dass die Grundrechte beachtet werden müssten und dass die Zustimmung zu von diesen Rechten abweichenden Verträgen ausschließlich gemäß Art. 91 Abs. 3 Grondwet erfolgen könne.[89] Der Staatsrat[90] sowie die Regierung[91] sind der Auffassung, dass einige dieser Rechte von so grundlegender Bedeutung sind, dass die Zustimmung zu Verträgen, die diese Rechte verletzen, niemals, nicht einmal auf Grundlage von Art. 91 Abs. 3 Grondwet, erfolgen kann.[92] Im Ergebnis weicht also ein Vertrag nur dann von Bestimmungen der Verfassung ab bzw. macht eine solche Abweichung erforderlich, wenn er gegen Bestimmungen der Verfassung verstößt, die den Geltungsbereich der Verfassung eingrenzen oder für die Völkerrechtsordnung von Bedeutung sind, sowie wenn Grundrechtsschutz gewährleistende Bestimmungen verletzt sind. Zudem muss bei der Beurteilung des Inhalts einer Verfassungsbestimmung sowie deren möglicher Verletzung auf Sinn und Zweck der jeweiligen Norm abgestellt werden.[93]

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Damit ist jedoch noch kein Kriterium zur Beurteilung möglicher Verfassungsverstöße gegeben.[94] Liegt möglicherweise ein Verfassungsverstoß vor, so beschließt das Parlament entweder (mit einfacher Mehrheit), dass der Vertrag nicht von den Bestimmungen der Verfassung abweicht, oder es stimmt diesem mit einer Zweidrittelmehrheit zu. Dieses Verfahren wird in der Praxis nur sehr selten angewandt.[95] Ungeachtet dessen kann jedoch nur mit Hilfe dieses Verfahrens festgestellt werden, ob Verträge auf der Grundlage von Art. 120 Grondwet verfassungsgemäß sind, der folgendermaßen lautet: „Der Richter beurteilt nicht die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen und Verträgen.“ Demzufolge ändert sich nach der Annahme eines Vertrages nichts, wenn sich nach der Vertragsannahme herausstellen sollte, dass der Vertrag gegen die Verfassung verstößt und dieser nicht mit Zweidrittelmehrheit angenommen wurde. Nach allgemeiner Ansicht ist der Beschluss des Parlaments unwiderruflich.[96] Dies gilt jedoch nicht für den Fall, dass sich nach einer ohne Anwendung von Art. 91 Abs. 3 Grondwet erfolgten Zustimmung herausstellt, dass der Vertrag von Bestimmungen der Verfassung abweicht bzw. eine solche Abweichung erforderlich macht. Nach der herrschenden Meinung muss in diesem Fall die Zustimmung zu dem Vertrag nachgeholt werden, und zwar unter Anwendung von Art. 91 Abs. 3 Grondwet.[97]

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Was aber geschieht, wenn sich die drei am Gesetzgebungsverfahren beteiligten Organe (Regierung, Erste und Zweite Kammer des Parlaments) bezüglich der Frage nicht einig sind, ob möglicherweise von Bestimmungen der Verfassung abgewichen wird? Schließlich besteht die Gefahr, dass diese zu gegensätzlichen und daher nicht zu vereinbarenden Ergebnissen kommen. Was würde beispielsweise geschehen, wenn die Zweite Kammer einem Vertrag mit einfacher Mehrheit zustimmt, da sie keinen Verfassungsverstoß feststellen konnte, die Erste Kammer demgegenüber feststellt, dass ein Verstoß gegen die Verfassung vorliegt? Nach Auffassung des Staatsrats enthält die Verfassung diesbezüglich klare Regelungen. Folgende Szenarien hält er für denkbar:[98] In dem ersten Szenario nimmt die Regierung eine Position ein, die sich von der Auffassung beider Parlamentskammern unterscheidet. In diesem Fall muss sich die Regierung nach dem Urteil des Parlaments richten oder von der Ratifikation des Vertrages absehen. Das zweite Szenario liegt vor, wenn die Regierung und die Zweite Kammer der Auffassung sind, dass ein Vertrag von Verfassungsbestimmungen abweicht, die Erste Kammer aber zu einer anderen Schlussfolgerung kommt und die Zustimmung zu dem Vertrag mit einer einfachen Mehrheit erteilt. In diesem Fall muss die Regierung die Ratifikation des Vertrages verweigern, es sei denn, sie stimmt der Auffassung der Ersten Kammer nachträglich zu. Das dritte Szenario tritt ein, wenn die Regierung und die Erste Kammer übereinstimmend der Auffassung sind, dass der Vertrag gegen die Verfassung verstößt, die Zweite Kammer aber anderer Meinung ist und das Zustimmungsgesetz nach Änderung der Abweichungsklausel mit einfacher Mehrheit verabschiedet. Nach der Auffassung des Staatsrats und in Übereinstimmung mit der hierzu herrschenden Meinung in der Literatur[99] sollte die Erste Kammer sich in diesem Fall entweder gar nicht mit dem Gesetz befassen, es ablehnen oder dem Vertrag trotz allem mit einfacher Mehrheit zustimmen, da sie nicht die Befugnis zur Änderung von Gesetzen hat. Im vierten Szenario beschließt die Regierung, dass kein Verfassungsverstoß vorliegt, während die beiden Kammern die gegenteilige Auffassung vertreten. In diesem Fall können beide Parlamentskammern das Gesetz mit einer qualifizierten Mehrheit verabschieden, nachdem die Zweite Kammer die Abweichungsklausel entsprechend geändert hat.[100]