Handbuch Ius Publicum Europaeum

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a) GASP und dauernde Neutralität

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Aus dem Neutralitätsstatus Österreichs resultieren spezifische Neutralitätspflichten.[128] Diese binden Österreich nicht nur in Kriegszeiten, sondern zeitigen auch „Vorwirkungen“ in Friedenszeiten.[129] Österreich muss sich auf eine Art und Weise verhalten, die es ihm ermöglicht, seinen Neutralitätspflichten in möglichen späteren Kriegszeiten lückenlos nachzukommen.[130]

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Die Mitgliedschaft in der EU gerät insbesondere aufgrund der GASP in Konflikt mit den verfassungsrechtlichen Neutralitätspflichten. In Art. 17 Abs. 1 UAbs. 2 EUV ist zwar festgelegt, dass „die Politik der Union [...] nicht den besonderen Charakter der Sicherheits- und Verteidigungspolitik bestimmter Mitgliedstaaten berührt“. Diese so genannte „irische Klausel“ – sie wurde aufgrund von Neutralitätsvorbehalten Irlands eingeführt[131] – dürfte jedoch keine Grundlage für allgemeine Ausnahmen von den Verpflichtungen im Rahmen der GASP unter Berufung auf den Neutralitätsstatus bilden.[132]

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Da Österreich der EU ohne einen expliziten Neutralitätsvorbehalt beigetreten ist, sondern ganz im Gegenteil seine Bereitschaft zur Übernahme und Umsetzung der Verpflichtungen in einer Gemeinsamen Erklärung zum Beitrittsvertrag ausdrücklich bekundet hat, wurden verfassungsrechtliche Vorkehrungen notwendig, um die Neutralitätspflicht an die Anforderungen der EU-Mitgliedschaft anzupassen. Eine entsprechende Regelung wurde im Rahmen des Beitritts-Begleit-BVG[133] mit dem Art. 23f B-VG eingeführt. Die Bestimmung ist als lex specialis zum Neutralitäts-BVG anzusehen.[134] Sie hat das Neutralitäts-BVG im Umfang seines Anwendungsbereichs materiell derogiert.[135]

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Der Inhalt der Norm wurde jeweils an die Weiterentwicklungen der GASP im Kontext der Vertragsänderungen von Amsterdam und Nizza angepasst.[136] In Art. 23f Abs. 1 B-VG ist zunächst allgemein die Mitwirkung Österreichs an der GASP festgelegt. Dabei wird die „Mitwirkung an Aufgaben gemäß Art. 17 Abs. 2 dieses Vertrages sowie an Maßnahmen“ mit eingeschlossen, „mit denen die Wirtschaftsbeziehungen zu einem oder mehreren dritten Ländern ausgesetzt, eingeschränkt oder vollständig eingestellt werden“. Daneben werden spezielle Verfahrensvorgaben für bestimmte Weiterentwicklungen der GASP gemacht.

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Die innerstaatliche Rechtslage erscheint somit klar geregelt. Die Verpflichtung zur dauernden Neutralität war offensichtlich schon beim Beitritt zur EU auf den militärischen Kernbereich reduziert.[137] Mit der Erweiterung des Art. 23f B-VG um die Möglichkeit einer Teilnahme an allen Formen der militärisch geführten Petersberg-Aufgaben, wie insbesondere an „Kampfeinsätze[n] bei der Krisenbewältigung einschließlich friedensschaffender Maßnahmen“, erscheint auch dieser militärische Kernbereich gefährdet.[138] Österreich ist damit nicht mehr als dauernd neutral anzusehen,[139] auch wenn keine formelle Neudefinition des Neutralitätsstatus stattgefunden hat.[140]

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Hinsichtlich der völkerrechtlichen Verpflichtung zur dauernden Neutralität wurde von Österreich dagegen nichts unternommen. Jedoch erscheint es möglich, dass jene Staaten, gegenüber denen – durch die Notifikation des Neutralitäts-BVG – eine rechtliche Bindung besteht, durch ihr qualifiziertes Stillschweigen bzw. im Fall der EU-Staaten durch entgegenstehendes Verhalten im Verhandlungs- und Beitrittsstadium die Vereinbarkeit der EU-Mitgliedschaft mit der Neutralitätsverpflichtung anerkannt haben.[141]

b) Kompetenzordnung

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Den Ländern war von Beginn der Beitrittsverhandlungen an bewusst, dass sich eine Mitgliedschaft Österreichs in der EU auf ihre rechtliche Position im Bundesstaat auswirken würde.[142] Sie forderten daher schon frühzeitig die Möglichkeit einer Mitwirkung an der Integrationspolitik.[143] Bereits im Jahr 1992 wurden ihnen im Zuge einer Verfassungsnovelle spezifische Mitwirkungsrechte eingeräumt. Diese wurden durch zwei Gliedstaatsverträge gemäß Art. 15a B-VG – eine vertikale „Integrationsvereinbarung“ zwischen dem Bund und den Ländern[144] und eine horizontale Ländervereinbarung[145] – verfahrensrechtlich konkretisiert.[146]

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Nach dem Beitritt zur EU wurde dieses „Länderbeteiligungsverfahren“ in die Bestimmung des Art. 23d Abs. 1, 2 und 4 B-VG als Teil des Beitritts-Begleit-BVG übernommen und um andere Vorgaben, die die Position der Bundesländer im Rahmen der EU-Mitgliedschaft betreffen, erweitert.[147] Die gemäß Art. 23d Abs. 4 B-VG notwendige Regelung der Einzelheiten des Verfahrens basiert dabei weiterhin auf der Integrationsvereinbarung sowie der Ländervereinbarung aus dem Jahr 1992.

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Nach Art. 23d Abs. 1 B-VG hat der Bund die Länder „unverzüglich über alle Vorhaben im Rahmen der Europäischen Union, die den selbständigen Wirkungsbereich der Länder berühren oder sonst für sie von Interesse sein könnten, zu unterrichten und ihnen Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben“.[148] Sofern die Länder eine „einheitliche Stellungnahme“ zu einem Vorhaben abgegeben haben, das „Angelegenheiten betrifft, in denen die Gesetzgebung Landessache ist“, ist der Bund gemäß Art. 23d Abs. 2 B-VG grundsätzlich daran gebunden. Er darf nur „aus zwingenden außen- und integrationspolitischen Gründen“, die er den Ländern „unverzüglich“ mitzuteilen hat, davon abweichen. Als „einheitliche Stellungnahme“[149] der Länder gelten dabei Stellungnahmen der eigens dafür eingerichteten so genannten Integrationskonferenz der Länder.[150] Diese setzt sich aus den Landeshauptmännern und den Präsidenten der Landtage zusammen.[151] Ein Absehen von der Länderstellungnahme aufgrund eines „zwingenden außen- und integrationspolitischen Grundes“ ist nach den Materialien nur zulässig, wenn dies zur Wahrnehmung wichtiger österreichischer Interessen in der EU unabweisbar ist.[152] Ein besonderes Konsultationsverfahren ist für diesen Fall nicht vorgesehen. In Angelegenheiten, die nicht die Gesetzgebungszuständigkeit der Länder berühren, können – auch von einzelnen Ländern – so genannte „allgemeine Stellungnahmen“ abgegeben werden.[153] Sie sind „bei der Festlegung des Standpunktes der Republik Österreich in den zuständigen Organen der europäischen Integration“ zu erwägen.[154] Die Unterrichtung der Länder durch den Bund erfolgt in erster Linie durch eine Übermittlung der relevanten Dokumente, Berichte und Mitteilungen.[155] Die Informationen sowie eine Vorgabe über die einzuhaltenden Fristen[156] werden durch die so genannte Verbindungsstelle der Länder übermittelt. Die Städte und Gemeinden werden durch den Österreichischen Städtebund bzw. den Österreichischen Gemeindebund informiert.[157] Diese haben die eingelangten Informationen „zum frühestmöglichen Zeitpunkt“ an die in Frage kommenden Gebietskörperschaften weiterzuleiten.[158]

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Neben dieser mittelbaren Mitwirkungsmöglichkeit der Länder wurde ihre Position durch die Möglichkeit einer unmittelbaren Teilnahme an der europäischen Willensbildung gemäß Art. 23d Abs. 3 B-VG gestärkt. Betrifft ein Vorhaben der EU Angelegenheiten, die der Gesetzgebungszuständigkeit der Länder unterfallen, so kann „die Bundesregierung einem von den Ländern namhaft gemachten Vertreter die Mitwirkung an der Willensbildung im Rat übertragen“. Das kann im Einzelfall dazu führen, dass ein Vertreter der Länder bei der Mitwirkung in einer Angelegenheit, die eine „Querschnittsmaterie“ betrifft, auch Bundesinteressen wahrnimmt. Der Landesvertreter hat diese Tätigkeit jedoch „unter Beteiligung des zuständigen Mitgliedes der Bundesregierung und in Abstimmung mit diesem“ auszuüben. Die Form dieser Beteiligung wird nicht näher ausgeführt. In den Erläuterungen heißt es lediglich, die Länder hätten „engen Kontakt mit der Bundesregierung zu halten“[159]. Da Vertreter im Rat gemäß Art. 203 EG aber „Minister-Eigenschaft“ haben müssen, kommen nur Landeshauptmänner und Landesräte in Betracht.[160] In der Praxis blieb diese Mitwirkungsmöglichkeit bisher bedeutungslos.

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Gemäß Art. 23d Abs. 5 B-VG sind die Länder ausdrücklich zum Erlass von „Maßnahmen“ verpflichtet, die in ihrem selbständigen Wirkungsbereich zur Durchführung von europäischen Rechtsakten erforderlich sind. Die Zuständigkeit zum Vollzug von EU-Rechtsakten richtet sich demgemäß nach der verfassungsrechtlichen Kompetenzverteilung.[161] Wenn ein Land seiner Verpflichtung nicht rechtzeitig nachgekommen ist, und diese Säumigkeit zudem vom EuGH festgestellt wurde, geht die Zuständigkeit zum Erlass entsprechender Maßnahmen auf den Bund über. Sobald das betreffende Land seine diesbezügliche Verpflichtung erfüllt, tritt die vom Bund getroffene Maßnahme außer Kraft.

c) Demokratie

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Im Rahmen des „Beitritts-Begleit-BVG“ wurden auch Mitwirkungsbefugnisse des Nationalrates und des Bundesrates an der europäischen Rechtsetzung vorgesehen.[162] Nach Art. 23e Abs. 1 B-VG hat das im Rat vertretene Mitglied der Bundesregierung den Nationalrat und den Bundesrat „unverzüglich über alle Vorhaben im Rahmen der EU zu unterrichten und ihnen Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben“. Der Begriff des „Vorhabens“ ist nach überwiegender Auffassung weit zu verstehen.[163] Neben allen Rechtsetzungsakten der EU[164] können auch Stellungnahmen zu Beschlüssen im Rahmen der GASP und der Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres nach Art. 23f Abs. 2 B-VG abgegeben werden.[165] Wird eine Stellungnahme zu einem EU-Vorhaben abgegeben, das nach den verfassungsrechtlichen Vorgaben „durch Bundesgesetz umzusetzen“ oder „auf die Erlassung eines unmittelbar anwendbaren Rechtsaktes“ in einer Angelegenheit, „die bundesgesetzlich zu regeln“ wäre, gerichtet ist, so hat diese gemäß Art. 23e Abs. 2 B-VG für das betreffende Ratsmitglied grundsätzlich bindende Wirkung.[166] Eine Abweichung ist nur „aus zwingenden außen- und integrationspolitischen Gründen“ möglich. Auch wenn ein solcher zwingender Grund vorliegt, hat das Regierungsmitglied den Nationalrat nach Art. 23e Abs. 3 B-VG aber „neuerlich zu befassen“. Wenn durch den geplanten EU-Rechtsakt Verfassungsrecht geändert werden würde, ist eine Abweichung außerdem nur zulässig, wenn „ihr der Nationalrat innerhalb angemessener Frist nicht widerspricht“. In jedem Fall hat das zuständige Regierungsmitglied dem Nationalrat die Gründe für sein Abweichen von der Stellungnahme „unverzüglich“ mitzuteilen (Art. 23e Abs. 4 B-VG).

 

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Eine Bindung an die Stellungnahme des Bundesrates besteht gemäß Art. 23e Abs. 6 B-VG, wenn es sich um eine Stellungnahme zu einem Vorhaben der EU handelt, das „zwingend durch ein Bundesverfassungsgesetz umzusetzen ist, das nach Art. 44 Abs. 2 der Zustimmung des Bundesrates bedürfte“. Damit werden entgegen dem umfassenderen Wortlaut des Art. 44 Abs. 2 B-VG de facto allein solche Vorhaben erfasst, die eine Beschränkung der Länderkompetenz zugunsten des Bundes bewirken.[167] Ein Abweichen von der Stellungnahme ist wiederum lediglich aus „zwingenden außen- und integrationspolitischen Gründen“ möglich. Eine besondere Konsultations- oder Berichtspflicht besteht nicht.

d) Rechtsstaatlichkeit

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Mit dem EU-Beitritts-BVG wurde „die österreichische Rechtsordnung gegenüber der Rechtsordnung der EU in einer Weise (geöffnet), wie sich dies aus deren besonderem Geltungsanspruch [...] ergibt“.[168] Das gesamte Gemeinschaftsrecht galt daher bereits ab dem Zeitpunkt des Beitritts zur EU nach dessen eigenen Kriterien unmittelbar in Österreich.[169] Auch der Vorrang des Gemeinschaftsrechts wurde mit dem EU-Beitritt als Bestandteil des gemeinschaftsrechtlichen Rechtsbestandes in die österreichische Rechtsordnung übernommen.[170] Sofern eine Verwaltungsbehörde vorrangig anwendbares Gemeinschaftsrecht im Einzelfall nicht anwendet und dies ungenügend begründet, ist ihr Bescheid aufgrund der Verletzung von Verfahrensvorschriften als rechtswidrig anzusehen.[171] Hat ein Gericht[172] Zweifel in Bezug auf die Auslegung oder die Gültigkeit des Gemeinschaftsrechts, so ist es nach Maßgabe des Art. 234 EG zu einer Vorlage an den EuGH verpflichtet.

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Die Möglichkeit der Einholung von Vorabentscheidungen durch die österreichischen Gerichte wurde in den §§ 90a GOG[173], 38b VwGG[174] und 38a AVG[175] ausdrücklich verankert. Danach dürfen bis zum Ergehen einer Entscheidung des EuGH nur solche Verfahrenshandlungen vorgenommen werden, die keinen Einfluss auf die Vorabentscheidung haben bzw. das Verfahren nicht abschließend regeln und keinen Aufschub gestatten. Für den VfGH wurden keine entsprechenden Regelungen geschaffen. Er hat unmittelbar nach Art. 234 EG vorzugehen.[176]

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Die Gerichte – und insbesondere auch die Höchstgerichte einschließlich des Verfassungsgerichtshofes – haben sich bislang als „durchaus vorlagefreudig“ erwiesen.[177] Eine Verletzung der Vorlagepflicht wird vom VfGH als Verstoß gegen das Grundrecht auf den gesetzlichen Richter (Art. 83 Abs. 2 B-VG) angesehen.[178] Diese Rechtsfolge tritt nach Ansicht des VfGH nicht nur bei einer groben, sondern bei jeder Verletzung der Vorlagepflicht ein.[179]

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Die Vorrangwirkung des Gemeinschaftsrechts wurde vom VfGH im Übrigen auch im Verhältnis zum Verfassungsrecht anerkannt.[180] Dies zeigt sich einerseits in den Vorlagen des VfGH an den EuGH und andererseits in einem Erkenntnis, in dem er eine Norm des B-VG durch eine Richtlinie als verdrängt ansah.[181]

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Daneben war das verfassungsrechtliche Rechtsschutzsystem an neue Anforderungen des Gemeinschaftsrechts anzupassen.[182] In diesem Zusammenhang ist insbesondere das Institut der Staatshaftung für fehlerhaftes Verhalten der Legislative und der Höchstgerichte zu nennen. Obwohl diese Institute dem österreichischen Recht fremd sind,[183] wurde die Anpassung durch die Judikatur vorgenommen. Bestehende Verfahrensregeln sowohl der ordentlichen Gerichte als auch des VfGH fungieren – ohne formelle Abänderung – als Rechtsgrundlage für ihre Geltendmachung.[184]

5. Verfassungsrechtliche Grenzen der Integration

a) Grundprinzipien (Baugesetze)

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Wie bereits dargestellt, enthält das Verfassungsrecht keine ausdrücklichen Integrationsschranken. Dennoch können die Grundprinzipien der Bundesverfassung „mittelbar“ Schrankenwirkung für weitere Integrationsschritte entfalten.[185] Mit dem EU-Beitritts-BVG wurden die Grundprinzipien nur auf der Basis des Beitrittsvertrages, d.h. in Bezug auf das mit dem Beitrittsvertrag übernommene Primär- und Sekundärrecht modifiziert.[186] Damit sind alle Änderungen der Verfassungsordnung bzw. der Grundprinzipien gedeckt, die sich aus der künftigen Geltung des Primärrechts und darauf basierendem Sekundärrecht ergeben.[187] Nicht davon erfasst sind jedoch Integrationsverstärkungen durch formelle Änderungen des Primärrechts.[188] Diese müssten wiederum einer Volksabstimmung unterzogen werden.[189] In Bezug auf Änderungen des Primärrechts entfalten die Grundprinzipien demnach unbestritten eine Schrankenwirkung in der Form, dass ein besonderes Verfahren als Voraussetzung für die Zulässigkeit ihrer Weiterentwicklung einzuhalten ist.[190] Sie müssen einer obligatorischen Volksabstimmung unterzogen werden.[191] Änderungen werden also nicht gänzlich ausgeschlossen, sondern nur an ein besonderes Verfahren gebunden.[192] Für so genannte „schleichende“ Fortentwicklungen der im EUV angelegten Kompetenzen – etwa durch allzu extensive Auslegungen der Zuständigkeitsnormen – und damit für Sekundärrecht wird ebenfalls eine Unzulässigkeit aufgrund der Schranken der Grundprinzipien und damit deren absolute Nichtigkeit angenommen.[193] Da die bereits erfolgte Modifizierung der Grundprinzipien im Rahmen des EU-Beitritts allerdings nicht genau determiniert wurde, wird die Festlegung, ab wann insbesondere künftige formelle Vertragsänderungen in eine Gesamtänderung des B-VG resultieren, jedoch ziemlich schwer fallen.[194]

b) Bedeutung der Grundprinzipien (Baugesetze) im Kontext der Ratifikation des VVE

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Die Vertragsänderungen von Amsterdam, Nizza und durch die Beitrittsverträge mit den mittel- und osteuropäischen Staaten warfen vor dem Hintergrund der dargestellten Integrationsschranken keine Bedenken auf. Die Abhaltung einer Volksabstimmung wurde deshalb nicht für notwendig erachtet. Erst im Kontext der Ratifizierung des VVE wurden Änderungen der Grundprinzipien, die eine Volksabstimmung im Ratifizierungsprozess verfassungsrechtlich notwendig machen würden, in den Raum gestellt.

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Insbesondere in der Normierung des Vorrangs des Unionsrechts vor dem Recht der Mitgliedstaaten in Art. I-6 VVE wurde ein Ansatzpunkt für eine Gesamtänderung gesehen. Durch die explizite Verankerung des vom EuGH entwickelten Vorrangkonzepts würden die Grundprinzipien ihren obersten Rang verlieren. Dies sei naturgemäß als Gesamtänderung zu qualifizieren, so dass der VVE einer Volksabstimmung unterzogen werden müsste.[195] Dieser Position wurde allerdings entgegengehalten, dass der EuGH sein Konzept vom Vorrang des Gemeinschaftsrechts auch bisher schon auf die nationalen Verfassungskerne bezogen habe. Dessen Verankerung im Verfassungsvertrag würde es daher wohl auch weiterhin nicht ausschließen, dass die Grundprinzipien – wenn auch mit dem Risiko eines Konflikts mit dem EuGH – von den nationalen Höchstgerichten verteidigt werden könnten.[196]

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Auch in der Regierungsvorlage zum Ratifizierungsgesetz wird daher festgestellt, dass die Kodifizierung dieser Rechtsprechung keinen „grundlegenden Qualitätswandel“ im Verhältnis von Unionsrecht und Verfassungsrecht bewirkt.[197] Unter Einbeziehung der sonstigen Primärrechtsänderungen kommt man zu dem Schluss, dass sie „die Grenze zu einer Gesamtänderung der Bundesverfassung nicht überschreiten“.[198] Der VVE wurde somit nach demselben Verfahren ratifiziert wie auch die vorangegangenen Vertragsänderungen.[199]

Erster Teil Offene Staatlichkeit › § 20 Offene Staatlichkeit: Österreich › III. Verfassungsrecht und EMRK

III. Verfassungsrecht und EMRK

1. Die EMRK als Teil des formellen Verfassungsrechts

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Die EMRK genießt in Österreich Verfassungsrang. Sie wurde im Jahr 1964, d.h. wenige Jahre nach dem Beitritt Österreichs zur EMRK im Gefolge einer Entscheidung des VfGH rückwirkend in den Verfassungsrang erhoben. Die EMRK steht somit neben den originär verfassungsrechtlichen Grundrechtsquellen als ein Grundrechtskatalog, der sich nicht aus der österreichischen Rechtstradition heraus formuliert und entwickelt hat.[200] Dies ist wohl auch einer der Gründe für die anfänglichen Schwierigkeiten vor allem des VfGH mit der Konvention,[201] die treffend mit einer „ausgeprägte[n] Reserviertheit gegenüber der Konvention“ umschrieben wurden.[202]

2. Die Integration der EMRK in das Verfassungsrecht

a) Die Ratifikation der EMRK und ihre Hebung in den Verfassungsrang

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Österreich hat die EMRK und das 1. Zusatzprotokoll am 13.12.1957 in Paris unterzeichnet.[203] Die Hinterlegung der Ratifikationsurkunde erfolgte am 3.9.1958.[204] Damit wurde die EMRK zu einem Bestandteil der österreichischen Rechtsordnung.[205] Ihre Genehmigung durch den Nationalrat erfolgte mit den für Verfassungsrecht vorgesehenen erhöhten Quoren. In den Erläuterungen zur Regierungsvorlage wurde die EMRK – aufgrund ihres Inhalts, der als materielles Verfassungsrecht qualifiziert wurde – als verfassungsändernder Staatsvertrag bezeichnet.[206] Die Absicht des Gesetzgebers, den Konventionsrechten den Status von „verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten“ zu verleihen, scheint demnach eindeutig.[207] Die Konvention wurde allerdings nicht ausdrücklich als verfassungsändernder Staatsvertrag bezeichnet. Dies entsprach zwar der damals geübten Praxis bei der Genehmigung von Staatsverträgen,[208] führte aber – vor allem aufgrund entsprechender Entscheidungen des VfGH – entgegen der herrschenden Ansicht in der wissenschaftlichen Lehre[209] dazu, dass ihr zunächst nur der Rang eines einfachen Gesetzes zugesprochen wurde.[210]