Handbuch Ius Publicum Europaeum

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a) Wortlaut der Verfassung von 1958

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Vier Artikel der Verfassung von 1958 regeln das Verhältnis von nationalem Recht zu internationalen Verträgen. Sie beziehen sich auch auf die im Kontext der europäischen Integration geschlossenen Verträge. Absatz 15 der Präambel der französischen Verfassung von 1946 – ein integraler Bestandteil der Verfassung von 1958 – gestattet beim Abschluss von Verträgen „zur Organisation und Verteidigung des Friedens erforderliche Souveränitätsbeschränkungen“. Die Beteiligung Frankreichs an den Europäischen Gemeinschaften gründet auf dieser Festlegung. Art. 53 CF sieht vor, dass die Ratifizierung der wichtigsten Verträge durch ein Gesetz (Parlament oder Volksentscheid) genehmigt werden muss. Art. 54 CF ermöglicht dem Conseil constitutionnel (Verfassungsrat) die Kontrolle internationaler Verpflichtungen vor ihrer Ratifizierung. Bei Verfassungswidrigkeit ist die Ratifizierung nur nach einer Verfassungsänderung möglich, was beim Vertrag von Maastricht erstmals der Fall war[8]. Art. 55 CF schließlich erkennt ordnungsgemäß ratifizierten oder genehmigten Verträgen unter dem Vorbehalt der Reziprozität „höhere Autorität als den Gesetzen“ zu und legt damit den Rang der Verträge in der Normenhierarchie fest. Der Vorbehalt der Reziprozität findet aufgrund der Besonderheit der durch sie begründeten Verpflichtungen allerdings weder auf Menschenrechtsabkommen noch auf das Gemeinschaftsrecht sowie bestimmte andere Verträge Anwendung.[9] Art. 55 CF ermöglicht französischen Richtern jedoch die Lösung von Konflikten zwischen nationalem und internationalem Recht zu Gunsten des letzteren.

b) Ausbleibende Verfassungsdebatte in den Jahren 1950 bis 1980

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Der Kontrast zwischen der herausragenden Bedeutung französischer Politiker in entscheidenden Augenblicken der Einigung Europas einerseits und die fehlende Debatte über die Auswirkungen der Ratifizierung der Verträge auf das französische Rechtssystem andererseits sticht ins Auge.

aa) Herausragende Bedeutung französischer Persönlichkeiten beim Aufbau Europas

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Die Bedeutung von Jean Monnet oder Robert Schuman für den Aufbau Europas in den ersten Jahren der Europäischen Gemeinschaften bedarf keiner besonderen Darlegung. Ihre persönlichen Erfahrungen während der Weltkriege, ihre Überzeugung von der Notwendigkeit, Deutsche und Franzosen miteinander zu versöhnen, ihr Pragmatismus und ihr politisches Gespür haben nachhaltig zur Errichtung der ersten Gemeinschaften beigetragen. Dass ihnen die politischen Rahmenbedingungen und eine massive Unterstützung seitens der Politik erheblich geholfen haben, kommt hinzu. Gaullisten und Kommunisten waren die einzigen, die die europäischen Integrationsentwürfe ablehnten.[10] 30 Jahre später hat Staatspräsident François Mitterrand mit dem Vertrag von Maastricht eine Vertiefung der Integration vorangetrieben, wobei ihm seine freundschaftliche Beziehung zu Bundeskanzler Helmut Kohl und die Verbindung zum Präsidenten der EU-Kommission Jacques Delors überaus hilfreich waren.[11]

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Andere Persönlichkeiten Frankreichs haben beim Aufbau Europas eine eher ambivalente Rolle gespielt. Die Ablehnung des Vertragsentwurfs der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) durch die Nationalversammlung 1954 lässt sich überwiegend noch mit der zeitlichen Nähe zum Krieg erklären und mit den Schwierigkeiten, eine Armee mit Beteiligung Deutschlands zu akzeptieren. Freilich konnte das passive Verhalten des Regierungschefs Pierre Mendès-France das integrationskritische Lager nur ermuntern. Mit seiner Weigerung, in dieser Sache klar Stellung zu Gunsten des Vertrages zu beziehen, überließ er seinen Gegnern das Feld. Im Gegensatz dazu nahm General de Gaulle immer eine entschlossen-kritische Haltung zu Europa ein. Weil er im Vereinigten Königreich das „Trojanische Pferd“ der Vereinigten Staaten in Europa sah, sprach er sich 1963 und 1967 auch gegen dessen Beitritt aus. Integrationspolitisch vertrat er eine strenge Konzeption der nationalen Souveränität. Wie die von seinem Außenminister Christian Fouchet Anfang der 1960er Jahre vorgelegten Pläne belegen, war er Verfechter einer politischen Kooperation der europäischen Staaten und lehnte eine immer weitergehende Integration ab. Dies wurde anlässlich der Krise der so genannten Politik des leeren Stuhls 1965–1966 besonders deutlich, als er seine Regierungsmitglieder zwang, nicht an den Treffen des Ministerrats in Brüssel teilzunehmen, um so gegen den Plan, die EWG mit Eigenmitteln auszustatten, zu protestieren. Unabhängig von ihren Vorstellungen über Europa haben freilich alle führenden französischen Politiker die Errichtung Europas immer als politisches Hauptthema betrachtet und sie in den Mittelpunkt der öffentlichen Debatte gerückt.

bb) Fehlende juristische Debatte über die Folgen einer Ratifizierung der Verträge

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Gleichwohl wurde die europäische Integration bis 1992 nicht von einer juristischen Debatte begleitet. Der verfassungsrechtliche Rahmen, in den sich das Völkerrecht seit 1958 einordnet, entsprach weitgehend der französischen Verfassung von 1946. Die relevanten Bestimmungen, die in der Präambel dieser Verfassung zu finden waren, wurden in die Verfassung von 1958 integriert: So gibt Art. 55 CF im Wesentlichen in klarerer Form den Wortlaut von Art. 26 der Verfassung von 1946 wieder. Eine Neuerung stellt allerdings Art. 54 CF dar, der die Kontrolle der Verträge durch den Conseil constitutionnel eingeführt hat. In der IV. Republik, die die Institution eines Conseil constitutionnel nicht kannte, wäre dies undenkbar gewesen, spielte doch die Entwicklung des Völkerrechts, genauer gesagt der europäischen Integration, für die Verfassunggeber keine Rolle. Seit der IV. Republik hat sich die französische Rechtsordnung internationalen Normen geöffnet. Dies war so selbstverständlich, dass dieser Grundsatz in den Verfassungsberatungen nicht einmal erwähnt wurde. Lediglich die Abfassung von Art. 55 CF über den Vorrang völkerrechtlicher Verträge vor den Gesetzen erregte einige Aufmerksamkeit, wobei allerdings allein der schließlich aufgenommene Vorbehalt der Reziprozität Gegenstand lebhafter und häufig obskurer Diskussionen zwischen den Spezialisten der verschiedenen, an der Ausarbeitung der Verfassung mitwirkenden Instanzen war.[12] Der Verfassunggeber hatte in dieser politisch unruhigen Periode andere Gründe zur Besorgnis: Im Vorjahr waren die Römischen Verträge ohne jeden Zwischenfall ratifiziert worden, und die von der IV. Republik übernommenen Grundsätze sollten eine Fortsetzung der französischen Außenpolitik ohne lange Debatten ermöglichen. Erst die Vertiefung der europäischen Integration förderte schließlich die Entstehung einer verfassungsrechtlichen Debatte über Europa.

2. Anerkennung des besonderen Charakters des europäischen Gemeinschaftsrechts seit 1992

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Anlässlich der durch die Ratifizierung des Vertrages von Maastricht erforderlichen Verfassungsänderung wurde Art. 88–1 in die Verfassung eingefügt, der besagt: „Die Republik wirkt in den Europäischen Gemeinschaften und der Europäischen Union mit, die aus Staaten bestehen, die sich freiwillig vertraglich dazu entschlossen haben, einige ihrer Kompetenzen gemeinsam auszuüben“. Diese Bestimmung weist dem Gemeinschaftsrecht einen besonderen Platz zu, da sie dieses nicht mehr (nur) den verschiedenen Verfassungsnormen zum Völkerrecht zuordnet. Art. 88–1 CF erkennt vielmehr an, dass der Aufbau Europas Wege geht, die nicht immer mit denen anderer internationaler Organisationen zu vergleichen sind. Gleichzeitig gibt er der Rechtsprechung zur Unterscheidung des Rechtsstatus „gewöhnlicher“ Verträge von denen des Unionsrechts ein neues Mittel an die Hand. Der Conseil constitutionnel ist dabei, diesen Weg zu gehen.[13]

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Der Wortlaut von Art. 88–1 CF wurde anlässlich der Verfassungsänderung von 2004 zur Ratifizierung des Europäischen Verfassungsvertrages (VVE) modifiziert. Das Verfassungsgesetz vom 1. März 2005 berücksichtigte mit zwei unterschiedlichen Fassungen beide denkbaren Ausgänge des Referendums über den VVE. Bis zu einer Ratifizierung des VVE erhielt Art. 88–1 CF einen zusätzlichen Absatz, der die Mitarbeit in der EU zu den im VVE festgelegten Bedingungen ermöglicht. Wäre er ratifiziert worden, hätte ein gänzlich neuer Art. 88–1 CF verfügt: „Die Republik wirkt unter den Bedingungen, wie sie im am 29. Oktober 2004 unterzeichneten Vertrag zur Einführung einer Europäischen Verfassung festgelegt wurden, in der Europäischen Union mit, die aus Staaten besteht, die sich freiwillig für eine gemeinsame Ausübung ihrer Kompetenzen entschieden haben“. Die aktuelle Fassung jedenfalls bewahrt die verfassungsrechtliche Basis der Mitwirkung Frankreichs in einer EU ohne VVE.

Erster Teil Offene Staatlichkeit › § 15 Offene Staatlichkeit: Frankreich › II. Vom europäischen Gemeinschaftsrecht aufgeworfene Probleme

II. Vom europäischen Gemeinschaftsrecht aufgeworfene Probleme

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Die Umsetzung des Gemeinschaftsrechts in französisches Recht wirkt sich zunächst auf die Organisation der Staatsorgane aus. Obwohl das Gemeinschaftsrecht die institutionelle Autonomie der Mitgliedstaaten im Prinzip bewahrt und daher keine Vorgaben darüber enthält, wie die innerstaatliche Machtverteilung auszusehen hat, wirkt es sich doch indirekt auf das interne Funktionengefüge aus. Der Bedeutungsverlust des Parlaments (1) ist das sichtbarste Zeichen der Europäisierung des Institutionengefüges. Zudem haben die zur Ratifizierung der Verträge durchgeführten Referenden Meinungsverschiedenheiten im Volk deutlich gemacht (2). Die eminente Funktion der Richter und die schrittweise Anerkennung der rechtlichen Konsequenzen der europäischen Integration in der Rechtsprechung (3) sind schließlich diskrete, aber wesentliche Auswirkungen dieser Integration.

 
1. Bedeutungsverlust des Parlaments

a) Vorrangstellung der Regierung bei Anwendung des Gemeinschaftsrechts

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Das Parlament war – sieht man einmal von der erforderlichen Genehmigung einer Vertragsratifizierung ab – lange Zeit nicht an den französischen Entscheidungen zur Europapolitik beteiligt. Das hatte mehrere Ursachen. An erster Stelle ist hier zu nennen, dass die Außenpolitik als Privileg der Exekutive betrachtet wird. In Sachen Außenpolitik verleiht die Verfassung dem Staatspräsidenten oder der Regierung keine besondere Zuständigkeit. Sie ist neben anderen Materien vielmehr ein Bestandteil der von ihnen geführten Politik des Landes. Insoweit gehört es zur Tradition, dass die Exekutive in Sachen Außenpolitik große Handlungsfreiheit genießt. Man hat sogar – fälschlicherweise – von einer domaine réservé (Prärogative) des Staatspräsidenten gesprochen.[14] Da die Europapolitik immer Teil der Außenpolitik war, konnte es nicht überraschen, dass das Parlament kaum in sie einbezogen wurde. Daneben diente die Errichtung der V. Republik auch dazu, den tatsächlichen oder mutmaßlichen Machtmissbrauch durch das Parlament in den vorangegangenen Verfassungsordnungen zu verhindern.[15] Die Autoren der Verfassung von 1958 wollten die parlamentarischen Vorrechte einschränken und haben daher auch nicht versucht, die europaverfassungsrechtlichen Befugnisse der Abgeordneten zu erweitern. Schließlich war auch das Verfahren zur Gründung der Gemeinschaften und der Europäischen Union nicht geeignet, die Funktion des Parlaments zu stärken. Die Verträge, wie auch alle anderen wichtigen Entscheidungen, wurden lange Zeit allein von den Regierungen vorbereitet. Zudem verlor das französische Parlament – wie alle anderen europäischen Parlamente – durch die Kompetenzübertragung an die Gemeinschaften einen Teil seiner gesetzgebenden Gewalt.[16]

b) Konsultation des Parlaments zu Vertragsentwürfen der Gemeinschaft

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In Frankreich gab es lange Zeit kein besonderes Interesse daran, das (nationale) Parlament in die Europapolitik einzubeziehen. Erst 1992 erhielt es ein Recht auf Einsichtnahme in die wichtigsten Gemeinschaftsentscheidungen. Aus Anlass der Verfassungsänderung zur Ratifizierung des Vertrages von Maastricht wurde Art. 88–4 in die Verfassung aufgenommen. Die Regierung präsentierte ihn als Kompensation für den durch die erneute Übertragung von Kompetenzen an die Gemeinschaften entstandenen Verlust gesetzgebender Gewalt. Die Vorschrift stellt sicher, dass die Regierung beiden Kammern Entwürfe zu Gemeinschaftsverträgen mit Gesetzescharakter vorlegt. Die Kammern äußern sich zu einer in Rede stehenden Übertragung von Kompetenzen auf die Europäische Union, wobei ihre Auffassung durch Annahme einer Resolution formalisiert werden kann. Diese Resolutionen sind für die Regierung bei ihren Brüsseler Verhandlungen nicht bindend. Dieses Verfahren ist 1992 geschaffen worden, um das Parlament zu stärken. Damit sollte die Übertragung von Gesetzgebungszuständigkeiten an die EG ausgeglichen werden.[17] Es wird aber diskutiert, ob das Verfahren dem Parlament tatsächlich ermöglicht, einen gewissen Einfluss auszuüben.[18] Auf jeden Fall stärkt die Einbindung des Parlaments die französische Regierung gegenüber ihren Partnern. Daraus leiten manche Kommentatoren ab, dass Art. 88–4 CF, anstatt das Parlament mit neuen Handlungsvollmachten auszustatten, eher die Exekutive stärkt.[19]

2. Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Bevölkerung

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In der Absicht, die Macht des Parlaments einzuschränken und die Exekutive zu stärken, räumt die französische Verfassung dem Staatsoberhaupt die Möglichkeit ein, jederzeit das Volk anzurufen und gesetz- (Art. 11) oder verfassunggebende (Art. 89) Referenden anzusetzen. Die Durchführung eines Referendums ist dabei immer fakultativ. Im Gegensatz zu General de Gaulle, der auf die Durchführung von Referenden geradezu versessen war, haben seine Nachfolger wesentlich weniger auf dieses Instrument zurückgegriffen. Von den fünf Referenden seit dem Rücktritt de Gaulles hatten drei einen Bezug zum Aufbau Europas.

a) Ambivalenz des Rückgriffs auf den Volksentscheid

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Die Ergebnisse der Referenden zum Beitritt Englands (1972), zur Ratifizierung des Vertrags von Maastricht (1992) und zur Ratifizierung des VVE (2005) zeigen die ganze Ambivalenz eines Rückgriffs auf Volksentscheide. Denn keiner dieser Volksentscheide war angesichts der unvermeidlichen Konfusion mit anderen Zielen in seiner politischen Botschaft eindeutig. Obwohl Referenden eigentlich dazu bestimmt sind, den Bürgern eine direkte Mitwirkung an politischen Entscheidungen zu ermöglichen, sind sie für die, die sie ansetzen – in Frankreich ausschließlich der Staatspräsident – immer auch ein Mittel, sich des Rückhalts in der Bevölkerung zu vergewissern oder die parlamentarische Opposition auszuschalten. Diese Ambivalenz wird in europäischen Fragen besonders deutlich, weil diese nicht beständig in die politische Diskussion einfließen oder sonst im Mittelpunkt des politischen Interesses stehen. Die Bürger werden somit aufgefordert, sich zu einer Frage zu äußern, die ihnen häufig fremd oder gleichgültig ist, und für die Politiker ist die Versuchung groß, in die Diskussion über Europa innenpolitische Aspekte einfließen zu lassen. Sicher steht das Scheitern der Linken in den Kreis- und Regionalwahlen von 1992 im Zusammenhang mit der Entscheidung Präsident Mitterrands, zur Stärkung seiner Popularität ein Referendum über die Ratifizierung des Vertrags von Maastricht anzusetzen. Ebenso tragen das Scheitern der Rechten in den Regionalwahlen von 2004 und die Absicht, von der Spaltung innerhalb der größten Oppositionspartei, der sozialistischen Partei (PS), zu profitieren, zur Erklärung bei, weshalb Präsident Chirac auch bei der Ratifizierung des VVE auf ein Referendum gesetzt hat. Diese Gemengelage – die Hintergedanken der Politiker, die technokratisch formulierten Fragen, die Unkenntnis über Europa sowie das Gefühl, dass die Würfel bereits gefallen sind – mindern die Mitwirkungsbereitschaft der Bürger oder begünstigen eine Ablehnung der Verträge. Die Beteiligung am Referendum von 1972 war relativ schwach (etwa 60% gegenüber beinahe 80% anlässlich des von de Gaulle angesetzten Referendums); die Beteiligung am Referendum von 1992 betrug dagegen über 70%, doch gab es für das „Ja“ zum Maastrichter Vertrag nur eine hauchdünne Mehrheit (knapp 51%). Das Referendum vom 29. Mai 2005 über die Ratifizierung des VVE entsprach den vorangegangenen Volksbefragungen: Bei einer Beteiligung von wiederum 70% wurde der VVE mit 54,87% der abgegebenen Stimmen abgelehnt.

b) Bedeutung der sozioökonomischen Diskrepanzen

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Beinahe alle Untersuchungen zum Referendum von 1992 offenbaren eine Diskrepanz zwischen Städten und gesellschaftlichen Eliten einerseits sowie der Landbevölkerung und weniger privilegierten Bevölkerungsgruppen andererseits.[20] Während erstere ihre Zustimmung zum Aufbau Europas typischerweise bekräftigen, manifestieren letztere ihre Ablehnung und Furcht gegenüber einem Phänomen, das sie nicht verstehen und das ihnen nicht nur Vorteile bringt. Die ersten Untersuchungen der Ergebnisse des Referendums vom Mai 2005 bestätigen diese Schlussfolgerungen teilweise, weisen aber auch auf einen wesentlichen Wandel hin.[21] 1992 war die Mittelschicht in zwei Gruppen gespalten: Die Angestellten der Privatwirtschaft neigten eher dazu, den Vertrag von Maastricht abzulehnen, während der öffentliche Dienst ihn unterstützte. 2005 hat sich der öffentliche Dienst dagegen massiv den Gegnern des VVE angeschlossen. Der Wirtschaftsexperte Eric Maurin erklärt dies mit der zunehmenden Segmentierung der Gesellschaft,[22] die auch an typischen, in der Gesellschaft anzutreffenden Überlegungen zur Wahl des Wohnsitzes, die auf den Schulbesuch zurückwirken, deutlich wird, oder in der Neigung der Oberschichten, „unter sich“ zu bleiben und einen Großteil der Mittelschicht auszugrenzen. Für letztere ist die Angst vor ihrer Marginalisierung angesichts mangelnder Perspektiven eines sozialen Aufstiegs und des Risikos der Arbeitslosigkeit so greifbar, dass sie sich in den Abstimmungsergebnissen niederschlägt.

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Insgesamt lässt sich die Ablehnung des VVE mit dem Zusammenspiel mehrerer Faktoren erklären. Manche waren konjunkturell bedingt und beruhten auf einer Reihe von Missverständnissen, aber auch auf der Missachtung der europäischen Herausforderungen aus Gründen des persönlichen Ehrgeizes. Vor allem Letzteres erklärt die verzerrte Darstellung des VVE durch einige seiner „gemäßigten“ Gegner, etwa den ehemaligen sozialistischen Premierminister Laurent Fabius, aber auch der Umstand, dass manche in der Ablehnung des VVE das einzige Mittel sahen, Europa sozial und politisch voranzubringen. Zu den Ursachen für die Ablehnung gehört ferner die Vermischung von Verfassungs- und Erweiterungsfragen, weil die Verfassungsdebatte von einigen Vertragsgegnern geschickt mit der Frage des Beitritts der Türkei verknüpft wurde. Schließlich haben zahlreiche Wähler die Abstimmung über den VVE mit einem Referendum über seinen Urheber verwechselt und die Gelegenheit ergriffen, ihre Ablehnung der Politik der Regierung und des Staatspräsidenten zu artikulieren.

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Neben diesen tagespolitischen Faktoren sind aber auch tiefgreifendere Gründe für die Ablehnung des Verfassungsvertrags zu erkennen. Zunächst hat das Referendum die Stärke der allesamt europafeindlichen extremen Rechts- und Linksparteien bestätigt, die zusammen etwa ein Viertel des Wählerpotentials ausmachen. Darüber hinaus hat die Kampagne zum Volksentscheid die schleichende Fremdenfeindlichkeit in der französischen Gesellschaft deutlich gemacht. Insofern basiert das Votum vom 29. Mai zum Teil auch auf der Furcht vor einer Bedrohung der Arbeitsplätze durch ausländische Arbeitnehmer, einer Motivation, die nicht nur für die Wählerschaft der Extremparteien maßgebend war.[23] Die Furcht vor dem „polnischen Klempner“, der seinem französischen Kollegen den Arbeitsplatz wegnimmt, wurde in politischen Debatten und in den Medien hochgespielt. Er wurde von einem Teil der Linken gleichsam als Inbegriff des „Wirtschaftsliberalismus“ stigmatisiert. Drittens haben die hohe Arbeitslosigkeit und eine ungewisse Zukunft zahlreiche Wähler dazu verleitet, den VVE abzulehnen.[24] Die Monate vor dem Referendum haben schließlich die Unfähigkeit der führenden Politiker bestätigt, die europäischen Herausforderungen deutlich zu machen. Da die EU allgemein als Ursache von Zwängen oder Ort von Kuhhandel präsentiert wird, konnte sie den Franzosen nicht plötzlich als begeisterungswürdiges politisches Projekt erscheinen, zumal die Anhänger des „Ja“ kein überzeugendes Konzept für Frankreich und Europa vorgelegt hatten. Die Auswirkungen dieses Votums auf den Fortgang der europäischen Integration und die französische Politik sind bislang nicht vorhersehbar. Mit der Ernennung eines neuen Premierministers zwei Tage nach dem Referendum ist es sicher nicht getan. Es scheint, als könnte nur eine spürbare Verbesserung der wirtschaftlichen und sozialen Lage sowie eine grundlegende Politikerneuerung die Ängste zahlreicher Franzosen vor dem Fortgang der Integration zerstreuen und Vertrauen in den weiteren Aufbau Europas schaffen.

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Wie auch immer man das Ergebnis bewerten mag – die Ansetzung eines Referendums hat zumindest zwei Vorteile im Vergleich zu einer nur parlamentarischen Abstimmung deutlich gemacht: Zum einen gingen dem Referendum zahlreiche Debatten über die EU voraus. Das hatte es seit der Kampagne zum Referendum von 1992 nicht mehr gegeben, denn die Europawahlen lösen in Frankreich keine wirklich europäischen Debatten aus. Wenn auch die Diskussionen durch das übliche Maß an Taktiererei geprägt waren, wie sie jede politische Auseinandersetzung kennzeichnet, so haben sie zumindest zu einem breiten Diskurs über alle Fragen der europäischen Integration geführt. Zum anderen hätte ein parlamentarisches Votum den Bürgern die Möglichkeit genommen, selbst Stellung zu beziehen. Es wäre paradox gewesen, den Aufbau Europas ein weiteres Mal Experten, Ministern und Abgeordneten zu überlassen, während die europäischen und nationalen Eliten gegen das „demokratische Defizit“ der Europäischen Union[25] aufbegehren.[26] Langfristig jedenfalls wäre das Risiko einer sich weiter vergrößernden Diskrepanz zwischen Abgeordneten und Wählern erheblich gewesen.