Handbuch Ius Publicum Europaeum

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III. Die Thematik „Europäische Menschenrechtskonvention“

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Die französischen Behörden haben die Ratifizierung der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), so lange sie konnten, hinausgezögert (1). Aufgrund der verspäteten Ratifizierung konnte sie in Frankreich erst zu Beginn der 1970er Jahre Anwendung finden. Von da an haben sich die Gerichte mit ihr befasst und greifen zunehmend auf sie zurück (2). Wie das Gemeinschaftsrecht hat auch die Konvention die Stellung der Gerichte im französischen Institutionengefüge gestärkt.

1. Das zögerliche Verhalten der Staatsorgane

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In den Jahren 1949/1950 gehörte die französische Regierung zu den Initiatoren der EMRK. Bedeutende französische Juristen wie René Cassin und Pierre-Henri Teitgen haben eine maßgebliche Rolle bei der gedanklichen Ausarbeitung des Textes und den anschließenden Verhandlungen gespielt. René Cassin stand gar dem EGMR vor. Frankreich gehört zu den Gründerstaaten des Europarats und zu den ersten Unterzeichnern der Konvention. Dennoch benötigte es beinahe 30 Jahre, bis es die Konvention ratifizierte (a) und das Recht auf Einzelbeschwerde vor dem EGMR zuließ (b).

a) Späte Ratifizierung der Konvention

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Trotz zweier Versuche (1953 und 1956) kam es erst 1974 zur Ratifizierung, über zwanzig Jahre nach der Unterzeichnung des Textes im Jahre 1950. Vor allem zwei Gründe erklären diese späte Ratifizierung: Zunächst der Algerienkrieg. Regierung und Parlament zögerten den Zeitpunkt der Übernahme des Textes in französisches Recht aus der Furcht heraus in die Länge, dass bei Anwendbarkeit der Konvention in Frankreich bestimmte Praktiken der französischen Armee in Algerien gerichtlich hätten verfolgt werden können. Der zweite, lange über das Ende des Algerienkriegs 1962 fortwirkende Grund, ist auf den Nationalstolz zurückzuführen. Das nach der Rückkehr de Gaulles an die Macht 1958 besonders intensive Bemühen um nationale Unabhängigkeit erzeugte großes Misstrauen gegenüber von außen „aufgezwungenen“ Vorschriften. Zudem trug der Stolz darauf, „die Heimat der Menschenrechte“ zu sein, bei manchen Politikern zu der Annahme bei, die EMRK sei nutzlos, ihre Annahme gar gefährlich. Die Konvention war aus dieser Sicht nicht erforderlich, weil Frankreich stolz auf eine umfassende Gerichtsbarkeit und auf Richter sein konnte, die insbesondere die Achtung der Menschenrechte sicherten. Von einer Ratifizierung der EMRK befürchtete man Verwirrung oder gar eine Senkung des von den französischen Institutionen gewährten Schutzstandards. Eine merkwürdige Mischung aus Überlegenheitsgefühl und Furcht vor eventuellen Folgen der Konvention für Frankreich hat ihre Ratifikation somit lange Zeit verhindert.[60]

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Ein Einstellungswandel vollzog sich erst unter der Präsidentschaft von Georges Pompidou. Der Wille, das Europa der Menschenrechte voranzubringen, und die Furcht vor einer Isolierung Frankreichs besiegten die Vorbehalte. Dennoch standen sich weiterhin zwei Lager gegenüber. Die Regierungsmehrheit wünschte eine Ratifizierung mit Vorbehalten und lehnte das Recht auf Einzelbeschwerde kategorisch ab; die Opposition dagegen forderte eine weitergehende Übernahme. Natürlich behielt die Mehrheit in der Assemblée nationale bei dieser Entscheidung die Oberhand. Die Ratifizierung wurde im Mai 1974, kurz nach dem Tod von Präsident Pompidou, auf den Weg gebracht. Trotz Anerkennung der obligatorischen Zuständigkeit des EGMR lehnte Frankreich das Recht auf Einzelbeschwerde ab. Außerdem wurde die Ratifizierung von einer Erklärung, die auf die Erhaltung des Monopols der nationalen Einrichtung für audiovisuelle Übertragungen abzielte (die Art. 10 EMRK betraf und inzwischen zurückgenommen wurde), von zwei Vorbehalten begleitet. Einer schloss die Anwendung des Disziplinarsystems der EMRK auf die Streitkräfte aus. Der andere bezieht sich auf Art. 15 EMRK, der bei außergewöhnlichen Umständen Ausnahmen zulässt, und auf Art. 16 CF, der dem Staatspräsidenten in schwerwiegenden Fällen die Befugnis zugesteht, sich mit uneingeschränkten Vollmachten auszustatten. Gemäß diesem Vorbehalt ist jede Anwendung von Art. 16 CF mit der Konvention vereinbar.

b) Zögerliche Zulassung der Einzelbeschwerde

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Bei den Diskussionen über das Transformationsgesetz im Jahre 1973 beharrte die Regierung auf der notwendigen Anpassungsphase der Staatsorgane, insbesondere der Richter, an die Konvention „während einer normalen Frist von einigen Jahren“[61]. Die Zulassung der Einzelbeschwerde hätte zudem das Risiko beinhaltet, die französischen Autoritäten zu brüskieren. Ferner wurde die Furcht vor einer Flut von Einzelbeschwerden angeführt. Schließlich sei das französische Rechtssystem bereits voll und ganz auf die Garantie der Freiheitsrechte ausgerichtet. Die Beschwerde vor internationalen Instanzen sei daher nicht von Nutzen. Wie seinerzeit zahlreiche Kommentatoren hervorhoben, hat Frankreich die Menschenrechte lieber proklamiert als sie tatsächlich garantiert.[62] So lehnte Frankreich gerade das ab, was die Stärke und Originalität der Konvention ausmacht.

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Begünstigt durch den politischen Wechsel im Amt des Staatspräsidenten und in der Nationalversammlung wurde die Einzelbeschwerde schließlich 1981 zugelassen. Präsident François Mitterrand hielt damit ein Wahlversprechen, indem er kurze Zeit nach Machtantritt die Zulassung der Einzelbeschwerde durch Frankreich erklärte. Deren Wirkung ließ nicht lange auf sich warten.[63] Bereits 1982 wurden 93 Individualbeschwerden gegen Frankreich erhoben. Ihre Zahl stieg rasch an. 2005 waren es 2826.[64] Auch Frankreich hat auf diese Weise zur Überlastung des EGMR und zu Überlegungen beigetragen, die zur Annahme des 14. Zusatzprotokolls zur EMRK vom Mai 2004 führten.[65]

2. Wachsender Einfluss der Konvention auf die Rechtsprechung

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Wie bei der Umsetzung des Gemeinschaftsrechts fand sich die Rechtsprechung bei der Anwendung der EMRK an vorderster Front. Nach ihrer Ratifizierung konnte die Konvention in Frankreich unter den von der französischen Verfassung für sämtliche internationalen Verträge festgelegten Bedingungen angewandt werden. Gemäß Art. 55 CF besitzt sie daher eine „höhere Autorität als die Gesetze“. Obwohl der Wortlaut der Konvention einfach schien, war die Stellungnahme der Richter weniger eindeutig und offenbart noch heute einige Ungereimtheiten. Die Zivil- und Verwaltungsgerichte (a), angeführt jeweils von der Cour de Cassation und vom Conseil d’État, hatten einige Mühe, sich an dieses von außen hereingetragene Recht zu gewöhnen. Beim Conseil constitutionnel (b), der die Konvention erst kürzlich „entdeckte“ und offenbar Schwierigkeiten hat, sie voll und ganz in seine Rechtsprechung zu integrieren, ist dieses Phänomen noch auffälliger.

a) Zivil- und Verwaltungsgerichte

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Erst Ende der 1980er Jahre legte die Rechtsprechung ihre Zurückhaltung ab und war bereit, alle Konsequenzen aus der Ratifizierung der EMRK zu ziehen. Einige Jahre später wurden ihre Auswirkungen auf die unterschiedlichen Bereiche des französischen Rechts für die Rechtslehre zum Studienobjekt ersten Ranges.[66] Die Haltung der französischen Gerichte, insbesondere der Obergerichte Cour de Cassation und Conseil d’État, zeugt vom aufrichtigen Willen, die EMRK anzuwenden. Gedämpft wird dieser allerdings durch die Ablehnung, sich voll und ganz einer der französischen Rechtsordnung fremden Rechtsprechung zu unterwerfen. Die Umsetzung der Rechtsprechung des EGMR stößt daher bisweilen auf Widerstände.

aa) Zivilgerichte

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Die Zivilgerichte waren bereitwilliger als die Verwaltungsgerichte, die Anwendbarkeit der Konvention und ihren Vorrang vor dem französischen Recht anzuerkennen. Wie schon beim Gemeinschaftsrecht legten sie eine eigene Herangehensweise zugrunde. Bereits 1975 entschied die Strafkammer der Cour de Cassation, dass die Bestimmungen der Strafprozessordnung zur Untersuchungshaft mit der EMRK unvereinbar waren.[67] Seit diesem Datum zeugen zahlreiche Entscheidungen verschiedener Kammern der Cour de Cassation vom Willen dieser obersten Gerichtsinstanz, über die Einhaltung der Konvention zu wachen. Am häufigsten wird hierbei auf Art. 6 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren) und Art. 8 EMRK (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) zurückgegriffen. Die Abhörmaßnahmen sind eines der aufsehenerregendsten Beispiele für den Einfluss der Konvention auf die Zivilgerichte. Die äußerst laxe französische Bestimmung zu Abhörmaßnahmen wurde vom EGMR in seinem Beschluss Kruslin und Huvig aus dem Jahr 1990 als mit Art. 8 EMRK unvereinbar erklärt.[68] Kaum einen Monat später hat die Cour de Cassation ihre Rechtsprechung modifiziert und dem Standpunkt des EGMR angeglichen.[69] Der Gesetzgeber ist dem schließlich gefolgt und hat für die Polizeiorgane strengere allgemeine Vorschriften bei Abhörmaßnahmen festgelegt.[70] Freilich ist die Umsetzung der EMRK durch den Kassationsgerichtshof nicht immer so spektakulär. Aus einem den Obergerichten eigenen Unabhängigkeitsbestreben heraus ist er dem EGMR häufig gefolgt, ohne ausdrücklich auf dessen Rechtsprechung Bezug zu nehmen. Er führte dabei häufig die unterschiedlichsten Artikel der EMRK an, ohne deutlich zu machen, dass die gewählte Auslegung auf den EGMR zurückgeht. Das französische Recht zur Transsexualität wurde auf diese Weise den Ansprüchen des EGMR angepasst.[71] Manchmal treibt ihn sein Autonomiestreben noch weiter, so dass er seine Entscheidungen allein auf französisches Recht stützt, ohne auch die Konvention zur Untermauerung seiner Schlussfolgerung zu zitieren. Die neue Zivilprozessordnung wird Art. 6 EMRK, Art. 9 Code civil der Bestimmung des Art. 8 EMRK vorgezogen.[72]

 

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Schwerwiegender noch ist, dass die Rechtsprechung des Kassationsgerichtshofs hin und wieder rebellische Anwandlungen gegenüber dem EGMR zeigt, wobei die punktuelle Ablehnung seiner Rechtsprechung mit einem Rest unangebrachter Empfindlichkeit gegenüber europäischen Richtern erklärt werden kann. Dies war etwa in Sachen Papon der Fall, einem früheren Generalsekretär der Präfektur der Gironde, dem Verbrechen gegen die Menschlichkeit zur Last gelegt wurden. Ein alter Artikel der Strafprozessordnung untersagte dem Kassationsgerichtshof, sich der Sache anzunehmen, solange der Verurteilte auf der Flucht war. Diese Vorschrift wurde vom Gesetzgeber im Jahr 2000 aufgehoben. Mit seinem Beschluss Poitrimol hatte der EGMR entschieden, dass diese Bestimmung mit Art. 6 Abs. 1 der Konvention insofern unvereinbar war, als sie bestimmten Verurteilten das Recht absprach, sich an ein Gericht zu wenden.[73] Dennoch wurde der Revisionsantrag Papons für unzulässig erklärt, da er nicht vor dem Gericht erschienen war. Der Europäische Gerichtshof war daher gezwungen klarzustellen, dass Art. 6 Abs. 1 erneut verletzt worden war.[74] Die Ablehnung einer europäischen Rechtsauslegung kann ihre Erklärung auch in der Treue zum französischen Recht oder dem Willen finden, den Gesetzgeber reagieren zu lassen. Dies war anlässlich der – ungerechten – Erbfolgeregelungen für nichteheliche Kinder der Fall. Trotz der vom EGMR seit 1979 im Namen des Rechts auf Schutz der Familiensphäre empfohlenen Gleichbehandlung solcher Kinder hat es die Cour de Cassation abgelehnt, die Unvereinbarkeit der Bestimmungen des französischen Zivilgesetzbuchs mit der Konvention festzustellen.[75] Die gleiche Haltung lässt sich auch bezüglich einiger Strafverfahrensregelungen beobachten.[76]

bb) Verwaltungsgerichte

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Die Verwaltungsgerichte hatten – wie schon bei der Umsetzung des Gemeinschaftsrechts – noch längere Zeit Vorbehalte gegen eine Umsetzung der EMRK. Ihre Treue zum Vorrang des Gesetzes hielt sie lange davon ab, den Vorrang von Normen fremden Ursprungs gegenüber später in Frankreich erlassenen Gesetzen anzuerkennen. Nach Anerkennung des Vorranges des internationalen Rechts auch gegenüber später verabschiedeten Gesetzen im Beschluss Nicolo aus dem Jahr 1989[77] hat das oberste Verwaltungsgericht allerdings nicht mehr gezögert, sich auf die EMRK zu beziehen und die mit ihr unvereinbaren Gesetze oder Verordnungen zurückzuweisen. Die Bestimmungen der Konvention, die die Verwaltungsrechtsprechung am meisten beeinflusst haben, sind Art. 3 EMRK (Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung), Art. 6 EMRK (Recht auf einen fairen Prozess) und Art. 8 EMRK (Recht auf Schutz der Familiensphäre). Nach langem Widerstand hat der Conseil d’État schließlich auch die Anwendung von Art. 6 EMRK bei Verfahren vor Berufsgerichten wie der Ärztekammer akzeptiert.[78] Gestützt auf Art. 3 EMRK lehnt er wie der EGMR die Auslieferung eines Ausländers an ein Land ab, in dem dieser mit der Todesstrafe rechnen muss.[79] Die tatsächliche Öffnung der Verwaltungsrechtsprechung für die Konvention darf freilich nicht verschleiern, dass der Conseil d’État, wie der Kassationsgerichtshof, danach strebt, seine Unabhängigkeit gegenüber dem EGMR zu bewahren. Als Gericht letzter Instanz vermeidet er den Eindruck, sich systematisch den in Straßburg vertretenen Standpunkten anzupassen. Er erklärt die Konvention für anwendbar, doch wendet er sie nicht immer wie vom EGMR vorgegeben an, wie etwa seine Entscheidungen in Abschiebungsverfahren illustrieren. Seit 1991 vertritt der Conseil d’État insoweit die Auffassung, dass die von der Verwaltung angeordnete Abschiebung von Ausländern unter Beachtung des von Art. 8 EMRK eingeräumten Rechts auf Schutz der Familiensphäre zu überprüfen ist.[80] Gleichwohl blieb er dabei hinter dem Europäischen Gerichtshof zurück und legte Art. 8 EMRK weniger streng aus. Gleiches gilt für die Meinungsfreiheit.[81]

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Über punktuelle Einflüsse auf diverse Aspekte der Verwaltungsrechtsprechung hinaus haben die EMRK und die aus ihr resultierende Rechtsprechung weitergehende Einflüsse auf die Verwaltungsgerichte. S. Braconnier hat ihnen besondere Aufmerksamkeit gewidmet.[82] Die Gerichte, wie im Übrigen auch der Gesetzgeber, berücksichtigen jedenfalls „den Geist“ der Entscheidungen des EGMR. Ohne diesen zu zitieren, hat der Conseil d’État manche Verfügung erlassen, die die Grundrechte in deren Sinn auslegt. So hat er die gerichtliche Überprüfung behördlicher Ordnungsmaßnahmen zugelassen, etwa von Disziplinarstrafen in Gefängnissen oder in der Armee. Solche Maßnahmen galten noch bis vor kurzem als rein verwaltungsintern und waren damit der gerichtlichen Kontrolle nicht unterworfen.[83] Auch bei Auslegung der Religionsfreiheit ist der Conseil d’État stillschweigend den Entwicklungen der europäischen Rechtsprechung gefolgt. Nachdem er zunächst die Auffassung vertreten hatte, dass das Tragen religiöser Symbole durch Schüler öffentlicher Schulen im Prinzip zuzulassen sei,[84] hat er eingeräumt, dass der Gesetzgeber (Gesetz vom 15. März 2004) ein grundsätzliches Verbot aussprechen kann.[85] Es bestehen kaum Zweifel, dass sich der Conseil d’État dabei offen an einem Beschluss des EGMR von 2004 orientierte,[86] ungeachtet der Tatsachen, dass dieser Beschluss damals noch nicht rechtskräftig war (die Große Kammer wurde damit befasst) und der Gerichtshof zur Begründung seiner Entscheidung nachdrücklich auf die besonderen Gegebenheiten in der Türkei abstellte. Daran wird deutlich, dass „der Geist“ Straßburgs sowohl Fortschritte in der französischen Rechtsprechung bewirken als auch zweifelhafte Auslegungen der Konvention rechtfertigen kann. Insgesamt hatte die EMRK sicher einen positiven Einfluss auf die Verwaltungsgerichte. Sie hat dazu geführt, dass diese das Verwaltungsrecht verstärkt zu Gunsten des Einzelnen interpretieren und ihre Aufmerksamkeit nicht mehr nur dem Allgemeininteresse zuwenden. Nach und nach haben die Individualrechte so an Bedeutung gewonnen.[87] Die Rechtsprechung hat sich damit vom Garanten des Allgemeininteresses (Legalitätsprinzip) zum höchsten Verteidiger der Rechte und Freiheiten des Individuums gewandelt und sich damit der deutschen Konzeption angenähert.

b) Conseil constitutionnel

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An der Übernahme der Europäischen Menschenrechtskonvention und der Beschlüsse des Europäischen Gerichtshofs in die Verfassungsrechtsprechung bestehen keine Zweifel. Sie ist Teil der auf die fortschreitende Integration in die Europäische Union zurückgehenden „Internationalisierung der nationalen Verfassungen“[88]. Doch ist der tatsächliche Einfluss der EMRK auf den Conseil constitutionnel schwer zu messen, da er sich praktisch nie auf ihre Bestimmungen und weit weniger noch auf die Entscheidungen des Gerichtshofs bezieht. Die Ablehnung einer Einbeziehung der Konvention in den „bloc de constitutionnalité“, also in die Gesamtheit der vom Gesetzgeber zwingend zu beachtenden Normen, dessen Achtung der Conseil constitutionnel überwacht, erklärt dieses Schweigen.[89] Diese Haltung stützt sich auf eine strenge Auslegung der französischen Verfassung und erleichtert dem Conseil constitutionnel, die EMRK nur implizit anzuwenden.[90] Die Ausweitung der Rechte der Verteidigung durch das Verfassungsgericht, die weite Auslegung der Meinungsfreiheit oder auch die Bereicherung mancher Auslegungsmethoden bezeugen jedoch den Einfluss der europäischen Rechtsprechung.[91]

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Es gibt Anzeichen, dass der Conseil constitutionnel seine „Inspirationsquellen“ künftig offener ausweisen will. In diese Richtung deutet namentlich seine Entscheidung über die Vereinbarkeit des VVE mit der französischen Verfassung.[92] In der Begründung zu dieser Entscheidung erwähnt der Conseil constitutionnel ausdrücklich die Festlegung des EGMR zur Religionsfreiheit in seiner ersten Entscheidung in Sachen Leyla Sahin und bezieht sich in den Entscheidungsgründen auf sie. Dass er die Entscheidung des EGMR dabei verkürzt, mag man bedauern.[93] Er scheint aber auch die für den EGMR geltenden Verfahrensregeln zu verkennen, indem er sich auf einen damals noch nicht rechtskräftigen Beschluss stützt, da von der Antragstellerin die Große Kammer des Gerichtshofs angerufen worden war. Es ist verfrüht, aus dieser Entscheidung definitive Schlussfolgerungen über die Aussöhnung zwischen der von der Konvention zugestandenen Religionsfreiheit und dem von der französischen Verfassung betonten Laizismus zu ziehen. Überdies übernimmt der Conseil constitutionnel die vom Gerichtshof zum türkischen Recht gezogene Schlussfolgerung in französisches Recht, ohne zu erwähnen, dass der EGMR stark auf die Besonderheiten der türkischen Situation abstellt. Es hat daher den Anschein, dass der Conseil constitutionnel die europäische Rechtsprechung vor allem dann zitiert, wenn sie ihm ermöglicht, zum gewünschten Ergebnis zu kommen: So hat er, um die Vereinbarkeit der Grundrechtecharta der Europäischen Union mit der französischen Verfassung unter Beweis zu stellen und zugleich alle zu beruhigen, die sich in Frankreich Sorgen um das sehr heikle Thema der Erhaltung des französischen Laizismusmodells machen, auf die EMRK Bezug genommen. Die Grundrechtecharta ist weitgehend eine Kopie der EMRK, und wenn der Conseil constitutionnel die Grundrechtecharta interpretiert, interpretiert er zugleich die EMRK. Wenngleich der Beschluss des Conseil constitutionnel nicht ohne Kritik geblieben ist,[94] so kann man doch hoffen, dass dieser erste tastende Versuch einer expliziten Umsetzung der europäischen Rechtsprechung andere Entscheidungen nach sich ziehen wird, die den Ansprüchen des EGMR besser gerecht werden.

Erster Teil Offene Staatlichkeit › § 15 Offene Staatlichkeit: Frankreich › IV. Die Europäisierung der französischen Verfassung

IV. Die Europäisierung der französischen Verfassung

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Auch wenn das Interesse eines Teils der Lehre – der so genannten „communautaristes“ – am Verhältnis von Gemeinschaftsrecht zu französischem Recht so alt ist wie die Gemeinschaft selbst, so ist es doch lange auf diese kleine Gruppe von Spezialisten beschränkt geblieben. Erst mit dem Vertrag von Maastricht begannen andere Autoren – die so genannten „constitutionnalistes“ –, sich mit diesem neuen Forschungsgegenstand zu befassen. Man kann davon ausgehen, dass ein Wandel der Rechtslehre zu Beginn der 1990er Jahre einsetzte (1). Dennoch bestehen in Frankreich weiterhin manche Widerstände gegen eine Verankerung des Gemeinschaftsrechts in der Verfassung (2).