KNIGGE: Über Eigennutz und Undank

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zur Tugend den Zweck, dadurch unsern Zustand

vollkommner zu machen, hinweg; und wir werden gar

keinen bestimmten Begriff damit verbinden; ja! selbst die

innere Stimme unsers Gewissens muß, wenn sie uns

richtig über das, was recht und unrecht ist, belehren soll,

von der Vernunft geleitet werden, indem diese die

Regelmäßigkeit einer Handlung nach dem Zwecke

beurtheilt, welcher, je nachdem er nützlich oder nicht

nützlich ist, wohlthätige oder schädliche Folgen

vorausahnen läßt. Ließe sich's denken, daß eine

Handlung gar keine Folgen haben könnte; so würde diese

weder recht, noch unrecht, also gleichgültig für die

Moralität seyn. Allein solche Handlungen giebt es, genau

betrachtet, wohl gar nicht. Und das ist denn endlich der

letzte Vorzug unsers Systems, daß es den Werth aller

Handlungen, nach den Graden ihrer Nützlichkeit

bestimmen kann, da hingegen die so gepriesenen reinen

Begriffe von Recht und Unrecht sich auf eine große

Anzahl von Handlungen gar nicht anwenden, folglich

den Werth derselben unbestimmt lassen.

22.

Wie wenig fest und haltbar überhaupt die von den

Philosophen der neuern Schule aufgestellten Grundsätze

seyen, davon hat mich noch kürzlich, so wie manche

andre Stelle in ihres, übrigens sehr achtungswerthen

Lehrers Schriften, vorzüglich eine Anmerkung, die ich in

einem seiner Werke finde, das den Titel führt: Die

Religion, innerhalb den Grenzen der bloßen Vernunft,

überzeugt. Hier, wo er sich bemüht, sein System so zu

zerren, daß es auch über den Leisten der theologischen

Orthodoxen passen, folglich auch der Lehre von der

Erbsünde keinen Abbruch thun soll, sagt er: »Es sey eine

von den unvermeidlichen Einschränkungen des

Menschen und seines practischen Vernunftvermögens,

sich bey allen Handlungen nach dem Erfolge davon

umzusehn.« Nun dann! wenn dies eine für ihn

unvermeidliche Einschränkung ist; so scheint es doch

wohl der Vernunft nicht gemäß, von ihm zu fordern, daß

er nach Bewegungsgründen handeln solle, die gar keinen

Bezug auf den Erfolg haben, und die also für seinen

eingeschränkten Geist zu hoch sind.

23.

Und nun zum Schlusse dieses, vielleicht manchem Leser

zu trocken scheinenden Abschnittes, noch einige

Bemerkungen! Ich habe oben die Würklichkeit

angebohrner, allen Menschen eingepflanzter bestimmter

Begriffe von Tugend und Pflicht geleugnet. Es ist

hingegen unwiderlegbar gewiß, daß in unsrer Natur ein

lebhaftes Gefühl von Recht und Unrecht, das heißt: von

dem, was der Vernunft gemäß und nicht gemäß ist,

herrscht, welches jedoch erst durch die Verhältnisse und

Lagen, in welche wir versetzt werden, eine deutliche und

bestimmte Richtung bekömmt. Es geschieht aber, durch

eine sehr gewöhnliche Verwechselung von Ideen, daß wir

diejenigen Eindrücke, welche wir durch Erziehung und

nachherige Bildung erhalten haben, nachdem sie uns zur

andern Natur geworden sind, für angebohrne Begriffe

halten. Daher der Irrthum derjenigen, welche, mit

Verwerfung aller Rücksichten auf Erfolg und Nutzen, in

dem Geiste und Herzen der Menschen die

vollkommensten und würksamsten reinen Motive zur

moralischen Pflicht-Erfüllung zu finden glauben. Diese

Verwechselung findet nicht weniger bey andern Begriffen

und Empfindungen Statt. So hat, zum Beyspiel, jeder

Mensch ein angebohrnes Gefühl von Schönheit, oder

vielmehr einen natürlichen Sinn für den Unterschied

zwischen schön und häßlich; allein giebt es darum eine,

von allen Menschen unter allen Himmelsstrichen

anerkannte allgemeine Regel der Schönheit? Ist deswegen

derselbe Gegenstand unter allen Umständen immer

gleich schön oder häßlich? Gewiß nicht! Man rede aber

von einer schönen menschlichen Gesichts-Form; so wird

dem an antike Profile gewöhnten Kunstkenner die

Gestalt der griechischen Stirnen und Nasen, dem Neger

aber wird ein ganz andres Ideal vor Augen schweben und

doch wird bey Beyden der Grund-Begriff rein seyn,

nämlich abstrahirt von dem Wohlgefallen, das in ihm der

Anblick des vollkommensten menschlichen Antlitzes, (so

wie er sich die Idee davon durch Gewohnheit von Jugend

auf eingeprägt hat) erweckt. Eben so ist es mit den

Begriffen von Ordnung. Diese sind sehr relativ, obgleich

das Gefühl für Ordnung und Symmetrie in jedem

Menschen von Natur wohnt. Der Platz, den in Einem

Hause, in einem Zimmer, eine Sache vernünftiger Weise

einnehmen muß, würde in einem andern für dieselbe

Sache äußerst unschicklich seyn. Allein man rede von

einem ordentlichen Manne; so werden sich an diese

Haupt-Idee alle, durch Gewohnheit hinzugekommene

Neben-Begriffe anschließen, und jeder Anwesende wird

sich, ohne es zu wollen, den ordentlichen Mann als einen

Solchen denken, der seine Geschäfte in eben der Reihe,

wie er, verrichtet, seine Sachen nach eben der Weise, wie

er, verwahrt. Wäre es nun aber vernünftig zu behaupten:

Man müsse sein Hauswesen, seine Geschäfte, ohne

Rücksicht auf Umstände und Folgen, immer nach

solchen Regeln ordnen, die zu jeder Zeit als allgemeine

Gesetze für alle Haushaltungen gelten könnten?

Nachtrag.

Die Herrn Kunstrichter und diejenigen unter meinen

übrigen Lesern, denen die hier angeführten Gründe (für

den Satz: daß die Beförderung unsrer eignen

Glückseligkeit das erste, sicherste und reinste Motiv zu

moralischen Handlungen sey ) nicht überzeugend

vorkommen, bitte ich, ihr Urtheil noch zurückzuhalten

und erst vorher den Anhang zu diesem Abschnitte zu

lesen, den ich, um den Vortrag nicht zu unterbrechen, am

Ende der ganzen ersten Haupt-Abtheilung folgen lasse.

Kapitel 2

Zweiter Abschnitt.

Von dem verwerflichen Eigennutze.

1.

Es ist in dem vorigen Abschnitte bewiesen worden, daß

von den Bewegungsgründen, nach welchen vernünftige

Wesen sich zu moralischen Handlungen bestimmen und

diese ordnen, sich die Rücksicht auf ihren Nutzen, auf die

Beförderung ihrer eigenen Glückseligkeit nicht trennen

läßt. Man soll, sagen die neuern Philosophen, die Tugend

nur ihres innern Werths wegen lieben, suchen und

ausüben. Wohl! was giebt denn aber der Tugend diesen

Werth? der Nutzen, den sie stiftet. Und worinn besteht

denn dieser Nutzen? In der Beförderung des allgemeinen

Wohls, des Wohls der Welt. Und was geht denn mich das

Wohl der Welt an? Warum soll ich dazu mitwürken? Weil

ich ein Theil dieser Welt bin. Das ist der Cirkel, durch

welchen wir immer zu unserm eignen Ich wieder

zurückkehren. – Die Beförderung unsrer eignen

Glückseligkeit ist also der vernünftige Bewegungsgrund

aller unsrer moralischen Handlungen.

2.

Der Mensch kann aber nur ein scheinbares, unsichres,

nicht dauerhaftes Glück genießen, wenn durch diesen

Genuß die Harmonie des Ganzen leidet und gestöhrt

wird. Derjenige Mensch nun, welcher diese Rücksicht bey

seinen Handlungen aus den Augen verliehrt und seinem

scheinbaren Nutzen das Wohl des Ganzen aufopfert,

handelt nach unmoralischen Grundsätzen, sträflich

eigennützig und von den verschiedenen Arten eines

solchen Eigennutzes soll in diesem Abschnitte geredet

werden.

3.

Wollen nun diejenigen neuern Philosophen, mit deren

Widerlegung wir uns vorhin beschäftigt haben, in ihrer

mystischen Sprache, nichts weiter sagen, als daß ein

solcher Eigennutz nicht die Triebfeder tugendhafter

Handlungen seyn solle; so bedarf es wahrlich eines so

großen Aufwandes von unverständlichen, dunkeln

Worten nicht, um eine Wahrheit zu lehren, die von den

Moralisten aller Zeitalter als unwiderleglich wahr ist

anerkannt worden.

4.

Der Sprachgebrauch berechtigt uns, dem unedlen

Bewegungsgrunde, welcher so viel Menschen bewegt, das

Wohl der gesellschaftlichen Verbindung ihrem sinnlichen

Genusse, der Befriedigung ihrer unregelmäßigen

Begierden aufzuopfern, den Namen Eigennutz zu geben.

Wir haben aber schon bemerkt, daß der wahre,

dauerhafte, eigene Nutzen eines einzelnen Mitglieds der

Gesellschaft durch keine Handlung bewürkt werden

könne, die schädliche Folgen für die Gesellschaft im

Ganzen hat.

5.

Man kann also mit Recht sagen, daß nur Mangel an

Einsicht daran Schuld sey, wenn die Menschen

unmoralisch sind. Berechneten sie besser ihren eigenen

Nutzen und die früh oder spät zu erwartenden

nachtheiligen Folgen, die für sie oder die Ihrigen jede

Handlung nach sich zieht, welche die Harmonie im

Ganzen, auch nur auf die am unbedeutendsten

scheinende Art, stöhrt; so würden sie Alle gut und

folgerecht handeln. Dies ist ein sehr tröstender Gedanke.

Jeder unmoralisch handelnde Mensch übertrit also aus

eben dem Mangel an gehöriger Ueberlegung der Folgen

das moralische Gesetz, aus welchem ein Verschwender

sein Vermögen verpraßt, ohne zu bedenken, daß er sich

an den Bettelstab bringen wird.

6.

Lasset uns also es für Lästerung der menschlichen Natur

halten, wenn manche Philosophen behaupten: es

herrsche in uns von Natur ein böses Princip und, um mit

ihren eignen Worten zu reden, »der Mensch habe,

 

ungeachtet er sich des moralischen Gesetzes, als eines für

ihn verbindlichen Gesetzes, bewußt sey, durch den

Gebrauch seiner Freyheit den Entschluß gefaßt, von

diesem Gesetze zu Gunsten der Selbstliebe

abzuweichen.« Nein! dieser niederschlagenden

Ueberzeugung von der natürlichen Verderbtheit der

Menschen, die nothwendig jede Entwicklung des Keims

zum Guten hindern muß, wollen und können wir nicht

Raum geben. Das, was die Theologen die Erbsünde

nennen, ist nichts anders, als die Reizbarkeit, die

Verführbarkeit des sinnlichen Menschen, gegen die aber

seine Vernunft, obgleich oft vergebens, ankämpft. Sein

besserer Genius zieht ihn gewiß öfter zu uneigennützigen

guten Handlungen hin. Von Natur ist er wohlwollend

und theilnehmend. Wen rühren nicht, wen erfüllen nicht

mit Liebe zum Menschengeschlechte die Berichte einiger

neuern Reisebeschreiber von den uncultivirten Völkern

auf den Freundschafts-, den Societäts- und vorzüglich auf

den Pelew-Inseln? Hier sieht man rohe Menschen, die wir

Wilde nennen, ohne göttliche und menschliche Gesetze

und ohne die Bildung, welche Erziehung, Wissenschaften

und Künste geben; aus Instinct nach den zartesten

moralischen Grundsätzen handeln, die feinsten geselligen

Tugenden ausüben und der Liebe, Freundschaft,

Gastfreiheit und dem gemeinen Wohl Opfer aller Art

bringen. Ein einziges solches Beyspiel von

uneigennützigem natürlichem Tugend-Gefühle bey einem

völlig uncultivirten Volke, widerlegt alle Beweise, die man

aus der Beschreibung einer Menge andrer, vielleicht

durch spätere Einwürkungen verderbter Nationen

hernehmen könnte.

7.

Wie geht es denn aber zu, daß mit dem, allen Menschen

angebohrnem Gefühle des Wohlwollens und der

Theilnahme an dem Schicksale seiner Mitgeschöpfe und

mit den Gründen der Vernunft, die uns lehren, was wir

als Theile des Ganzen der Gesellschaft schuldig sind und

ihr leisten müssen, wenn wir von Andern gleiche

Schonung und Hülfe erwarten wollen – wie geht es zu,

daß wir mit dem Allen dennoch grade bey denen

Völkern, welche sich der höchsten intellectuellen und

moralischen Cultur rühmen, den Eigennutz und

Egoismus am würksamsten sehen? Was ist daran Schuld?

Nichts anders, als eben diese Cultur, diese Verfeinerung,

und überhaupt liegt der Grund in den unvermeidlichen

Gebrechen unsrer bürgerlichen Verfassungen. Das ist das

traurige Loos der Menschen, daß, über die Mittel, welche

sie wählen, sich ihren Zustand auf Erden angenehmer zu

machen, sie ihre ursprüngliche Bestimmung aus den

Augen verliehren, daß über das Bestreben, die Vortheile

der gesellschaftlichen Zusammenlebung in vollem Maße

zu geniessen, sie nach und nach sich von der Natur weit

entfernen, und daß durch zu viel Raffinement und

Erkünsteln das reine, ächte Gefühl verlohren geht.

Indessen sollte es doch der höchste Triumph der

Ausbildung des Verstandes seyn, daß, wenn wir den

Cirkel aller Erfahrungen durchgelaufen wären, wir auf

veredelte und dauerhafte Art zu der Einfalt des

natürlichen Zustandes zurückgeführt würden. Allein wird

das nicht immer ein frommer Wunsch

menschenfreundlicher Philosophen bleiben? In welchem

Lande des Erdbodens hat noch je ein Volk diese Stufe

der Ausbildung erreicht? Eine genaue Beobachtung lehrt

uns leider! daß die bürgerlichen Verhältnisse, Statt daß sie

neue Bande seyn sollten, um die Menschen mit Liebe und

Eintracht zu gemeinschaftlichen Zwecken an einander zu

knüpfen, uns vielmehr isolireren, uns in einen Zustand

von gegenseitiger Vertheidigung versetzen, den

aufgereizten Leidenschaften neuen Spielraum und den

erweckten Kräften Nahrung und Gelegenheit zum

Kampfe gegen einander geben. Mit der Cultur

vervielfältigen sich die Mittel, Bedürfnisse zu befriedigen,

aber auch die Bedürfnisse selbst; der Luxus mit dem

fürchterlichen Gefolge der verderbten Sitten nimmt die

Oberhand; in diesem Strudel von Verwirrung hat dann

jeder Einzelne genug zu thun, wenn er von alle dem,

wonach Alle greifen, für sich und höchstens noch für die,

welche seinem Herzen am nächsten sind, so viel

erhaschen kann, als er braucht. Und Jeder braucht viel,

glaubt wenigstens viel zu bedürfen, wird fast

unvermeidlich abhängig von der öffentlichen Meinung,

von der Mode, muß viel thun des Scheins wegen und um

nicht für einen Sonderling zu gelten. So widmet er dann

dem Eigennutze seine ganze Anstrengung und seine

Aufmerksamkeit, wird abgelenkt von der großen Hinsicht

auf das allgemeine Wohl, das ihn nur beschäftigt, wenn es

mit seinem Privat-Vortheile bestehn kann, oder dieser

dadurch befördert wird, wenn er dabey für sich äussere

Ehre, Ruhm oder Gewinn von andrer Art in der

Entfernung erblickt. Dies sey aus Menschenliebe, nicht

zu Vertheidigung jenes Lasters, aber zu Milderung dessen

angeführt, was ich über den täglich mehr einreissenden

Eigennutz und über Schwindung des Gemeingeistes

gesagt habe und noch werde sagen müssen.

8.

Doch noch ist das Gefühl der Theilnahme an fremder

Glückseligkeit, an dem Wohl der bürgerlichen

Gesellschaft und an allem, was die Menschheit im

Allgemeinen betrift, nicht aus den Herzen der Bewohner

cultivirter Länder verschwunden. Wir finden die Spuren

dieser edeln Empfindungen in kleinen Staaten, wo noch

Einfalt und Reinigkeit der Sitten herrschen; in Ländern,

wo Reichthum und Luxus die Menschen noch nicht

verderbt haben; wo sie in beständiger Arbeitsamkeit und

Anstrengung fortlebend, sich gegenseitig beystehn

müssen, um gegen rauhe Elemente und die

Unfruchtbarkeit des Bodens anzukämpfen, wo sie daher

fühlen lernen, wie nöthig Ein Mensch des Andern Hülfe

bedarf, wo, durch Gebürg-Ketten, unbequeme Straßen,

oder Meere von andern Ländern abgesondert, kein

großes Verkehr mit Ausländern die Einwohner mit

fremden Lastern, mit dem Wucher des Handels, mit den

Betrügereyen reisender Abentheuer bekannt, sie nicht

mistrauisch und für die Gastfreundschaft nicht

unempfindlich macht. Wir finden noch ächten

Gemeingeist in kleinern Republiken, wo jeder Bürger

Antheil an der Regierung hat, sich unmittelbar mit dem

Interesse des Staats beschäftigen und alles, was zum

gemeinen Wohl gewürkt wird, mit als sein Werk ansehn

darf. Da sehen wir ihn dann willig die größten Opfer

bringen und seinen Eigennutz vergessen. Auch da, wo,

bey einer monarchischen Verfassung, eine wahrhaftig

väterliche, milde Regierung die Völker beglückt und die

Nation in ihrem Fürsten nur den Wohlthäter und

Versorger sieht, thut Jeder gern auf sein kleineres

Interesse Verzicht, um das größere allgemeine Wohl zu

befördern. Endlich pflegen öffentliche Calamitäten,

Gefahr, die von Aussen her droht, auch die verderbtesten

Völker, wenigstens auf eine Zeitlang, zu bewegen, allen

Eigennutz bey Seite zu setzen und zu gemeinschaftlicher

Rettung und Hülfe beyzutragen, so viel Jeder vermag. Ja!

wo alle diese Fälle nicht eintreten und die Menschen nur

ihrem eignen Vortheile nachzujagen scheinen, erblickt

dennoch der feinere Beobachter Spuren des angebohrnen

Gefühls für Recht und Unrecht, des Wohlwollens und

der Theilnahme an fremden Leiden und Freuden. Wer

hat nicht schon bemerkt, wie geneigt selbst der weniger

ausgebildete große Haufen ist, die Parthey jedes

Schwächern gegen den Stärkern, jedes von Glück und

Schutz ganz Verlassenen, Unterdrückten, Verfolgten zu

nehmen? Ein Mann, der lange Zeit hindurch der

Gegenstand des Neides, der Misgunst und des

allgemeinen Hasses gewesen ist, braucht nur von seiner

Höhe herabzustürzen und grenzenlos elend zu werden,

um nun selbst unter seinen ehemaligen Feinden und

Verfolgern Vertheidiger zu finden und Theilnahme zu

erregen. Und darinn besteht die höllische Kunst schlauer

Bösewichter, daß sie ihre Feinde nie gänzlich zu Boden

stürzen, weil sie bey ihrer studierten Rache wohl wissen,

daß der Unglückliche dann ein Gegenstand des

allgemeinen Mitleidens wird. Allein freylich, wenn sich

auch noch einige Hofnung zeigt, daß der beneidete, jetzt

gestürzte Große wieder emporkommen und über andre

sich wird erheben können; scheitert die Gerechtigkeit an

dem Eigennutze und Jeder trägt das Seinige dazu bey,

den Unglücklichen auf einer gewissen Stufe, wo er ihm

nicht im Wege steht, niederzuhalten.

9.

Es ist dem, welcher auf die feinern Charakterzüge

aufmerksam ist, die geheimen Schliche der Herzen

belauert, da, wo die Menschen am wenigsten beobachtet

zu werden glauben, seine Bemerkungen anstellt und aus

kleinen Zügen oft große Erfahrungen abzieht, einem

Solchen, sage ich, ist es ein wohlthätiges Gefühl, wenn er

noch Leute antrift, in denen der Trieb, ohne specielle

Rücksicht auf eignen Nutzen und Genuß, für Andre zu

würken, zur Natur geworden ist und sich bey den

unbedeutendsten Vorfällen offenbart. Ich wandle auf

einem Spaziergange hinter einem Manne her und

bemerke, daß er sorgfältig, wenn er im Fortschreiten

irgend eine Glas-Scherbe, einen Stein, einen Dorn-Zweig,

oder irgend einen andern Gegenstand bemerkt, der dem

nach ihm Kommenden hinderlich oder gefährlich werden

könnte, es mit seinem Stocke wegräumt. Ich erkundige

mich genauer nach dem Manne und erfahre, daß er ein

wohlthätiger Menschenfreund ist, der auf seine Kosten

arme Kinder erziehn, Wege ausbessern, Bäume pflanzen

läßt, unter deren Schatten die Nachkommen ruhn

können. So findet man Personen, die fremdes

Eigenthum, wie ihr eignes bewachen, wo sie etwas der

Gefahr, verlohren zu werden, ausgesetzt sehen, es in

Sicherheit bringen, das Zerbrochene ungebeten und

unbemerkt herstellen. Und mich dünkt, das Gefühl,

welches uns treibt, auch da Sorgfalt zu verwenden, wo

wir für uns keinen weitern Nutzen davon haben, als daß

dadurch gegenseitige Gefälligkeit und Dienstleistung

unterhalten wird, sey ganz natürlich und jedem

gutgearteten Menschen mechanisch. Ich stehe früh des

Morgens vor dem ofnen Fenster; die Nachbarinn mir

gegenüber tritt aus ihrer Thür und hat ein kupfernes

Milch-Gefäß in der Hand. Im Begriff damit auszugehn,

fällt ihr ein, daß sie noch etwas vergessen hat; sie stellt

also das Gefäß auf die Bank vor die Thür und geht in das

Haus zurück. Sie scheint einen Augenblick zu wanken, ob

sie es wagen dürfe, es da stehn zu lassen. Noch ist eben

niemand auf der Gasse zu sehn; auch erblickt sie mich

am Fenster, nickt mir einen guten Morgen zu, wirft noch

einen Blick auf die Bank hin, einen andern die Gasse

hinauf und geht dann zuversichtlich fort. Ich übersetze

diese Blicke in Gedanken. Sie bedeuten: »der ehrliche

Nachbar da gegenüber wird schon einen Augenblick auf

den Topf Achtung geben;« und nun fühle ich in mir eine

Verpflichtung, nicht eher das Fenster zu verlassen, als bis

sie wieder aus dem Hause kömmt. Sie erscheint endlich,

dankt mir durch eine freundliche Verneigung und ich

trete zurück. Wir haben uns nie gesprochen, aber der

Beruf zu gegenseitiger Hülfsleistung, den jeder

gutgeartete Mensch in sich fühlt, bringt diesen und

ähnliche Verträge, ohne Wortwechsel und persönliche

Bekanntschaft, in einem Augenblick zu Stande. Wer bey

dieser Gelegenheit über die Schilderung eines so

unbedeutenden Vorfalls die Achseln zucken könnte; der

würde beweisen, wie unbekannt ihm die sehr wichtige

Wahrheit ist, daß die menschliche Natur sich in solchen

kleinen Zügen deutlicher und sichrer offenbart und

verräth, als in großen Haupt- und Staats-Actionen, wo

jedermann mit Rücksicht auf den äußern Ruf und auf die,

ihn beobachtende Menge handelt.

10.

Leider! aber ist bey den mehrsten Menschen dies Gefühl

von wahrer Theilnahme an dem Schicksale Andrer und

an dem allgemeinen Wohl durch Eigennutz und

Egoismus erstickt. Sie leben nur für sich, denken nur an

 

ihr eignes, höchstens an ihrer Weiber und Kinder,

Wohlbehagen. Zwar kramen sie häufig Versicherungen

des Mitleidens, Versprechungen von Dienstleistungen

zum Prunk aus, prahlen mit ihrem Eifer für das Glück

des Vaterlandes und der Menschheit; wo es aber auch nur

auf geringe Verleugnungen, auf kleine Aufopferungen

ankömmt; wo an keine Art von Wucher mit dem, was sie

hingeben sollen, in der Entfernung zu denken ist und

nun vollends in Collisions-Fällen, ja! da finden sich

unzählige Bedenklichkeiten, Gewissenszweifel,

Einwendungen. Wie oft wird der getäuscht, der auf die

Versprechungen solcher Menschen bauet! Sie sind zu

faul, um nur einmal einen Brief zu schreiben, der eines

ehrlichen Mannes Glück befördern könnte. Sie hören die

Erzählungen fremder Schmerzen und Leiden mit allen

Zeichen einer solchen Theilnahme, wie sie die feine

Lebensart erfordert an; aber, man rechne nur nicht auf

diese höflichen Herren! Kaum wendet man den Rücken;

so haben sie unser Schicksal rein vergessen.

11.

Nichts aber bieten die Leute lieber an und geben es

lieber, als was sie entweder nicht haben, oder nicht

achten; der Verschwender Geld, der Schwachkopf guten

Rath.

12.

Wie wenig Wohlthäter findet man, die nicht auf irgend

einen Ersatz rechneten, wäre es auch nur auf Dank, auf

die Ehre, der guten That wegen, gerühmt, dadurch für

einen großmüthigen Mann bekannt zu werden, und wenn

es auch nicht gerade auf eitel Lob und Ruhm angesehn

ist, wenigstens darauf, ein Herz mehr zu gewinnen,

welches dann noch wohl der verzeihlichste Eigennutz ist!

Aber solcher Männer, die aus wahrem innern Berufe

Gutes zu würken, um die höhere Bestimmung der

Menschheit zu erfüllen, auch da wohlthätig und

theilnehmend handeln, wo sie von niemand beobachtet

werden, wo keine Hofnung einer äußern Belohnung und

Erwiederung Statt findet, wo sie, bey den größten

Aufopferungen, dennoch gewiß seyn können, verkannt,

gehaßt, verlästert, mit Undank belohnt zu werden, wo

also nur die Ueberzeugung von der Zweckmäßigkeit und

Nützlichkeit der Handlung der Preis ist – Solcher Männer

giebt es wenige.

13.

Und deswegen haben denn auch so wenig Menschen

Sinn für den Werth eines großen, edlen, uneigennützigen,

für Menschenwohl warmen Herzens; deswegen trauen sie

ihren Mitbrüdern so gern versteckte Neben-Absichten

zu. Du nimmst dich eines armen jungen Mädchens an. –

Man flüstert sich in das Ohr: »ey nun! er wird sich schon

bezahlt zu machen wissen; das Mädchen ist hübsch; der

Mann hat Geschmack.« Du sorgst für die Erziehung

eines verwaiseten Knaben – »Sieh einmal!« heißt es, »der

Junge ist ihm wie aus den Augen geschnitten. Er sollte

nur kein Geheimniß daraus machen, daß es sein Sohn

ist.« Und wo sich gar kein Mittel findet, Verdacht gegen

die Bewegungsgründe zu einer Handlung zu erregen, da

setzt man den Werth der That selbst herab, sucht zu

verhindern, oder wenigstens nicht so eifrig zu befördern,

daß sie bekannt werde, als man geneigt ist, ein böses

Gerücht auszubreiten. Das ist freylich eine schon oft

gemachte Bemerkung; aber sie gehört hierher, denn ihre

Quelle ist der Eigennutz; man glaubt sich zu erheben, in

dem Verhältnisse, in dem man Andre erniedrigt und

glaubt zu verlieren durch das, was Andre an öffentlicher

Achtung gewinnen.

14.

Auf die unverantwortlichste Weise wird aber auch von

nicht fein denkenden und von schlecht gesinnten Leuten

das Zutrauen, die Gutmüthigkeit und die Dienstfertigkeit

uneigennütziger und solcher Menschen, die weniger

achtsam auf ihren Vortheil sind, gemisbraucht. Wie oft

man, besonders in den Jahren, wo man den Werth des

Geldes nicht zu schätzen weiß, betrogen wird, davon

werden wohl die mehrsten meiner Leser in ihrem Leben

selbst Erfahrungen gemacht haben; allein auch nachher,

bey reiferer Vernunft, wird man nur gar zu oft mit einem

theilnehmenden Herzen das Opfer der Zudringlichkeit

und der unersättlichen Forderungen solcher

selbstsüchtigen Leute. Da wälzt gern Jeder Arbeit,

Sorgen, Unannehmlichkeiten und Verantwortung auf

den, der freundlichen Bitten nicht widerstehn kann. Da

wird das Haus dessen, dem man Wohlthätigkeit zutrauet,

nicht leer von nichtswürdigen Bettlern und

Abentheurern. Da wird der Mann, der sich gern zum

Besten Andrer verwendet und gern Gefälligkeiten

erweißt, mit Aufträgen, Bitten um Empfehlungen und

Anliegen aller Art bestürmt. Da machen Faullenzer,

Tagediebe, Schmarotzer und Leute, die von Langerweile

geplagt werden, das Haus des geselligen, gastfreyen und

duldenden Mannes zu ihrem Sammelplatze. Mit Einem

Worte! Es braucht nur bekannt zu seyn, daß du ein

menschenfreundlicher, ohne Eigennutz zu Rath und That

bereitwilliger Mann bist; so macht Alles Jagd auf dich und

legt Beschlag auf dein Vermögen, auf deine körperlichen

und geistigen Kräfte und auf deine edle Zeit. Und wenn

man nun also unzähligemal ist angeführt und

gemißbraucht worden, ist es dann dem verständigen

Manne zu verargen, wenn er kälter, zurückhaltender wird,

wenn er erst Ueberlegungen und Untersuchungen

anstellt, bevor er sich hingiebt, aufopfert, und wenn er

endlich auch einmal verlangt, daß Andre etwas für ihn

thun sollen, nachdem er lange genug nur für Andre gelebt

hat?

15.

Allein die mehrsten Menschen handeln, oft ohne es sich

selbst bewußt zu seyn, so, als dürften sie sich für den

Mittelpunkt der ganzen Schöpfung ansehn, als sey alles

außer ihnen nur ihrentwegen da. Dies offenbart sich in

ihren unbedeutendsten Reden und Handlungen. Sie

sprechen nur von sich, von ihren Schicksalen,

Geschäften und Vorsätzen. Was aber andre Leute angeht,

das hören sie bey weiten nicht mit der Theilnahme und

Gefälligkeit an, die sie für ihr Interesse fordern. Im

Umgange wollen sie immer nur genießen, stets nehmen,

nie geben. Man hört sie leicht über Langeweile klagen,

indeß sie selten darauf Rücksicht nehmen, ob sie auch

wohl uns Langeweile machen. Wo sie nicht Unterhaltung

genug finden, da gehen sie fort, oder werden böser

Laune; aber wo es ihnen gefällt, da bleiben sie,

unbekümmert, ob sie auch etwas zur Unterhaltung und

Belehrung Andrer beytragen. Wo es ihren Nutzen oder

ihr Vergnügen gilt, da sollen wir ihnen unsre Grundsätze

und unsre Ruhe aufopfern. Fällt es ihnen ein, bey

nächtlicher Zeit zu tanzen, zu singen, zu toben; so ist es

ihre geringste Sorge, ob irgend ein schwächlicher, nach

Ruhe sich sehnender Mann darüber im Schlafe gestört

wird oder nicht. Fehlt ihnen die vierte Person zum Spiele;

so fordern sie dich mit Ungestüm dazu auf, wenn gleich

sie wissen, daß du höchst ungern und unglücklich spielst.

Haben sie Lust, eine Thorheit zu begehn, die ihnen von

ihren Mitbürgern verdacht werden könnte, wenn sie

allein sie trieben; so wollen sie irgend ein andres

männliches oder weibliches Geschöpf, das bey dem

Publiko in Achtung steht, zwingen, auf Unkosten seines

Vergnügens, seines Rufs und seines sittlichen Gefühls, an

dieser Ausschweifung Theil zu nehmen, oder gar die

Verantwortung davon zu tragen. Und weigert man sich,

aus Rücksicht höherer Pflichten; so verschreyen sie uns

als einen eigensinnigen, wunderlichen, harten Mann, der

andern Leuten kein Vergnügen gönne. Auch die

Gerechtigkeit kann man von manchen Personen nicht

erhalten, daß sie uns erlauben, unsern Weg ruhig neben

ihnen hinzugehn, ohne uns um den ihrigen zu

bekümmern; nein! wenn es in ihrem Kram paßt, sollen

wir durchaus mit ihnen durch dick und dünn wandeln.

Wenn man ihnen nichts Böses, vielmehr, wo es die

Gelegenheit fügt, alles Gute erweist, übrigens aber in

keinen genauen Verhältnissen mit ihnen stehn mag; ist

ihnen doch das nicht genug. Sie wollen uns ausschließlich

alles seyn; wir sollen an allen ihren Narrheiten und

Ungehörigkeiten Theil nehmen, für sie und mit ihnen

leben und weben. Wir sollen sie liebenswürdig,

angenehm, schön, unterhaltend finden, wenn sie auf alle

Weise zurückstoßend sind. Sie würden es uns eher

verzeihen, daß wir sie haßten, verfolgten und Böses von

ihnen redeten, als wenn sie uns gleichgültig, wenn sie uns

nichts sind, wenn wir ihnen ausweichen.

16.

Leider! verwebt sich auch nur gar zu oft ein grober oder

feinerer Eigennutz in das heilige Band der Freundschaft.

Wie selten findest Du einen Freund, der Dich bloß

Deines innern Werths wegen liebte, der ohne alle andre

Rücksichten, unter allen Umständen, bey allen

vortheilhaften oder widrigen Schicksalen und

Verhältnissen, in welche Du ohne Deine Schuld gerathen

könntest, Dir gleich warm, treu und eifrig zugethan

bliebe; der nicht wenigstens eine Art von Ansehn oder

Uebergewicht über Dich nähme, wenn er Dich durch

äussere Umstände niedergedrückt sieht; der Dir

öffentlich, wie in geheim, Gerechtigkeit wiederfahren

ließe, und Deinen Werth nicht miskennte, wenn Vorfälle,

die Du nicht voraussehn konntest, Dich in

Verlegenheiten stürzen, oder der nicht dann irgend eine

sehr verzeihliche von Dir begangene kleine

Unvorsichtigkeit, Dir, wie ein würkliches Verbrechen

anrechnete, um Gelegenheit zu haben, die Schuld auf

Dich zu schieben und von Dir zurückzutreten! Wo

findest Du einen Freund, der immer unbestechbar bereit

wäre, Dir die Wahrheit zu sagen, Dir treuen Rath zu

geben, Dich zu tadeln, wo Du Tadel verdienst, nicht um

sich über Dich zu erheben, Dich zu demüthigen, sondern

aus ächtem Pflichtgefühle und aus Hochschätzung, und

das ohne Bitterkeit, nicht mehr und nicht weniger, nicht

freymüthiger, nicht feiner und nicht schonender, ob Du

eine große Rolle im Publico spielst, oder verkannt und

gedrückt wirst? Wo findest Du einen Freund, der fähig

wäre, auch solche Eigenschaften an Dir zu loben, zu

würdigen und hervorzuziehn, worinn Du ihn vielleicht

übertriffst, verdunkelst; einen Freund, der gegenseitig

auch solche Wahrheiten, die seine Eitelkeit kränken,

willig und dankbar und mit dem Vorsatze, sich zu

bessern, von Dir annähme; dessen Herz sich Dir nicht

von Dem entführen ließe, der williger als Du seinen

Leidenschaften huldigt und seine Ohren durch

Schmeicheleyen kitzelt; endlich einen Freund, der nicht

aus eigennütziger Eifersucht von Dir forderte, daß Du