Darky Green

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SAMSTAG

1

Darky Greens erster Gedanke, als er am Samstagmorgen vom schrillen Pulsieren seines Weckers erwachte, war sein Plan. Wie immer hatte er einen Plan für den Tag. Fünf Dinge waren zu tun. In die Stadt gehen, Friseur, Frühstück, Bausparkasse, Brautschau. Das waren die Punkte auf seiner Liste, die er sich gestern Abend säuberlich auf einem Blatt Papier notiert hatte, das nun seinen genau zugewiesenen Platz auf dem Tisch neben seinem Bett belegte. Bis auf die letzte war bei all diesen Aktivitäten das kleine Goldkörnchen einer Belohnung abzusehen, das sie mit sich bringen würden. Mit der Brautschau war das etwas anderes. Die Brautschau konnte einen unerwarteten Verlauf nehmen oder in eine ungewohnte Richtung führen, doch Darky hatte eine Menge Geld dafür ausgegeben, um in diesem Bereich eine, wie er fand, sehr wertvolle Grundlage zu legen. Es würde schon gut gehen. Geld und Macht waren die weichen, rettenden Kissen, auf die er sein Haupt legte, wenn die Ereignisse ihm das Selbstvertrauen auszusaugen drohten. Es würde gut gehen. Heutzutage ging es erstaunlicherweise fast immer gut.

Aber erst einmal hieß es aufstehen. Routine. In Darky Greens persönlichen Gewohnheiten herrschte eine strenge Ordnung. Das lag daran, dass er in so vielen Heimen und Sonderschulen gewesen war. Newlands zum Beispiel. Da hatte man um sein Bett herum seinen eigenen Bereich. Einen eigenen Kleiderschrank, sein eigenes Waschzeug. Eigene Bilder und Fotos, die man mit Reißzwecken an seinem eigenen Stück Wand befestigen durfte. Eigene Sachen im eigenen Regal. Eigenen Platz unter dem Bett für den Koffer, den man brauchen würde, wenn man wieder weiterzog. Das alles musste in Ordnung gehalten werden, sonst verlor man gewisse Privilegien, wenn Dan oder Mike oder Mr. Tennant oder June oder wer auch immer gerade Dienst hatte, am Morgen die Runde machte und die Zimmer inspizierte. Und Darky hatte es sowieso gerne ordentlich. Sobald man Unordnung zuließ, konnte das bedeuten, dass die Erinnerungen wiederkamen. Das heißt, eigentlich stimmte das so nicht. Es waren eigentlich gar keine Erinnerungen. Na ja, eigentlich schon, aber es waren Erinnerungen an Dinge, die er gefühlt hatte, keine klaren Bilder von Dingen, die tatsächlich passiert waren. Heilloses, panisches Entsetzen. Eine tiefe, atemlose Angst, dass niemand je wiederkommen würde. Hunger. Brennender Durst. Schmerzende, kalte Beine. Ein säuerlicher, durchdringender Geruch. Ein hölzern klapperndes Geräusch in der Dunkelheit.

Die dicke, orangefarbene Mappe, auf der sein richtiger Name stand, Richard Verne Green, hatte Darky nie gesehen. Seit er anderthalb Jahre alt gewesen war, bis zu dem Tag, als er mit achtzehn die Fürsorge verließ, war dieses Dossier von Leuten geführt worden, die fürs Jugendamt arbeiteten. Seine einzige Erinnerung daran, wie jemand sie erwähnt hatte, rief ein solches Gefühl der Demütigung in ihm hervor, eine solch glühende Hitze in seinen Wangen, dass er selbst jetzt noch, fünfzehn Jahre später, eine Melodie summen, sich die Haare kämmen oder sein Geld zählen musste, wann immer diese Erinnerung in ihm aufstieg. Eines Tages hatte Mike Sands, einer der Betreuer in Newlands, vor Darkys Ohren erwähnt, dass es für alle Kinder in dem Heim ein Dossier im Büro gab.

Das Büro kannte der zehnjährige Darky. Dort hatte er geweint, als er hergekommen war, weil er Mr. und Mrs. Bishop vermisste, obwohl er sie eigentlich gehasst hatte. Es war ein Ort, wo man eine andere Art von Gelächter von den Mitarbeitern hören konnte, wenn sie dort drinnen zusammensaßen und Bier tranken, das einer von ihnen aus der Kneipe holte, sobald die Kinder im Bett waren. Dort gab es einen Schreibtisch und ein Telefon und ein Anschlagbrett und scheppernde Metallschränke, vollgestopft mit Papieren. Außerdem war das Büro der Ort, wo der Sozialarbeiter, der für einen zuständig war, immer verschwand, wenn er zu Besuch kam, um sich mit den Newlands-Mitarbeitern über Dinge zu unterhalten, die man nicht hören durfte, obwohl klar war, dass sie sich nur um ihn drehen konnten. Er hasste das. Was war ein Dossier? Seine undeutliche Vorstellung war, dass es vielleicht ein Behälter sein könnte, so eine Art Dose. Vielleicht war eine Schublade in dem Büro voller Dosen, für jedes Kind eine. Warum? Darky fragte Mike, was ein Dossier sei.

»Ihr habt alle eines«, erklärte Mike. »Alle Kinder müssen ein Dossier haben.«

Verständnisloser Blick.

»Das ist ein Bericht über die wichtigsten Dinge, die mit dir passiert sind, und alles, was du getan hast, seit du klein warst. Alles auf Papier aufgeschrieben, in so einer Art großem Pappumschlag. Warum?«

»Ach, nichts«, sagte Darky.

Den ganzen nächsten Vormittag und Nachmittag musste Darky über dieses Dossier nachdenken. Damals hatte er nur ein oder zwei ganz kleine Ruhekissen. Das eine war seine Schwimmurkunde. Als er acht war, hatte er eine Urkunde dafür bekommen, dass er einmal quer durchs Becken geschwommen war. Wenn jemand ihm diese Urkunde geben würde, dann könnte er sie neben seinem Bett an die Wand hängen und anschauen. Das würde ihm gefallen. Sie musste in seinem Dossier sein. Mike hatte ganz klar gesagt, dass darin all die wichtigsten Sachen waren. Was könnte wichtiger sein als das Einzige, wofür er je einen Preis bekommen hatte? Als Mike nach dem Tee seinen Dienst antrat, fragte Darky ihn höflich, ob es ihm etwas ausmachen würde, ihm seine Schwimmurkunde aus seinem Dossier zu holen, damit er sie sich an die Wand hängen könnte. Mike starrte ihn einen Moment lang an und brach dann in schallendes Gelächter aus. »Witzbold«, sagte er, »dafür sind doch Dossiers nicht da. Darin stehen die Orte, wo du gewohnt hast, und was dort passiert ist. Namen und Adressen. Was schiefgegangen ist, was gut gelaufen ist und so. Verstehst du? Eine Schwimmurkunde ist da nicht zu finden, fürchte ich.«

Darkys Wangen brannten so heiß, dass er dachte, er würde Feuer fangen. Als er später in dem Korridor herumlungerte, der hinunter zu den Schlafräumen führte, hatte er mitangehört, wie Mike im Büro lachend Mr. Tennant davon erzählte, wie Darky nach der Schwimmurkunde in seinem Dossier gefragt hatte.

Mr. Tennant lachte auch, wenn auch nicht so laut wie Mike, und sagte: »Bizarres kleines Geschöpf, was?«

Darky hatte keine Ahnung, was bizarr war. Er wollte es auch nicht wissen. Er brauchte es nicht zu wissen.

Hätte man ihm je erlaubt zu lesen, was tatsächlich in seinem Dossier stand, so hätte Darky vielleicht angefangen, jene dunklen, schwierigen Halberinnerungen zu verstehen, die in ihn hineinrauschten wie Gespenster, um sich in den Lücken einzunisten, die durch Unordnung und emotionale Nachlässigkeit entstanden. Die ersten Seiten des Dossiers schilderten, wie er als Krabbelkind den größten Teil jedes Tages in seinem wackeligen kleinen Kinderbettchen zubrachte, ohne Windelwechsel und ohne Essen, sich an dem hölzernen Seitengitter festhielt und mit beiden Händen daran rüttelte und unter Tränen die Rückkehr seiner jungen redegewandten, aber überforderten alleinstehenden Mutter von ihren eigene Lücken füllenden Aktivitäten herbeisehnte, damit sie sich um ihn kümmerte. Mit achtzehn Monaten war Darky in die Fürsorge und zu dem ersten von etlichen Pflegeelternpaaren gekommen, die alle großes Mitleid empfunden hatten, als sie von seinen bisherigen Lebensumständen hörten, aber letzten Endes keine Zuneigung zu der merkwürdigen kleinen Persönlichkeit, die diese Umstände hervorgebracht hatten, zu entwickeln vermochten.

Seine Mutter sah er nie mehr wieder. Eine Weile lang hatte er oft an sie gedacht, während er heranwuchs. Sie war geradezu der Inhalt aller seiner Hoffnungen und Träume. Wenn er nachts wach lag, war er manchmal ganz sicher, dass er sah, wie sie ihm aus der Dunkelheit zulächelte, drei Handbreit über dem Fußende seines Bettes. Sie hatte das Gesicht eines Engels, getrübt nur vom Kummer darüber, von ihrem Sohn getrennt zu sein. Sie liebte und vermisste ihn. Irgendetwas, irgendjemand hielt sie immer davon ab, zu kommen und ihn zu holen. Eines Tages würde sie ganz sicher auftauchen und ihren kleinen Jungen finden, und dann würde sie ihn mit sich nach Hause nehmen und alles würde wieder gut sein. Dies geschah freilich nie und mit den Jahren verwandelte sich die Sehnsucht in Darky in Zorn und Ablehnung. Verschiedene Pflegeeltern und Fürsorgemitarbeiter hatten ihm den gleichen Trost angeboten. Seine Mutter hatte ihn geliebt, aber sie war zu jung gewesen, um sich richtig um ihn kümmern zu können. Blödsinn. Wenn sie sich je um ihn geschert hätte, wäre er jetzt bei ihr. Er wollte sie nie wiedersehen. Und damit hatte es sich.

2

Darky Greens morgendliche Routine lief stets genau gleich ab. Der Moment unmittelbar nach dem Aufwachen löste meist eine vorübergehende Panik aus. Dafür gab es eine Reihe von Gründen. Der Umstand, dass das zugeknöpfte Ende der Bettdecke sich manchmal während der Nacht zur Seite oder gar nach oben gedreht hatte, wo es doch nach unten gehörte; die Haare, die teils in alle Richtungen standen wie geknickte Federn, teils an der Seite seines Kopfes klebten; das zurückgebliebene Gefühl, in den fremden, unbekannten Gefilden des Schlafes das Ruder nicht in der Hand zu haben – all diese Dinge ließen ihn mit einem Satz aus dem Bett springen und sich in die beruhigende Routine des Waschens und der Schadensbehebung stürzen. Je eher alles wieder in Ordnung war, desto eher war die Gefahr vorüber. Er war sich dessen zwar nicht bewusst, aber der erwachsene Darky hatte immer noch Angst davor, Privilegien einzubüßen. Toilette, Dusche, Abtrocknen, reichlich Axe Dimension unter die Arme und um den Schritt, saubere Unterhosen an, Bett machen, Zimmer aufräumen. Dann war es Zeit, sich anzuziehen und an seinen Haaren zu arbeiten.

 

Anziehen war eine Kleinigkeit für Darky. Ein Fliegenschiss. Seit er zu Geld gekommen war, hatte er intensiv daran gearbeitet, sich einen »Look« zu verschaffen. Nachdem er ihn gefunden hatte, blieb er dabei. Es war viel einfacher, wenn alles seine Ordnung hatte. Die Unterwäsche lag in der großen Kommode in der Schublade oben links. Die Socken rechts. Jedes Paar sah gleich aus. Glatt weiß. Der Rest seiner Garderobe bestand aus sechs fast identischen Paar schwarzer Jeans in Kindergröße mit Aufschlag, vier Sätzen zu je fünf geknöpften Hemden in Blau, Rot, Grün und Schwarz, einer Sammlung von ledernen Schnürsenkelkrawatten im Cowboystil, teils silbern, teils golden gefärbt, vier Paar Hosenträger, alle rot, und vier dreiviertellangen Jacken im Teddyboystil, farblich passend zu den Hemden. Die Jacken waren Darkys Stolz und Freude. Er liebte es, sie in seinem Kleiderschrank hängen zu sehen, ihm als sein Eigentum ergeben und sich täglich demütig und bereitwillig seiner Auswahl unterwerfend. Ein Harem von Jacken. Sie stammten von »Edward The Seventh«, einer zweistöckigen Nobelboutique, die versteckt in einer kleinen Seitengasse der Regent Street lag, nicht weit vom Oxford Circus, und sie hatten einen Haufen Geld gekostet. Der Kauf einer weiteren dieser Jacken war einer der wenigen Gründe, aus denen sich Darky je irgendwo anders als in Lipsham oder Kington aufhielt. Er hatte mit der Boutique vereinbart, dass er angerufen wurde, wenn eine neue Farbe hereinkam. Das waren herrliche Ausflüge. Er genoss sie wie nichts anderes. Bald war es wieder so weit. Noch schöner war es, wieder nach Hause zu kommen und seine Neuerwerbung in seinen Kleiderschrank zu hängen, dann vom Bügel zu nehmen und wieder aufzuhängen, dann wieder abzunehmen und wieder aufzuhängen. Seine vier Paar Schuhe standen in einer säuberlichen Reihe auf dem Boden an der Seite des begehbaren Kleiderschranks, poliert und einsatzbereit. Es waren die spitzesten Schuhe, die er in seiner Größe finden konnte; fast wie echte Winkle Pickers nach italienischer Art.

Heute die blaue Jacke und ein blaues Hemd, dazu eine silberne Krawatte. Genau das Richtige für die Brautschau.

Sobald sein Körper mit Kleidung bedeckt war, fühlte sich Darky schon viel wohler. Er war schon als Kind immer klein für sein Alter gewesen. Das Umziehen in Gegenwart anderer Jungen – oder das Finden von Wegen, es zu vermeiden –, war eines der schlimmsten, stressigsten Dinge in seinem Leben gewesen. In einem Heim in der Nähe von Hastings hatte man ihm wegen seiner pfeifenreinigerähnlichen Arme und Beine und seines klapperdürren Körpers den Spitznamen »Dolly« gegeben. Seither hasste er dieses Wort und Hastings ebenso. Hastings war ein großes, breites Gesicht mit einem höhnischen Grinsen darauf. Am liebsten hätte er Hastings mit einem Spaten eins über den Kopf gezogen und es spätabends irgendwo hinten im Garten vergraben. Jetzt, als Erwachsener, war er für immer zu klein für sein Alter. Er wünschte, er hätte mehr Schamhaare, und nicht in dieser schrecklichen rötlichen Farbe. Und noch manches anderes. Aber seine Kleidung, die hatte er gut im Griff, und das änderte alles. Oh ja, mein Sohn, das änderte alles.

Nun war es Zeit, sich vor seinem strategisch angebrachten Badezimmerspiegel die Haare zu kämmen. Beinahe ein körperliches Vergnügen. Zuerst das Gel. Herausdrücken. Einreiben. Dann das Beste. Mit den Fingern durch die Haare nach hinten verteilen. Weich und kühl und feucht. Ein paar Mal mehr, als eigentlich nötig gewesen wäre. Tat das gut.

Zum nächsten Teil der Prozedur brauchte er beide Arme und den ganzen Oberkörper. Er neigte sich auf die Seite, hob die Ellbogen auf eine Höhe mit seinem Kopf und schob sich mit der Linken die langen, blonden Strähnen zum Hinterkopf hin, während er mit der Rechten mit künstlerischem Schwung aus dem Handgelenk den Kamm führte, etwa so wie ein breiter Pinselstrich auf einer Leinwand. Dann schwang er den Oberkörper auf die andere Seite hinüber, als machte er Aerobic-Übungen, brachte die Arme wieder in Stellung und wiederholte den beschriebenen Kämmvorgang auf der anderen Seite. Dann noch ein letzter, entscheidender, geübter Vorwärtsstrich durch die Haare oben auf seinem Kopf, um die extravagante Tolle zu erzeugen, die sein Selbstbild mit einem schwachen Hauch von Clint Eastwood parfümierte.

Hätte er die Wahl gehabt, so hätte Darky am liebsten sein eigenes Gesicht nie wieder angeschaut. Deshalb waren die Haare und die Kleidung so wichtig. Wie so viele Männer pflegte er eine andauernde, mühsam aufrechterhaltene Fantasie über sein Aussehen, eine Hoffnung wider alle historische Erfahrung, er wäre vielleicht doch attraktiver, als er fürchtete, und die Mädchen verheimlichten aus Gründen, die nur sie selbst kannten, den positiven Anklang, den er bei ihnen fand. Für Darky war das harte Arbeit, aber jene Ruhekissen machten es ihm leichter, die Last zu tragen. Die Ironie dabei, wenn dieses Wort auch für ihn völlig unverständlich gewesen wäre, war, dass Darky trotz seines einen schielenden Auges, seiner beiden vorstehenden Schneidezähne und seiner dreieckigen Kopfform tatsächlich der Kümmerling aus einem Eastwood-Wurf hätte sein können. Eine schlecht getroffene Miniaturausgabe. Eine eingeschrumpfte Version des Originals. Eine Spitting-Image-Puppe, die in der Form versehentlich zu stark erhitzt wurde und ganz zerschmolzen und verformt herausgekommen war.

Während er die letzten Feinheiten an seinen Haaren richtete, studierte er seinen Witz für den Friseur ein. Immer, wenn er sich die Haare schneiden ließ, erzählte er einen neuen Witz. Das war auch eines dieser Dinge, die er immer tat. Darky hatte noch nie vom Existenzialismus gehört, aber vielleicht hätte er eine große Übereinstimmung mit jenen Anhängern dieser Philosophie festgestellt, die der Auffassung sind, dass die Welt aufhöre zu existieren, sobald sie nicht anwesend seien. Darky Greens nebelhafte Vorstellung war, dass die Mitarbeiter des Salons »New Wave« in der Zeit zwischen seinen Besuchen in einer Art Aktivitäts- und Interessenvakuum lebten. Nichts passierte, wenn er nicht da war. Wie könnte es auch? Wenn er kam, zuvorkommend mit einem neuen Witz gerüstet, hatten sie zum ersten Mal seit seinem letzten Erscheinen wieder die Gelegenheit zu einer bedeutungsvollen Existenz.

Diesmal hatte er Macey anrufen müssen, um sich seinen Witz zu verschaffen. Macey oder John oder Kevo oder Baz, irgendeiner von denen hatte meistens einen parat. Dieser hier von Macey war erste Sahne! Er probierte ihn vor dem Spiegel.

»Also passt auf: Warum weint Mike Tyson beim Sex?«

Keiner der Phantomfriseure im Spiegel wusste, warum Mike Tyson beim Sex weint, aber sie alle lächelten in der Vorfreude auf das Gelächter über Darkys vorzüglichen Witz.

»Pfefferspray!«, sagte Darky und schob eine Seite seines Gesichts zu einem siegesgewissen Lächeln nach oben.

Alle kugelten sich vor Lachen.

»Zum Brüllen, was? Pfefferspray! Warum weint Mike Tyson, wenn er Sex hat? Pfefferspray! Leck mich am Arsch! Pfefferspray!«

Der war gut. Der würde prima ankommen. Er freute sich schon darauf, ihn zu erzählen.

Noch eine winzige Korrektur an seinen Haaren mit der flachen Hand an der widerspenstigeren linken Seite und er war bereit, die halbe Meile hinunter in die Stadt zu gehen.

Darky wohnte in einem Fünf-Zimmer-Haus direkt auf der Kuppe von Amberley Hill gegenüber der Victoria Avenue am Nordrand der Stadt. Gleich hinter dem Ende seines Gartens gab es ein Stück ansteigendes Gelände, das nach den Worten des Bauern, dem es gehörte, der höchste Punkt im ganzen Gebiet von Lipsham war. Das gefiel Darky sehr. Jenes eine Erfolgserlebnis seiner Kindheit im Schwimmbad hatte nie eine Fortsetzung erfahren. Er hatte sogar, teils, weil er nie weitere Erfahrungen in diesem Bereich sammeln konnte, und teils wegen seines Asthmaproblems, eine geheime Furcht davor entwickelt, irgendwo im Wasser zu sein, abgesehen von seiner Morgendusche, und besonders graute es ihm vor Überschwemmungen. Wenn er seine Gedanken auch nur bei der Aussicht auf jenen schrecklichen, vergeblichen Kampf um Atemluft verweilen ließ, bei dem hilflosen Rudern mit Armen und Beinen im aufgewühlten, brodelnden Wasser, überkam ihn schon die Panik und er bekam Atemnot und weiche Knie. Als das Wunder mit dem Geld passierte und sich plötzlich vor ihm ein unfassbar weites Panorama an Möglichkeiten auftat, war einer seiner Gründe für den Entschluss, dieses Haus zu kaufen, der, dass nach den Worten des Maklers, eines cleveren jungen Mannes namens Charles Kent, der bei Sealey & Sons in der High Street arbeitete, keinerlei Gefahr bestand, dass es je überflutet werden würde. Das war also in Ordnung. Wohlgemerkt, sollte es jemals doch überflutet werden, würde Darky zusammen mit Kevo und Baz und einem Hammer oder einem Lötkolben Charles zu Hause besuchen und ihm beibringen, keine beschissenen Lügen über Häuser zu erzählen.

3

Darky hätte ein Taxi rufen können, um zum Friseur zu fahren. Natürlich hätte er auch einfach Macey anrufen und sich abholen lassen können. Aber er mochte Taxis. Er benutzte sie oft. Es hatte eine Zeit in seinem Leben gegeben, in der er sich gefragt hatte, ob er wohl jemals in einem Taxi fahren würde. Jetzt standen sie ihm ständig zur Verfügung. Er konnte sich den ganzen Tag im Taxi herumkutschieren lassen, wenn er wollte. Er benutzte fast immer dasselbe Unternehmen, Kingsway Cars. Vor etwa einem Jahr hatte so ein Fettsack von Fahrer, der neu bei der Firma war, mächtig geprustet und gegluckst, als Darky in sein Taxi stieg. Ob er zu einer Kostümparty wolle, hatte der Fahrer ihn gefragt, und als sein Blick von der Jacke hinunter zu den Schuhen wanderte, hatte er noch laut überlegt, ob Darky nicht die Fünfziger und die Sechziger ein bisschen durcheinandergebracht habe. Darky stimmte rau in das Gelächter ein, gab dem Taxifahrer ein saftiges Trinkgeld und erkundigte sich nach seinem Namen, als er ausstieg. Am nächsten Morgen wurde der Fahrer nackt ans Kriegerdenkmal in der Stadtmitte gekettet aufgefunden, halb tot vor Kälte und von den Schmerzen seiner ausgekugelten Schulter. Der Polizei sagte er, er könne sich nicht erinnern, wer das getan habe, und überhaupt, es sei ja nur ein kleiner Scherz von ein paar Kumpels aus der Kneipe gewesen. Bei den Behörden hatte niemand Anlass, Darky mit dem Vorfall in Verbindung zu bringen, aber wer sich dafür interessierte, hätte beobachten können, dass die anderen Taxifahrer ihn von nun an mit ausgesuchter Höflichkeit behandelten.

Hätte es geregnet, so hätte er bestimmt ein Taxi genommen. Regen war nichts für seine Jacken und seine Haare. Aber normalerweise ging er lieber zu Fuß. Für diese Vorliebe gab es zwei wichtige Gründe.

Der erste hing mit einem der großen Erfolge in Darkys Leben zusammen, den er unmittelbar infolge eines der schlimmsten Schocks errungen hatte, die ihm je widerfahren waren.

In einem seiner Heime, kurz bevor er sechzehn wurde, hatte einer der Mitarbeiter, ein älterer Mann namens Geoff, während eines Ferienausflugs nach Wales Videoaufnahmen von einigen der älteren Jungen gemacht. Um diesen Film zu drehen, hatte Geoff seine Kamera aufs Stativ gestellt und das Objektiv auf eine bestimmte Stelle des Treidelpfades am Ufer eines Kanals nahe der Jugendherberge gerichtet, in der die Gruppe untergebracht war. Auf seine plumpe, freundliche Art hatte er es geschafft, die Jungen mit Zuckerbrot und Peitsche dazu zu bringen, nacheinander in größeren Abständen diesen Pfad entlangzugehen, sodass jeder Junge allein im Bild erschien und dann, während er weiterging, noch ein paar Sekunden lang von der Kamera verfolgt wurde.

Darky hatte sich selbst noch nie im Film gesehen. Eine Woche nach dem Ende der Ferien saß er im Dunkeln hinten in dem großen Aufenthaltsraum zu Hause im Kinderheim und schaute sich mit den anderen zusammen das Video an. Wie nicht anders zu erwarten, wurde das Erscheinen jedes Jungen auf dem extrabreiten Bildschirm des eigens höher aufgestellten Fernsehers im Aufenthaltsraum von sarkastischem Applaus und einem Chor von Buhrufen, Pfiffen und beleidigenden Bemerkungen seitens des Publikums begrüßt. Das war ja auch der eigentliche Zweck der Übung, soweit es Geoff betraf. Ein paar nette Erinnerungen. Ein bisschen Spaß. Gelächter. Und sie hatten ja auch alle ihren Spaß daran gehabt. Wer an der Reihe war, ausgelacht zu werden, bemühte sich vergeblich, den Lärm mit seinen schlagfertigen Antworten zu übertönen, und tröstete sich mit dem Wissen, dass er bald Gelegenheit bekommen würde, es den anderen heimzuzahlen. Die meisten der Jungen traten ziemlich nervös und verlegen grinsend ins Bild und wedelten ein bisschen mit der Hand, während sie steif und unnatürlich weiter am Kanal entlangmarschierten. Andere verbeugten sich pompös, zogen Grimassen oder machten ungehobelte Gesten in Richtung der Kamera, bevor sie weiterstolzierten. Der Raum war erfüllt von dem trügerisch rauen, gutmütigen Getöse, das nahezu alle derartigen Zusammenkünfte von Jugendlichen kennzeichnet.

 

Darky applaudierte und johlte mit den anderen. Es war wirklich witzig, jedes der vertrauten Gesichter plötzlich dort auf dem Bildschirm zu sehen, wie sie bis über beide Ohren grinsten und aussahen wie Deppen. Schon bei dem Anblick musste man lachen. Gleich würde er dran sein. Soweit er sich erinnerte, kam er nach Gobby Simpson und vor John Firmin. Ungefähr auf halber Strecke. Auf ein bisschen mehr als halber Strecke. Na ja, jedenfalls bald. Irgendwie war es unglaublich aufregend. Sich selbst auf so einem Bildschirm zu sehen. Wie ein Fernsehstar. Wie eine berühmte Persönlichkeit. Während er in der Dunkelheit zuschaute, spielte er auf dem Schoß mit einem Gummiband herum, das er unentwegt zwischen seinen Fingern in den überlangen Ärmeln seines Pullovers dehnte und verdrehte.

Jetzt kam Gobby. Er latschte ins Bild, blöde grinsend, mit Haaren, die abstanden wie Stacheln, und seinen riesigen Händen und Füßen und seinen zu kurzen Hosen. Dann blieb er stehen, schaute in die Kamera, steckte einen Arm parallel zum Boden hinter den Rücken und den anderen vor den Bauch und machte dann eine tiefe Verbeugung aus der Hüfte. Volltrottel!

Jemand stimmte einen Singsang an: »Gobby, Gobby, Gobby!«

»Oi! Oi! Oi!«, brüllten die anderen im Raum.

Darky brüllte mit ihnen. Dem alten Gob schien es nichts auszumachen. Der war in Ordnung. Für einen ordentlichen Lacher tat der alles. Schaut ihn euch an. Gobby stand jetzt von seinem Stuhl auf und verneigte sich in alle Richtungen, wie er es auf dem Bildschirm getan hatte.

»Hinsetzen, du Depp!«, schrien alle.

Gobby entblößte seine Zahnlücken zu einem irren Grinsen und setzte sich wieder.

Geoff ermahnte alle gutmütig, etwas leiser zu sein.

»Jetzt ich«, flüsterte Darky vor sich hin.

Er holte tief Luft. Eigentlich hatte er sofort wieder ausatmen wollen, doch stattdessen hielt er die Luft an. Warte mal. Einen Moment. Das war nicht er auf dem Bildschirm. Das war nicht er. Da war etwas schiefgegangen. Geoff hatte etwas falsch gemacht. Ein Fehler in dem Film. Ein Zwerg war ins Bild getreten. Ein komischer kleiner, dünner Zwerg, der blöde vor sich hin marschierte, ohne mit den Armen zu schwingen. Warum schwang er nicht mit seinen Armen? Sie hingen gerade an seinen Seiten herab und an den Enden baumelten die Hände neben seinen Hosen wie unnütze Fleischklumpen. Irgendjemand musste vergessen haben, die obere Hälfte des Zwergenkörpers darüber zu informieren, dass die untere Hälfte einen Spaziergang machte. Darky flehte das Bild auf der Mattscheibe stumm an, doch endlich mit den Armen zu schwingen. Doch es tat nichts dergleichen. Alle anderen lachten. Aber das Lachen hörte sich anders an als bei Gobby und den anderen davor. Da hatten sie gelacht, wie man lacht, weil es von einem erwartet wird. Das hier war nicht so. Das war ein echtes, tiefes Gelächter mit Tränen in den Augen, eines, das man beim besten Willen nicht unterdrücken könnte. Sie schütteten sich alle aus vor Lachen über diesen ernst dreinblickenden Zwerg mit dem komischen Gang, der sein Gesicht zur Kamera wandte und es zu einer schiefen, schlecht gezeichneten Karikatur eines Lächelns verzerrte, als er daran vorbeikam.

Von hinten gefilmt, rief der Anblick von Darkys eigentümlicher, mechanisch stapfender Fortbewegungsweise eine neuerliche Welle der Heiterkeit hervor. Darky zwang sich, mit den anderen vor Lachen zu brüllen, aber er musste jeden Ton mit eisernem Zwang aus sich herauspressen. Ihm war, als hätte man sein Herz in einen Eimer eiskaltes Wasser gesteckt. Das war er da oben. Irgendwo hatte er das natürlich von Anfang an gewusst. Das war wirklich er. Das waren seine Arme und seine Beine. Er war der Zwerg mit dem komischen Gang, über den sich alle vor Lachen in die Hose machten. Aber wie konnte das sein, dass er das war? Wie konnte es sein, dass er nicht mehr war als das? Inzwischen war der nächste Junge auf dem Bildschirm aufgetaucht, aber Darky nahm ihn nicht einmal wahr. Eine Flut der Furcht und des Elends war in ihm aufgestiegen. Hastig schichtete er Barrieren gegen diese Flut der Gefühle auf. Weinen war Selbstmord, das wusste er. Das Gummiband riss plötzlich und schnellte gegen sein Handgelenk. Tief unten irgendwo im Innern von Darky Green schrie das vernachlässigte Baby und rüttelte und wütete nach seiner Mami, damit sie endlich zurückkäme und machte, dass alles wieder gut war. Doch seine Schreie verhallten so ungehört wie immer. Der fünfzehnjährige Darky jedenfalls hörte sie nicht. Er war zu sehr mit dem Entschluss beschäftigt zu lernen, wie man beim Gehen mit den Armen schwingt.

Der Rest des Abends nach der Vorführung des Films war grauenhaft. Einer der schlimmsten. Wo immer Darky im Heim auch hinkam, überall führte irgendein Komiker den »Darky-Green-Gang« vor und marschierte mit einem lächerlich übertrieben schwachsinnigen Gesichtsausdruck wie ein Springstock durch die Korridore oder um den Billardtisch herum. Gegen irgendeinen von ihnen zu kämpfen, hatte keinen Sinn. Er hatte noch nie in seinem Leben einen Kampf gewonnen. Es gab nur eine Möglichkeit, mit solchen Dingen fertigzuwerden. Darky hatte später gelernt als die meisten, aber am Ende hatte jedenfalls auch er das Wesentliche begriffen. Das musste man, wenn man in der Fürsorge aufwuchs. Man tat mehr oder weniger gar nichts. Das war das Geheimnis. Nur ein bisschen lächeln, um zu zeigen, dass man merkt, dass sie einen verarschen. Wenn man gar nicht reagierte, verarschten sie einen noch mehr. Wenn man aber wütend wurde, dann würden sie einen bis in alle Ewigkeit verarschen. Machte man es aber genau richtig, so würden sie es vielleicht in ein oder zwei Tagen wieder vergessen haben.

Das Armschwingen probierte er heimlich aus. Er musste ganz allmählich damit anfangen, damit die anderen Jungen nicht merkten, dass sich etwas verändert hatte. Wo konnte er das tun? Nun, es gab ja »Martin’s«, den kleinen Gemischtwarenladen. Vom Heim aus gab es eine Abkürzung dorthin, indem man durch zwei schmale Gässchen ging, dann hinten an einigen Garagen vorbei, hinaus auf die Hauptstraße und dort entlang bis zum Ende einer kleinen Reihe alter Häuser. Der Mann, der den Laden führte, schrieb an, weil er noch nicht sehr lange da war und die Einheimischen nicht verärgern wollte. Lange würde er das natürlich nicht tun. Darky holte sich dort manchmal Tabak und Süßigkeiten. Wenn er allein unterwegs zu dem Laden war, hatte er eine gute Gelegenheit zum Üben.

Anfangs fand er es sehr schwierig. Fast unmöglich. Welcher Arm bewegte sich mit welchem Bein? Der auf derselben Seite? Oder der andere? Aber das war noch lange nicht alles. Eine Weile lang schaffte er es nicht einmal im Kopf. Schon der Gedanke, seine Arme zu bewegen, während er ging, war so, als ob er sich bewusst vornähme, einen sehr wertvollen Gegenstand fallen zu lassen, von dem er wusste, dass er in tausend Stücke zerspringen würde, sobald er ihn losließ. Als er dann mit höchster Konzentration anfing, seine Arme zu zwingen, sich vor und zurück zu bewegen, während er durch die Gässchen im Schatten der Bäume marschierte, kam es ihm vor, als ob er eine Art wilden Tanz vollführte, bei dem jede Hand herumgeschleudert wurde wie eine riesengroße Rübe, die an einem Seil befestigt war. Wie ein Clown oder so etwas. Auf diese Weise sah er doch bestimmt nur noch blöder aus, oder?

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