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Das ganze höchstrichterliche Tribunal aus Polizeipräsident und Staatsanwalt über das „Sein oder Nichtsein„ des Chefermittlers Markus Richthofen dauerte noch nicht einmal zwei Minuten. Die zwei übergeordneten Dienstinstanzen waren sich am Telefon rasch einig: Hauptkommissar Richthofen genieße deren Vertrauen, basta… Augen zu und durch.

Richthofen kannte den Ehemann seiner Geliebten mehr als es ihm lieb war. In seiner Einschätzung von Gustav Mildes Lebensumständen musste ihm Niemand aus der städtischen Idylle etwas erzählen. Früher verdingte sich Gustav Milde als Techniker im örtlichen Instandsetzungswerk der Bundeswehr. Mit seinem Erscheinungsbild nach der Frühpensionierung - weit ausgeschnittenes, vergilbtes Unterhemd über verschlissener Trainingshose und aufgedunsenem Bauch - hatte er sich jede Zuneigung verscherzt. Vorzugsweise trat er mit einer Fahne von Altbierhefe - obergärig, vermodert und säuerlich - auf. Seit ihm die Frau auch abhandengekommen war, versank er noch tiefer in seiner Abart. Das Paar Milde war kinderlos. Er lebte mit seinem ‚Tibeter-Apso‘ allein.

Als sich die Polizisten bei Mildes Nachbarn nach der Frau erkundigten, nahmen die Leute kein Blatt vor den Mund. Ihr Lebenswandel hätte ihnen viel Toleranz abverlangt. Rita Milde, sei ständig auf Ausschau nach Bestätigung durch amouröse Abenteuer gewesen - mit Typen gleich welchen Alters. Am Ende vertrieben sie die fiesen Marotten ihres Ehemanns. Sie konnte ihn nicht länger ertragen. Weshalb nicht er, sondern sie sich über Nacht davon gemacht hätte, darauf wüsste man keine schlüssige Antwort. Vielen in der Straße wäre es lieber gewesen, sich weiterhin mit ihr als mit ihm herumzuschlagen. Zugegebenermaßen hätte man zwischen zwei Übeln zu wählen, zwischen Herrn Pest und Frau Cholera. Man flüsterte sich irgendwelche abenteuerlichen Gründe für ihr plötzliches Verschwinden zu. Selbstverständlich zählte dazu die naheliegende Vermutung, sie sei mit einem anderen abgehauen. Dennoch, Genaueres wusste man nicht. Nur das pensionierte Lehrerpaar von gegenüber konnte bezeugen, am Tag zuvor Gustav Milde und seinen Hund im Garten toben gehört zu haben. Vor dem Zubettgehen, so kurz vor 22 Uhr, wurden bei Milde alle Lampen im und am Haus eingeschaltet und der Fernseher schien sich über die Nacht hindurch nicht mehr beruhigen zu wollen. Sie hätten sich nie zuvor Wattestöpsel in die Ohren stecken müssen, um einschlafen zu können. Die Ex-Lehrer hatten sich daran gewöhnt im Sommer bei der Morgendämmerung, etwa gegen sechs Uhr, mit dem Gekläff seines Köters aufzustehen. Heute dagegen war vom Hund nichts zu hören gewesen. Vom Misstrauen getrieben, waren sie noch im Morgenrock zu Mildes Haus hinübergegangen. Sie klingelten zunächst zaghaft, dann doch stürmisch. Es meldete sich niemand. Darauf klopften sie unaufhörlich. Weder der ‚Bad Boy‘, wie die genervten alten Leute den langhaarigen ‚Tibeter-Apso‘ nannten, noch sein verhasster Guru gaben ein Lebenszeichen von sich. Sie wollten endlich in Ruhe ihr Frühstück zu sich nehmen und hatten keine Lust, sich von Scheusal Milde und seinem Hund den vielversprechenden Sommertag verderben zu lassen. Sie stellten die lästige Grübelei ein - der Fernseher von Milde lief indes auf höchster Lautstärke weiter - und riefen bei der Polizeiwache an. Die Ex-Lehrer erinnerten sich, einen dunklen Transporter ganz hinten quer vor der Garage gesehen zu haben. Blau, Schwarz, oder Grün, exakt wussten sie es nicht. Teilweise vom Haus verdeckt, weit von der Einfahrt entfernt, stand der Lieferwagen noch, als es anfing richtig dunkel zu werden. Ob Milde Gäste gehabt hätte, oder bei ihm eine wilde Party zu Gange gewesen wäre, diese wohlmeinende Nachfrage der Polizisten verleitete die noch rüstigen Pensionäre bestenfalls zu einem müden Lächeln. Eine schlüssige Erklärung konnten sie nicht anbieten. Gustav Mildes Fernbleiben nährte ihre Hoffnung, er könne der Menschheit endlich den Gefallen getan und sich in Luft aufgelöst haben. Sollte dem gedrungenen Kerl etwas zugestoßen sein, wäre es nichtsdestoweniger ein Segen gewesen. Aber rechtschaffen wie sie waren, fürchteten sie, man könnte ihnen nachsagen, sie hätten sich achtlos verhalten. Ohne schwerwiegenden Grund hätten die Nervensäge von Hund und sein unappetitliches Herrchen ihren Tagesrhythmus sicherlich nicht so abrupt geändert.

Es dauerte nicht lange, bis der Spurensicherungstrupp feststellen konnte, dass es sich bei den Spritzern an den Wänden, im Treppenhaus und bei den Blutlachen in der Badewanne um menschliches Blut handelte. Blutgetränkte Stofffetzen und Abdrücke nackter Fußsohlen deuteten auf einen erbitterten Kampf im Haus hin. Die Spuren waren Milde zuzuordnen und erhärteten den Anfangsverdacht, er müsste der Bluttat zum Opfer gefallen sein. Aber wo war seine Leiche? Es war nicht auszumachen, ob er aus dem Haus verschleppt worden war, oder irgendwo im Garten vergraben lag? Fast beiläufig erinnerten sich zwei Beamte des Polizeireviers daran, ihn noch am Vortag im Kommissariat gesprochen zu haben. Gustav Milde, knapp sechzig, hatte Anzeige erstattet, gegen einen Nachbarn, einen pensionierten Arzt, der kaum hundert Meter von ihm entfernt wohnte und schriftlich ihm sowie seinem Hund gedroht hatte. Das Schreiben hatte er gleich mitgebracht. Dessen Inhalt hörte sich eigentlich harmlos an, aber Milde bestand darauf, dem Mann eine Lektion zu erteilen. Kriminalhauptkommissar Markus Richthofen forderte seine Leute auf, ihm den Text zu beschaffen. Er konnte sich mitten im Getümmel wegen Nebensächlichkeiten aufspielen und jetzt gab es dazu sogar einen berechtigten Anlass:

Sehr geehrter Herr Milde,

gestern fand ich Ihren Hund in meinem Garten. Seine Hinterlassenschaft war abscheulich. Sorgen Sie bitte dafür, dass das künftig unterbleibt. Andernfalls sehe ich mich genötigt, Sie anzuzeigen und mit Nachdruck Ihrem Tibeter, das Betreten meines Grundstücks zu vermasseln. Ich liebe Tiere, aber das werden Sie verstehen können, so hoffe ich zumindest, dass auch Tierliebe ihre Grenzen hat. Über eine Bestätigung Ihrer verbindlichen Verpflichtung, in Zukunft Ihren Terrier von meinem Grundstück fernzuhalten, würde ich mich freuen.

Mit nachbarschaftlichem Gruß

Faustus Kleinschmidt

Dienstbeflissen wie sie waren, erzählten die Uniformierten weiter, sie hätten die Anzeige zwar widerstrebend, aber am Ende doch entgegengenommen, um Milde zu besänftigen. Den alten angesehenen Arzt damit zu behelligen, wäre ihnen nicht im Traum eingefallen. Hauptkommissar Markus Richthofen erinnerte sich, dass der Internist früher eine gutgehende Praxis in der Stadt besaß und jetzt zurückgezogen lebte. Ein friedfertiger Witwer in den Siebzigern. Faustus Kleinschmidt, ein eiskalter Killer - wegen eines Hundehaufens? Die zwei Polizisten, die in der Wache die Anzeige von Gustav Milde entgegengenommen hatten, trugen nur wenig dazu bei, das Profil vom Kauz Kleinschmidt zu erhellen. Auch dessen Bekanntschaft hatten sie wenige Tage zuvor flüchtig gemacht. Sie waren vom ‚Dok-tor‘, wie die Nachbarschaft gewöhnlich den ehemaligen Mediziner nannte, früh morgens gerufen worden. Völlig aufgelöst gab er an, ihm sei was Schreckliches zugestoßen und sie müssten sofort kommen. Sie fanden ihn noch im Schlafrock vor. Unmittelbar vor den Stufen seiner Terrasse versperrte ihm ein großer Hundehaufen den Weg zum frisch geschnittenen englischen Rasen. Er behauptete, es wäre nicht das erste Mal gewesen. Es müsste sich um den ‚Bad Boy‘ dieses ungehobelten Gustav Milde handeln, der ohne Leine durch die Gegend herumstreunen und jeden anspringen würde. Das Tier hätte ihm schon mehrmals die Freude am gepflegten Garten vermiest. Als die Beamten ihm klar machten, er müsste selbst den Ekelhaufen beseitigen, war Faustus Kleinschmidt erbost. Solange er nicht beweisen könnte, es handelte sich um den ‚Tibeter-Apso‘ von Gustav Milde, sollte er ihn auch nicht weiter beschuldigen. Das grenzte an üble Nachrede. Dafür könnte er belangt werden. Markus Richthofen brauchte nicht lange nachzudenken. Er bestellte Kleinschmidt zur Vernehmung. Es war gerade sieben Uhr fünfundvierzig.

An der Haustür von Faustus Kleinschmidt klingelte es Sturm. Schweißgebadet und schlaftrunken schlug er ein Auge auf. Vor der Tür standen die zwei Uniformierten.

» Können wir hinein? «

» Jetzt am frühen Morgen? Ich schlafe noch. Was ist schon wieder los? «

» Ihr Nachbar, Gustav Milde, muss umgebracht worden sein, ebenso sein Hund. Regelrecht geschlachtet. «

» Wie bitte? Das ist doch Humbug. Was bezwecken Sie damit? «

» Ziehen Sie sich bitte an. Sie müssen mit. «

» Selbstverständlich. Aber damit habe ich nichts zu tun. «

Kleinschmidts Stimme bebte.

» Das sagen sie alle. Sie werden erst vernommen. Dann sehen wir weiter. Wir warten. «

Auf der Straße stand die ganze Nachbarschaft herum als hätte sie die Posaune von Jericho zusammengerufen. Was wollte die Polizei vom Dok-tor? Nein. Das war doch Unsinn. Oder wusste er vielleicht etwas? Mein Gott, rief Frau Wedekind von Gegenüber:

» Machen Sie sich um die Blumentöpfe kein´ Gedanke. Ich gieße sie. «

Wenigstens sollte man die Schultern zucken, befand Faustus Kleinschmidt. Vielleicht meinte die Nachbarin, er würde länger hinter Gittern verschwinden. War er doch der Täter? So etwas hatte er bei Gott vorgehabt. Er zweifelte an seinem Verstand und zitterte. Im Vernehmungszimmer meinte er, den Kommissar wieder erkannt zu haben - von früher, von irgendeinem Stadtfest. Damals tanzte der Kriminalbeamte wie ein Wilder. Und Kleinschmidts Frau meinte, der Mann wäre ein Luftikus, der keinen Rock in Ruhe ließe. Er hielte sich selbst für unwiderstehlich. Inzwischen war er fülliger geworden, ergraut, aber seine Haarpracht dicht, wie damals vor zwölf Jahren.

» Herr Kleinschmidt, Herr Dok-tor Kleinschmidt - was machen Sie da für Sachen? «

 

» Wie bitte? Sie hat´s wohl! Was habe ich denn für Sachen gemacht? «

» Gestern trudelte die Anzeige Ihres Nachbars Gustav Milde gegen Sie bei uns ein, und heute fanden wir sein Blut überall im Haus. Möglicherweise wurde er ermordet. Seine Leiche verschwunden. Sein Hund regelrecht geschlachtet. Könnten Sie mir das erklären? « Doktor Kleinschmidts Unterkiefer war tief auf die Brust heruntergesackt und die Zunge inzwischen ausgetrocknet:

» Ich werde doch nicht einen Mann wegen eines Hundehaufens umbringen, wo denken Sie hin? Was meinen Sie mit ‚seine Leiche sei verschwunden‘? « Ein gallenbitterer Geschmack im Rachen hinderte Faustus Kleinschmidt daran, zu schlucken. Ihn überkam Übelkeit. Beinahe hätte er sich übergeben.

» Hören Sie. Wo waren Sie gestern zwischen zweiundzwanzig Uhr und heute Morgen fünf Uhr? « Die Frage des Kommissars donnerte ihm wie eine Ohrfeige mitten ins Gesicht:

» Wo soll ein zweiundsiebzigjähriger alter Mann um diese Zeit schon gewesen sein? Im Bett. « Da schoss das Blut in seine verdickte Halsader. Kleinschmidt kamen selbst Zweifel über die eigene Unschuld auf, die ihn für einen Moment erstarren ließen.

« Das waren Sie nicht. Jetzt machen Sie mal halb lang und reden Sie nicht mit mir als wäre ich ein Trottel. Ich bin kein dummer Polizist. Also, wo waren Sie, Herr Dok-tor? « Schon schwitzte Kleinschmidt das frische Hemd durch. Ob ihn doch jemand denunziert haben könnte. Oh Himmel, Faustus Kleinschmidt, mach, dass du dich schleunigst aus dem Schlammassel herausziehst, sonst musst du noch den ganzen Dreck hier allein auslöffeln. Mit jeder Silbe des Kriminalkommissars durchzuckte es ihn, als würde ihn jedes Mal ein Blitz treffen:

» Also, wo waren Sie? Ich höre «, rief der Polizist in den Raum. Dabei schob er mit der flachen Hand ostentativ die rechte Ohrmuschel Kleinschmidt entgegen. Seine Nasenflügel breiteten sich wie Nüstern unterhalb der verquollenen Augen aus. Es sah aus als wollte der Kommissar über die mächtige Gurke von Nase jedes Wort des Verdächtigen aufsaugen. Faustus Kleinschmidt versuchte krampfhaft, seine Verunsicherung zu überwinden und die Beherrschung wiederzuerlangen. Es müsste ihm doch gelingen, auf das Gelaber des Beamten einzugehen. Sich über den Mund fahren lassen, dazu noch von einem Provinzkriminalen, das wäre ja noch schöner. Dagegenhalten war das Gebot der Stunde, vorwärts - einfach drauf los:

» Wie heißen Sie eigentlich? Ich kenne Sie doch «, warf Kleinschmidt dem Kommissar unerschrocken entgegen.

» Wie Sie wollen. Ich bin Kriminalhauptkommissar Richthofen, Markus Richthofen. Sind Sie jetzt zufrieden? Nun zu meiner Frage. «

Kleinschmidt warf ruckartig den Kopf in den Nacken. Er konnte die aggressiven Tropfen aus dem Rachen Richthofens nicht länger aushalten. Ihm flößte die Feindschaft, mit der der Polizeibeamte ihm jetzt begegnete, unerwartet Furcht ein. So bedrohlich und respektlos, wie sich der Kommissar in diesem Augenblick gab, brachte ihn an den Rand der Verzweiflung.

Er sah nur einen Ausweg, gegen das Zittern anzukämpfen:

» Herr Richthofen. Sind Sie aber schlohweiß geworden. Noch gestern lag ich mit keinem Menschen in dieser Stadt im Clinch, geschweige denn mit Gustav Milde, und schon gar nicht wegen eines Köters. Nun denken Sie, der Kerl hat wegen eines Hundehaufens in seinem Garten ein Motiv, geht noch in der Nacht hin - dir nichts, mir nichts - schlachtet Mann und Hund, lässt den toten Mann verschwinden und legt sich seelenruhig ins Bett. Vielleicht hätte ich es mir in meinem Zorn gewünscht; aber hören Sie mal, arbeitet Ihr alle so? Oh Gott im Himmel, Herr Hauptkommissar. Was soll das denn? «

» Beide geschlachtet, so, so. Wollen wir hier um den heißen Brei herum albern, oder endlich Tacheles reden? Sie haben mir auf meine Frage immer noch nicht geantwortet. Jawohl, Ihnen ist das Verbrechen zuzutrauen. «

» Was? Bin ich hier Zeuge oder schon Tatverdächtiger? In diesem Falle würde ich gern meinen Anwalt anrufen. «

» Machen Sie, hier - das Telefon. Herr Dok-tor Faustus Kleinschmidt, Sie sind vorläufig festgenommen. «

Eine bitterböse Gemeinheit - und grundlos dazu. Er im Polizeigewahrsam, weshalb? Als Markus Richthofen aufstand und zur Tür hinaus wollte, fiel Kleinschmidt ein, dass er gar keinen Anwalt hatte. Er wusste auch keinen, den er überhaupt hätte anrufen können.

3. Kapitel

Nach einer Weile im engen Zellenraum der Polizeiwache schoss Faustus ein ungewohnter Gedanke durch den Kopf: Er schrieb gerne Briefe. Mit Feder und Tinte - recht schmissig und vorzugsweise auf festem Büttenpapier mitsamt durchscheinenden Wasserzeichen und unverkennbarer Rippung. So als wären seine Worte für die Ewigkeit gedacht - für die Schatzkammer des Museums zur immerwährenden Aufbewahrung. Das Straßengelaber seiner Nachbarn hatte er genauso wenig vermisst, wie das nervige Telefongeschwafel. Seine vergilbten Sträucher hinten im Garten waren ihm viel lieber, als die vergilbten Zähne der Bewohner seines Wohnviertels. Beim Anblick der Einen verspürte er Lust am Leben, um sie wieder aufblühen zu sehen, bei den Anderen befiel ihm ein unsäglicher Verdruss, der ihm regelrecht das Dasein vermieste. Briefe schreiben brächte dennoch nichts, bestenfalls Ärger. Standhaft die Berieselung mit Spuckblasen über sich ergehen lassen und widerliche Hundekacke auf dem frisch gemähten Rasen erdulden, würde einem viel Verdrießliches ersparen: So zum Beispiel die Bekanntschaft mit Markus Richthofen oder mit den moosgrünergrauten Mauern der Zelle im Polizeirevier. Briefe schreiben also gestrichen. Sich das eigene Los Stunde per Stunde vergegenwärtigen, und Akt per Akt protokollieren, das wäre in seinem Alter schon würdevoller. Und wenn es schon sein musste, sollte alles doch auf Büttenpapier mit dezenten Wasserzeichen und auffälligen Blattrippen festgehalten werden. Ob in Freiheit oder hinter Gittern, an den Zeilen würde man sich aufrichten, irgendwie der Vergesslichkeit seiner Umwelt trotzen. Ein Friseurbesuch alle drei Monate schadete zudem nicht, ab und an ein Hosenwechsel, und frische Wäsche. In beinahe autistischer Gebärde klopfte Faustus Kleinschmidt mit der Stirn gegen die Zellenwand unter dem vergitterten Fenster – dann abwechselnd an die vier Wände. Pro Wand ein Kopfschlag. Hin und her und noch einmal von hinten nach vorne und zurück - unverdrossen. Seine Stirn tat ihm weh, blutete aber nicht. Gustav Milde hatte dagegen geblutet - nur wo war seine Leiche? Faustus Kleinschmidt legte sich auf die Pritsche und stierte die grüngraugetünchte Decke an. Da fiel ihm ein, seine Frau, Gott habe sie selig, sagte damals, der Kripobeamte Markus Richthofen mache sich an die Frau vom Nachbarn, dem Guru Gustav Milde, ´ran und in der Stadt würde man sich darüber schon das Maul zerreißen. Frau Richthofen wollte sich deshalb scheiden lassen. Arme Richthoferin. Der Kerl hatte sie nicht verdient. Eine Seele von Person. Faustus hatte sie aus dem Elternbeirat der Schule gekannt. Eine höchst aparte weibliche Erscheinung. Äußerst sinnlich ihr Gang. Bei ihr hatten die Proportionen gestimmt, dazu Grazie und Aura, wirklich alles. Irgendwie hatte sie stets den Eindruck geweckt, Trauer zu tragen, dezent und tief verborgen. Sie war kaum geneigt gewesen, ihr Inneres, auch nicht etwa für einen kurzen Moment, durch ein flüchtiges Lächeln, preiszugeben. Irgendwann hatte sie sich dann das Leben genommen. Nun war ihr Schicksal erst recht in aller Munde gewesen. Arme Richthoferin. Sie hinterließ einen Sohn. Soweit Kleinschmidt sich erinnern konnte, war der Junge mit Elisa in die Oberstufe gegangen. Und nach dem Abitur hatte er das Weite gesucht, weit weg von seinem Erzeuger. Jetzt war Gelegenheit, Richthofen hierauf anzusprechen. Schließlich nahm sich der Polizist heraus, was ihm nicht zugestanden hatte und griff grob in das Leben eines Unschuldigen ein. Dem galt es, heftig gegenzusteuern - sonst würde der Kommissar in seiner Selbstherrlichkeit noch unverschämter werden. Über diesem Vorhaben schlief der Häftling Faustus Kleinschmidt ein:

Er schleifte den leblosen, an den Füßen gefesselten Körper hinter das Auto. Die abschüssige Straße hoch, bis zu der Stelle, wo sie einen mächtigen Buckel machte, bevor sie in den Wald verschwand. Dort schien ihm der Platz geeignet, eine feierliche Krönungszeremonie vorzunehmen. Wo der Stuhl auch herkam, wusste er nicht. Er war einfach zur Hand. Ein richtiger Thronsessel mit rot verziertem Samtbezug. Gustav Milde machte gar nicht mal eine schlechte Figur darin. Seinem ‚Tibeter-Apso‘ schlitzte er den Hals durch. Für den Aufschrei der Tierschützer hatte er nicht mehr als ein müdes Lächeln übrig. Mit den Fingern kämmte er dem Tier liebevoll das lange Fell durch und legte es sorgfältig seinem toten Herrchen in den Schoß.

Der Terrier fletschte auf unerklärliche Weise die Lefzen, streckte seine blutige Zunge heraus, gab aber keinen Ton von sich. Faustus war vom dargebotenen Bild beeindruckt. Es entsprach genau seiner Idealvorstellung von einem gekrönten Monarchen und seinem geliebten Schoßhund. Es erschien ihm angebracht, ein Bild für die Nachwelt festzuhalten. Hastig kramte er in seinen Taschen herum, auf der Suche nach einer Kamera, fand aber keine. Nun floss Blut in Strömen aus Mildes Schädel. Der Gekrönte machte den Mund auf und wollte etwas sagen. Faustus Kleinschmidt wurde die eigene Inszenierung zu viel. Kleinschmidt fürchtete sich vor dem Zinnober.

Angewidert zog er sich zurück.

» Aufwachen! Werden Sie nun endlich wach? –

Aufstehen! «

Es war schon ziemlich spät am Nachmittag, kurz vor Feierabend der Polizeiwache, als sein Mittagsschlaf unsanft unterbrochen wurde. Er hätte Besuch, hieß es. Seine Tochter und ein Anwalt warteten. Elisa umarmte ihn in Tränen. Da fiel ihm ein: wo hatte sie bloß die Kinder gelassen? Ein fast zwei Meter großer, hagerer Typ, der seine Schultern kaum aufrecht zu halten vermochte, begleitete sie. Rechtsanwalt Wilhelm Raueisen hatte eine Miene aufgesetzt als schleppte er das Elend dieser Welt allein auf dem Buckel. Sein magersüchtig gelbes Gesicht erinnerte an eine ausgepresste Zitrone.

» Kommen Sie mit, wir gehen Ihre Sachen holen. « Kleinschmidt verstand ihn nicht auf Anhieb. Deshalb zögerte er.

» Wo ist Richthofen? « erkundigte er sich nahezu besorgt. Elisa empörte sich und staunte:

» Papa, was weiß ich? Du kommst jetzt erst hier raus. Du und Gefängnis. Sie können dich hier nicht behalten, sie dürfen es überhaupt nicht. Du hast nichts verbrochen. Papa bitte, Briefe schreiben, das lässt du sein. Papa, mach, beeile dich, ich muss die Kinder holen. «

» Wo sind sie denn? «

« Bei Frau Wedekind. Ich konnte sie schlecht hierhin mitnehmen. Sie war so nett, mir das anzubieten, damit ich nach dir sehen kann. Von ihr erfuhr ich auch, dass dich die Polizei geholt hat. «

« Das sieht ihr ähnlich. Jetzt hat sie etwas, worüber sie tratschen kann, die Plappertante. Aber wieso komme ich so schnell hier raus? « Elisa zog ihren Vater am Ärmel fort und draußen an der frischen Luft dachte Faustus Kleinschmidt, irgendwann hole er das nach und frage den Kommissar nach seiner Frau. Er sollte es ihm selbst erzählen, wieso sie sich umgebracht hatte.

Dass das nun nichts anderes war als ein Missgeschick, der ihn traf, darüber verlor er keinen Gedanken. Das Gesabber schrulliger Weiber vom Schicksal und vom Schicksalsschlag war nie sein Ding, dachte er. Faustus Kleinschmidt hielt sich mit solchen Gedanken nicht lange auf.

Faustus Kleinschmidt lag am nächsten Morgen noch wach im Bett, als es klingelte. Elisa stand mit ihrem Mann, Prof. Matthias Manderscheid, und der Bohnenstange von Anwalt vor der Tür. Faustus wurde barsch angewiesen, sich endlich hinzusetzen. Eigentlich wollte er sich schnell umziehen, aber Tochter und Schwiegersohn verweigerten ihm das. Ihm schien die Herrschaft über das eigene Tun und Lassen im eigenen Haus entglitten zu sein.

» Papa, ich hole dir deinen Morgenmantel; aber jetzt höre bitte zu. Matthias und Herr Raueisen haben dir was zu sagen. « Sein Schwiegersohn, der renommierte Mathematikprofessor, hielt eine fachfremde Vorlesung ab, über Verdacht, Motiv und Indizien. Dazu ließ er es sich nicht nehmen, sich wie ein Richter am Oberlandesgericht aufzuführen. Faustus kam sich vor als würde er im Hörsaal einer juristischen Fakultät sitzen, nicht etwa in einem mathematischen Seminar, wofür Matthias Manderscheid qualifizierter gewesen wäre. Prof. Dr. Matthias Manderscheid war ein lieber Kerl und ein brillanter Mathematiker. Trotzdem fiel es Faustus Kleinschmidt schwer, ihm zu folgen. Zu dieser frühen Morgenstunde stellte er seine Ohren lieber auf Durchzug. Ganz zum Schluss dämmerte es ihm, worüber der junge Mann vor ihm doziert hatte:

 

» Faustus, ganz raus aus der Sache bist du lange nicht. Hier, Herr Raueisen hat den Eindruck, der Hauptkommissar hat was vor und vielleicht sogar einen Zeugen, der dich belastet. Er will womöglich gegen dich einen Haftbefehl erwirken. Dringend ist momentan, dass wir mit dir alles bereden, von dir selbst erfahren, was eigentlich zwischen dir und diesem Milde vorgefallen war. Wieso hatte er dich überhaupt angezeigt? So wenige Stunden vor seinem Verschwinden, oder vielleicht Tod. Wieso? Elisa sagte, wegen eines Hundehaufens? Das ist doch unglaublich. War es wirklich so? «

Elisa half ihrem Vater in den Morgenmantel und verschwand in die Küche. Faustus Kleinschmidt erhob sich vorsichtig vom Stuhl und begab sich schweigend zum Schlafzimmer. Angewidert fischte er aus dem Sekretär seiner Frau das zerknüllte Briefpapier mit der schamlosen Frechheit des Gustav Milde heraus:

» Hier! «

Wilhelm Raueisen und sein Schwiegersohn vertieften sich in das zerknitterte Schreiben des verschwundenen Nachbarn:

Herr KLEINschmidt!

Sie können mich. Und Sie können mich nochmal. Drohen können Sie vielleicht meinem Hund, aber mir nicht. Übrigens: Ich habe Sie vorsorglich angezeigt, um Ihre bösartigen Absichten gleich zu durchkreuzen. Sollten Sie meinem Hund auch nur ein Haar krümmen, können Sie Ihr blaues Wunder erleben. Hundescheiße ist besser als Ihr Gelaber. Ersparen Sie mir künftig den Hinweis auf Nachbarschaft und von Ihnen lasse ich mich nicht grüßen.

Gustav Milde - merken Sie sich gefälligst den Namen, und noch was:

Ihr KLEIN schreibe ich von nun an groß, Ihr Schmidt nur winzig winzigklein.

» Er hat es auch abgezeichnet «, sagte Rechtsanwalt Raueisen.

» Wieso hast du das Schreiben diesem Hauptkommissar nicht gleich gegeben? Hast du es ihm gegenüber überhaupt erwähnt? «, legte Professor Manderscheid nach.

» Jetzt hör´ mir mal zu: Die denken, ich schlachte den Kerl, und den Hund dazu, verscharre die Leiche irgendwo und lege mich seelenruhig wie ein Unschuldslamm ins Bett? «

» Ja, ja, das hast du gestern diesem Kriminalpolizisten Richthofen erzählt. Aber so kommen wir nicht weiter. Ich fürchte, die Ermittlungen gegen dich sind erst am Anfang. Es liegt ein dringender Tatverdacht gegen dich vor. Hast du gestern Abend die Nachrichten im Fernsehen gesehen? Die Polizei hätte einen Tatverdächtigen festgenommen, hieß es. Soweit sind sie schon. Herr Raueisen, bitte, erklären Sie ihm, wie Sie jetzt vorgehen wollen. «

» Herr Doktor Kleinschmidt, in der Tat, ich schließe einen Haftbefehl nicht aus. Deshalb beabsichtige ich, darauf sofort eine Haftbeschwerde einzulegen. Heute noch werden Sie, das geht in diesem Fall ziemlich schnell, dem Ermittlungsrichter vorgeführt. Ich denke, noch heute im Laufe des Nachmittags, spätestens morgen. Ich habe gestern Ihre Freilassung vom Polizeigewahrsam deshalb bewirken können, weil ich den Staatsanwalt davon überzeugen konnte, dass in Ihrem Fall keine Fluchtgefahr vorliegen würde. Sie sind nicht vorbestraft und stehen den Ermittlern stets zur Verfügung. «

Elisa verteilte Tassen und Untertassen. Ihr Vater bemerkte, ihre Handreichungen glichen in diesem Augenblick haargenau denen ihrer Mutter. Liebevoll, besorgt und darauf bedacht, nicht einmal das bedeutungsschwangere Schweigen der Männerrunde zu stören. An der anderen Seite des Tisches hatten Rechtsanwalt Raueisen und Schwiegersohn Matthias Platz genommen. Nach jedem zweiten oder dritten Halbsatz schaute der Professor zu seiner Frau hoch als wollte er ihre Zustimmung erheischen. Währenddessen verfolgte Faustus belustigt die knochigen Finger des Labans von Anwalt. Wie Essstäbchen beim Chinesen hielten sie den kleinen Löffel zittrig und unsicher. Ein, zwei und drei Mal gehäuft mit Zucker. Dann schüttete er die halbe Kanne Sahne in seine Tasse, bevor er sie mit Kaffee auffüllte. Wilhelm Raueisen - nur Haut und Knochen - schien älter zu sein als Schwiegersohn Matthias, Mitte vierzig. Wenn der hagere Riese sprach, nahm er die Brille ab, richtete sein Rückgrat ruckartig auf und rührte keinen Finger. In dieser Körperhaltung glich er haargenau einem früheren Patienten von Doktor Faustus Kleinschmidt, der als Modell im Mal - und Zeichenkurs der Volkshochschule sein Zubrot verdient hatte. Er konnte stundenlang so sitzen bleiben, jede Regung ausgeschaltet und sich vergessend. ‚Ataraxie’ in vollendeter Form, diagnostizierte der Mediziner im Ruhestand.

» Faustus. Herr Raueisen braucht, wie nennt Ihr Juristen es, eine glaubhafte Legende. Beweise, Faustus, wo Du in der Mordnacht warst, was Du unternommen hast. Ob Du gesehen wurdest. Wer könnte bezeugen, dass Du das Haus nicht verlassen hast. «

Die ausgemergelte Zitrone nickte müde; dabei veränderte sie ihre ausdruckslose Miene nicht einen Deut.

» Das Haus hatte ich wohl verlassen, weil ich dem Fläz die Scheiße seines Köters hingebracht und ihm die Stinkbombe über seine Hecke geschleudert hatte. Alles war eigentlich problemlos. Bis auf die Straße war sein Fernsehen zu hören. Sein Hund und er mussten vor dem Flimmerkasten eingeschlafen sein. Festbeleuchtung in der ganzen Hütte. Ich weiß noch nicht, ob er ums Leben gekommen war. Kann doch nicht durch die Hundekacke passiert sein, die ich ihm in den Garten geknallt hatte. «

In diesem Moment schien Faustus Kleinschmidt regelrecht aufgewühlt. Nur die auf seinen Schultern ruhenden Hände seiner Tochter hielten ihn auf seinem Sitz fest.

» Wann war das? «, fragte sein Schwiegersohn nach.

» Also - ich hatte gewartet, bis es Nacht wurde. Genau dreiundzwanzig Uhr nahm ich den Spaten mit der Dreckladung und bin die Straße hinunter bis zu Mildes Haustür. Ich glaube nicht, dass man mich gesehen hat. «

» Hast du das dem Kommissar bei der Vernehmung auch erzählt? « Matthias lehnte sich vor und schien verärgert zu sein.

» Nein. Ich hatte gar keine Chance, dem Kerl irgendetwas zu erzählen. Bei ihm kam ich nicht zu Wort. Ich hatte das Gefühl, er hatte gar keine Lust, so genau zu wissen, was vorgefallen war. Mildes Anzeige vom Vortag reichte ihm aus, einen Tatverdächtigen zu überführen und schon saß der Täter auf dem Präsentierteller. Für ihn schien alles glasklar zu sein. Was sollte er viel herumfragen, ermitteln und herumdeuten. Er wollte mich um jeden Preis einbuchten. Vielleicht, weil er merkte, dass ich mich nach seiner toten Frau erkundigen wollte. Sie hatte sich vor Jahren erhängt. In der Stadt wusste jeder, dass er ein Verhältnis mit Frau Milde gehabt hatte. Seine Frau konnte das nicht länger ertragen und nahm sich deshalb das Leben. «

»Oh, Papa. « Elisa setzte sich auf den Stuhl neben ihrem Vater und schien den Tränen nah zu sein. Faustus war nicht weniger erschüttert. Er streichelte seiner Tochter über die Wange und hielt fest ihre Hand.

» Faustus. Konzentriere dich bitte jetzt auf deine Sache. Auf die Nacht. Ist dir nichts aufgefallen? Du gehst in einer Sommernacht mit einem Spaten hundert Meter die Straße rauf und runter. Es muss dir doch etwas aufgefallen sein. Wer könnte dich gesehen haben? « Sein Schwiegersohn stand auf, kam um den Tisch herum zu seiner Frau und legte ihr seinen Arm tröstend um die Schulter.

» Du, ich war froh, dass ich unbemerkt nach Hause kam. Wann war der Mord überhaupt geschehen? “

Kleinschmidt richtete seine Frage an den Laban vor sich, als hätte er in der Runde den Part des Staatsanwalts übernommen:

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