Handbuch Arzthaftungsrecht

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3. Verhältnis von Kenntnis und herabgesetzter Substantiierungslast

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Die geringen Anforderungen an die Substantiierung einer Klage in Arzthaftungsprozessen können nicht dazu führen, der Patientenseite zur Vermeidung der Einrede der Verjährung zuzumuten, schon gestützt auf bloße Vermutungen eine Klage zu erheben.[27] Was als Kenntnis i.S.d. § 199 Abs. 1 BGB anzusehen ist, kann nicht durch herabgesetzte Substantiierungsanforderungen bestimmt werden. Wer erst klagen will, wenn er einigermaßen weiß, dass Ursache der Erkrankung ein Behandlungsfehler ist, dem kann nicht erklärt werden, eine solche medizinische Kenntnis benötige er gar nicht.[28] Wenn die Patientin/der Patient schon aufgrund des zeitlichen Zusammenhangs zwischen Behandlung und Schädigung gestützt auf ihre/seine Vermutung eines Behandlungsfehlers eine hinreichend schlüssige Klage erheben kann, heißt dies nicht, dass sie/er auch nur annähernd die Erfolgsaussichten einer Klage abschätzen kann. Auf diesem Kenntnisstand kann eine (Feststellungs-)Klage nicht als zumutbar angesehen werden.[29]

4. Rückschluss auf Kenntnis aus Behandlungsfehlervorwürfen im Klagverfahren

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Wir finden in einzelnen Entscheidungen die Überlegung, der Patient trage zum Behandlungsfehlervorwurf etwas vor, was er schon vor Jahren in verjährungsrelevanter Zeit hätte vortragen können. So schließt das OLG Koblenz in seiner Entscheidung vom 24.2.2015[30] aus Vorwürfen des Patienten, die in verjährungsrelevanter Zeit gar nicht erhoben worden waren, sondern erst in seiner Klagschrift vom Juni 2013, deshalb auf Kenntnis in verjährungsrelevanter Zeit, weil der Erkenntnisstand des Klägers mit Blick auf mögliche Behandlungsfehler sich in den letzten 3 Jahren vor der Klagerhebung nicht verbessert habe, der Kläger also mit derselben Begründung wie im Jahr 2013 auch schon 2009 hätte Klage erheben können. Es ging in diesem Fall um diverse Komplikationen nach der Versorgung von Unfallverletzungen im Jahr 2007. Der Vorwurf in der Klagschrift ging dahin, die Unfallchirurgen hätten Schäden im rechten Knie zu spät erkannt und dann fehlerhaft nicht operativ versorgt und sie hätten eine Femurfraktur unsachgemäß operiert und den Heilungsverlauf falsch beurteilt. Was konkret standardwidrig gewesen sein sollte, ging aus der Klagschrift nicht hervor. Welche Verstöße gegen den fachärztlichen Standard dem Kläger schon in verjährungsrelevanter Zeit bekannt gewesen sein sollen, geht aus der Entscheidung des OLG Koblenz ebenfalls nicht hervor.

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Damit konnte, wie Jaeger in seiner Anmerkung[31] zutreffend herausarbeitet, der Ablauf der Verjährungsfrist nicht begründet werden. Zu der vom Schuldner darzulegenden und zu beweisenden Kenntnis vor dem Jahr 2010 fehlen der Entscheidung des OLG Koblenz tragfähige Feststellungen, zumal auch die Klagschrift (in zulässiger Weise) nicht auf konkrete Standardabweichungen, sondern allein auf Vermutungen gestützt war.[32] Feststellungen zu einer Kenntnis von einem Verstoß gegen den medizinischen Standard wären jedoch Voraussetzung für die Annahme des Eintritts der Verjährung.

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In einer umstrittenen Entscheidung des Brandenburgischen OLG vom 28.10.2010[33], die noch näher zu beleuchten sein wird, ist der klagenden Patientin ebenfalls vorgehalten worden, es sei nicht deutlich geworden, welche konkreten Informationen zu Behandlungsfehlern sie erst in den letzten drei Jahren vor Klagerhebung erlangt habe. Jaeger unterstreicht in seiner Anmerkung zu dieser Entscheidung[34], dass es Sache der Beklagten gewesen wäre, darzulegen und zu beweisen, dass die Klägerin in verjährungsrelevanter Zeit Kenntnis hatte, und dass dazu auch in dieser Entscheidung Feststellungen fehlten.

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Auch wenn die vorstehend erörterten obergerichtlichen Entscheidungen nicht überzeugen, empfiehlt es sich für die Klägerseite deutlich zu machen, was wann zu einer für die Klagerhebung hinreichenden Kenntnis geführt hat. Mit der Entscheidung des BGH vom 8.11.2016[35] ist jedoch geklärt, dass nicht wie in den vorstehend zitierten Entscheidungen des OLG Koblenz und des OLG Brandenburg einfach aus späteren Äußerungen der Patientenseite auf bereits früher vorhandene Kenntnis geschlossen werden kann.

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Das verkennt auch das OLG Braunschweig in einer Entscheidung vom 28.2.2020[36], wenn es der dortigen Klägerin vorhält, es sei nicht ersichtlich, welche weiteren Erkenntnisse sie in der Zeit zwischen der Übersendung der Behandlungsunterlagen im Februar 2014 und dem ersten Anspruchsschreiben im März 2015 erlangt haben wolle. Die Entscheidung ist mit dem Urteil des BGH vom 8.11.2016 nicht in Einklang zu bringen. Eine sekundäre Darlegungslast der Klägerseite kann hier entgegen der Ansicht des OLG Braunschweig nicht angenommen werden. Wenn keine Verpflichtung besteht, sich medizinisches Fachwissen anzueignen, oder Behandlungsunterlagen auf schadenskausale Fehler zu überprüfen[37], kann auch nicht verlangt werden zu erläutern, weshalb derartiges nicht früher geschehen ist.

5. Erkenntnisse im Rahmen der Nachbehandlung

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Kenntnis vom Abweichen vom ärztlichen Standard kann sich aus dem weiteren Behandlungsverlauf und Äußerungen von Nachbehandlern ergeben. So meint das OLG Brandenburg in der bereits zitierten Entscheidung vom 28.10.2010[38] aus den Erkenntnissen der Patientin im Zuge der weiteren Behandlung auf eine Kenntnis in verjährungsrelevanter Zeit schließen zu können. Die von einem Mammakarzinom betroffene Klägerin hatte in diesem Fall der im Jahr 2002 behandelnden Gynäkologin vorgeworfen, dass diese einen Knoten in der linken Brust nach Durchführung von Mammasonokontrollen nicht zusätzlich durch eine Biopsie abgeklärt hatte. Eine entsprechende Untersuchung war im November 2003 durchgeführt worden und hatte zur Diagnose eines Mamakarzinoms geführt. Daraus schließt das OLG Brandenburg, dass die Patientin im Jahr 2003 nicht nur den wesentlichen Behandlungsverlauf als solchen gekannt habe, sondern auch als medizinische Laiin daraus habe erkennen können, dass die beklagte Gynäkologin vom üblichen ärztlichen Vorgehen abgewichen sei. Ihr sei bekannt gewesen, „dass es von den Beklagten nicht ergriffene Möglichkeiten zur Vermeidung dieses Misserfolgs gab. Dadurch, dass die Klägerin erlebt hatte, dass unter Zuhilfenahme weiterer Untersuchungen der Knoten als bösartig erkannt und sodann entsprechend behandelt wurde, musste sich ihr auch bei laienhafter Würdigung der medizinischen Vorgänge und Zusammenhänge aufdrängen, dass die Beklagte entsprechende Maßnahmen nicht getroffen habe, die zur Vermeidung einer falschen Negativdiagnose erforderlich waren, und dass dies möglicherweise gegen den ärztlichen Standard verstößt.

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Diesen Überlegungen muss entgegen gehalten werden, dass eine Patientin, bei welcher im Jahr 2002 ein Knoten nach Mammasonographie als unproblematisch eingestuft wurde, aus späteren Untersuchungen ohne medizinische Beratung nicht den Schluss ziehen kann, dass schon im Jahr 2002 eine weitergehende Untersuchung medizinisch zweifelsfrei geboten gewesen wäre, die Unterlassung mithin standardwidrig war, und dass die Untersuchung auch damals schon (definitiv oder mit überwiegender Wahrscheinlichkeit) zur Diagnose eines Mammakarzinoms geführt hätte.[39] Diese Entscheidung ist auf breite Ablehnung gestoßen.[40] Nicht gefolgt werden kann dem OLG Brandenburg auch, soweit es unter Berufung auf die (überholte[41]) Entscheidung des BGH vom 20.9.1983[42] meint, dass eine fachärztliche Bewertung nicht erforderlich sei, weil die Unkenntnis von medizinischen Schlussfolgerungen aus den Behandlungstatsachen für die den Verjährungsbeginn auslösende Kenntnis unerheblich sei. Das OLG Brandenburg übersieht die weitere Entwicklung der Rechtsprechung des BGH bis zu der Entscheidung vom 10.11.2009, in welcher – wie unter Rn. 8 ff. aufgezeigt – die Bedeutung der Kenntnis vom Abweichen vom Standard unterstrichen wurde. Mit den Entscheidungen des BGH vom 8.11.2016[43] und 26.5.2020[44] ist bestätigt worden, dass das Vorliegen von Behandlungsunterlagen nicht ausreicht, dass vielmehr erst eine Überprüfung und fachmedizinische Bewertung zur Kenntnis führt und dass der Gläubiger nicht verpflichtet ist, im Interesse des Schuldners an einem frühzeitigen Verjährungsbeginn eine solche Auswertung vorzunehmen. Nicht gefolgt werden kann daher auch der Ansicht des OLG Braunschweig, die Verjährungsfrist beginne, wenn der vom Patienten beauftragte Rechtsanwalt die Behandlungsunterlagen zur Einsichtnahme erhalten habe, unabhängig davon zu laufen, ob der Rechtsanwalt die Akten auch tatsächlich einsehe.[45] Die Behandlungsunterlagen reichen nach den vorstehend zitierten Entscheidungen des BGH vom 8.11.2016 und 26.5.2020 ausdrücklich nicht aus und medizinisches Fachwissen mussten sich der Patient und sein Anwalt nicht aneignen.

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Dennoch können unter Umständen aus der Nachbehandlung und nicht zuletzt aus Äußerungen von nachbehandelnden Ärzten zu einem frühen Zeitpunkt Schlüsse auf ein fehlerhaftes Vorgehen zu ziehen sein, die einer Kenntnis vom Abweichen vom ärztlichen Standard sehr nahekommen oder zumindest unter dem Gesichtspunkt grob fahrlässiger Unkenntnis das Unterlassen einer Nachfrage unverständlich erscheinen lassen. Es ist jedoch davor zu warnen, aus (manchmal überheblichen) Andeutungen oder Bemerkungen eines Nachbehandlers eine Kenntnis der Patientin/des Patienten zu konstruieren. Derartigen Bemerkungen fehlt in der Regel die Substanz, die es dem Patienten ermöglicht, sich ein auch nur ungefähres Bild vom ärztlichen Standard und seiner möglichen Unterschreitung zu machen.

 

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Nachvollziehbar kommt jedoch das OLG Saarbrücken in seiner Entscheidung vom 18.5.2016 zu dem Ergebnis einer Kenntnis in verjährungsrelevanter Zeit.[46] Die dortige Klägerin hatte sich im November 2009 bei dem beklagten Augenarzt vorgestellt, der eine Netzhautprominenz festgestellt hatte. Im Rahmen einer von der Klägerin selbst angestrebten MRT-Untersuchung im Mai 2010 wurde eine deutliche Vergrößerung des Tumors festgestellt. Den Befund legte die Klägerin dem Beklagten vor, der aber zunächst nichts veranlasste. Erst im November 2010 äußerte der Beklagte den Verdacht auf das Vorliegen eines Aderhauttumors. Die Klägerin wurde über Umwege dann in eine Universitätsklinik überwiesen und dort einem Spezialisten vorgestellt. Das Gespräch mit diesem hatte die Klägerin vor dem Landgericht dahingehend geschildert, dieser Arzt habe ihr gesagt, dass man nicht mehr so viel machen könne, weil sie so spät komme und der Tumor schon zu groß sei. Sie selbst habe darauf erwidert, der Beklagte habe „dieses Ding ja ein Jahr lang wachsen lassen“. Daraufhin habe der Ordinarius in Essen ihr wörtlich erklärt: „Dem gehört in den Arsch getreten.“ Das OLG Saarbrücken hat daraus geschlossen, dass die Klägerin nicht nur von den wesentlichen Umständen des Behandlungsverlaufs, sondern auch vom Abweichen vom ärztlichen Standard schon im November 2010 Kenntnis gehabt habe.

6. Kenntnis durch MDK-Gutachten oder Schlichtungsstellengutachten

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Dass ein Patient, der eine Begutachtung durch den MDK oder durch eine Schlichtungsstelle oder Gutachterkommission veranlasst und der auf diesem Wege ein Gutachten erhält, welches schadenskausale Behandlungsfehler bestätigt, durch dieses Gutachten Kenntnis erhält, bedarf keiner näheren Erläuterung.

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Wird dagegen z.B. in einem MDK-Gutachten der Behandlungsverlauf ausführlich dargestellt und dahingehend bewertet, dass keinerlei Versäumnisse festzustellen seien, hat die Patientin/der Patient keine Kenntnis von einem Behandlungsfehler erhalten.[47] Es reicht nicht, dass der Patient durch das MDK-Gutachten den Behandlungsverlauf kennt, denn es geht gerade um die Frage, ob an dem Verlauf ein schadenskausaler Behandlungsfehler festzumachen ist.[48]

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Liegt keine medizinische Beratung vor, welche Kenntnis von einer Abweichung vom ärztlichen Standard vermittelt, dann reicht für den Patienten i.d.R. die Kenntnis vom Verlauf nicht.[49]

III. Mehrere Fehlervorwürfe, Behandlungseinheit oder selbstständige Nachteile

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Führen mehrere Behandlungsfehler zu einem Schaden, ist der Lauf der Verjährung für jeden Fehler gesondert zu prüfen, also sowohl die Kenntnis vom Schädiger als auch die Kenntnis vom schadenskausalen Fehler. Stellt sich z.B. im Verfahren gegen die mit der Schwangerschaftsbetreuung befassten Frauenärzte heraus, dass nach der Aufnahme der Schwangeren in die Frauenklinik auch dort grobe Fehler den Schaden nicht abgrenzbar verursacht haben können, beginnt der Lauf der Verjährung gegen die Frauenklinik und die dort beteiligten Ärzte und Hebammen erst mit dieser Kenntnis. Der BGH spricht zu § 852 Abs. 1 BGB a.F. davon, dass dann, wenn mehrere als Ersatzpflichtige ernsthaft in Betracht kommen, die Verjährung erst mit dem Zeitpunkt beginnt, in dem begründete Zweifel über die Person des Ersatzpflichtigen nicht mehr bestehen.[50]

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Begeht ein Arzt bzw. ein Behandlungsträger sukzessive mehrere Fehler mit jeweils unterschiedlichen Beeinträchtigungen, müssen die subjektiven Voraussetzungen des § 199 Abs. 1 Nr. 2 BGB im Hinblick auf jede einzelne Pflichtverletzung geprüft werden.[51] Fraglich ist jedoch, ob im Rahmen einer konkreten Behandlung, an deren Ende der Schaden steht, unterschiedliche Fehler zu unterschiedlichen Fristläufen führen können. Für den Fall mehrerer Fehler bei einer Anlageberatung hat der BGH in seiner Entscheidung vom 9.11.2007[52] erkannt, dass für jeden Fehler eigenständig der Ablauf der Verjährungsfrist zu prüfen ist. Dem Gläubiger müsse es unbenommen bleiben, ihm bekannt gewordene Aufklärungsfehler hinzunehmen, ohne Gefahr zu laufen, dass deshalb Ansprüche aus weiteren, ihm zunächst unbekannt gebliebenen Aufklärungspflichtverletzungen zu verjähren beginnen.

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Dem kann jedoch im Behandlungsfehlerbereich der Grundsatz der Einheit einer Behandlung entgegenstehen. So kommt es für den Erfolg der Klage der Patientenseite nicht darauf an, dass genau der Fehler, welcher bei Klagerhebung gerügt wurde, im gerichtlichen Verfahren bestätigt wird. Kommt das Gericht sachverständig beraten zu dem Ergebnis, dass ein anderer Fehler den vom Kläger geltend gemachten Schaden verursacht hat, führt dies zum Erfolg der Klage. Hier kommt dem Kläger die eingeschränkte Substantiierungslast zugute. Verjährungsrechtlich kommt dies dem Patienten in der Weise zugute, dass Streitgegenstand im gerichtlichen Verfahren die gesamte Behandlung ist und die Verjährung mithin auch für nicht ausdrücklich thematisierte Fehler gehemmt ist.[53] Der Nachteil für den Patienten liegt darin, dass im Falle der Klagabweisung von der Rechtskraft der Entscheidung auch Ansprüche aus erst später festgestellten Fehlern erfasst sind.

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Das führt zugleich dazu, dass im Rahmen einer einheitlichen Behandlung nicht jeder, erst später durch Gutachter aufgezeigte weitere Fehler eine neue Verjährungsfrist auslöst. So sieht das OLG Saarbrücken nach einem substantiiert erhobenen und durch ärztliche Beratung unterlegten Vorwurf einer zu späten stationären Einweisung einer Schwangeren in verjährungsrelevanter Zeit keinen neuen Verjährungslauf, wenn dieser Vorwurf später im Ermittlungsverfahren durch gutachterliche Kritik an mangelnder Befunderhebung erweitert wird.[54] In diesem Fall hatten beide Fehler zu einer zu späten stationären Einweisung geführt mit der Folge eines Versterbens des Kindes.

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Andererseits kann ein erst später erkannter Fehler zu einem entsprechend späten Zeitpunkt der Kenntnis führen, obwohl schon zu einem früheren Zeitpunkt Tatsachen auf andere Fehler hingedeutet hatten.[55] In dem vom BGH am 23.4.1985 entschiedenen Fall hatten die Eltern eines nach einem Herzstillstand verstorbenen Jungen dem behandelnden Arzt vorgeworfen, nach einer Blinddarmoperation und einem danach eingetretenen Darmverschluss zu lange mit der Nachoperation gewartet und durch Narkosefehler den Herzstillstand herbeigeführt zu haben. Während die Vermutung eines zu langen Abwartens mit der Nachoperation schon früher bestand, hatte sich der Vorwurf fehlerhafter Narkose erst im Strafverfahren gegen den Arzt herausgestellt. Der BGH weist auf folgendes hin: „Soweit es sich um mögliche Behandlungsfehler des Beklagten bei der zweiten Operation des Sohnes der Kläger handelt, die nicht die Narkose und die Wiederbelebung betreffen, kann den Klägern nicht eine frühere Kenntnis von der Person des Schädigers entgegengehalten werden. Die Operation ist ein einheitlicher Lebensvorgang, der im Hinblick auf die Verantwortung des Beklagten im Streitfall nicht sinnvoll in einzelne Handlungsabläufe mit verschiedenen Verjährungsfristen aufzuteilen ist. Deshalb darf der Umstand, dass die Kläger einzelne Tatsachen, die ebenfalls auf einen Behandlungsfehler des Beklagten hindeuten könnten, schon früher gekannt haben, nicht dazu führen, die Behauptung, es hätten auch insoweit Behandlungsfehler vorgelegen, nicht mehr zu prüfen. Die Vermutung des Geschädigten, der Arzt habe den Fehler bei der Operation schuldhaft verursacht, hat sich vielmehr in einem solchen Fall erst durch die weitere Kenntnis vom Operationsverlauf so verstärkt, dass der Geschädigte nunmehr mit einiger Aussicht auf Erfolg klagen kann. Zur Begründung der Klage muss er dann auch Tatsachen anführen dürfen, die bis dahin nicht auszureichen schienen, gegen den Schädiger gerichtlich vorzugehen.

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Hatten jedoch Hinweise auf einzelne Behandlungsfehler schon das Gewicht, dass die Patientenseite aussichtsreich, wenn auch nicht risikolos Klage zu erheben in der Lage gewesen wäre, ist aber davor zu warnen, bei späterer Erkennung eines weiteren Fehlers die den Verjährungsbeginn auslösende Kenntnis erst ab diesem späten Zeitpunkt anzunehmen.

IV. Kenntnis – Spannungsverhältnis von unklarer Kausalität und Beweiserleichterungen

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Ein „negatives“ MDK-Gutachten wird für die Patientenseite verjährungsrechtlich problematisch, wenn das Gutachten Behandlungsfehler oder Befunderhebungsfehler aufzeigt, die Kausalität aber verneint, weil nicht nachgewiesen werden könne, dass der Schaden auf den/die Behandlungsfehler zurückgehe. Hier greifen medizinische und rechtliche Bewertung ineinander. Ergeben sich aus dem Gutachten hinreichend deutliche Anhaltspunkte dafür, dass dem Patienten Beweiserleichterungen zugutekommen, die einen vollen Kausalitätsbeweis nicht erfordern, dann sind wir bei der Frage der zutreffenden rechtlichen Einordnung. Die fehlerhafte rechtliche Einordnung verhindert den Beginn der Verjährungsfrist grundsätzlich nicht. Goehl vertritt die Ansicht, dass reduzierte Kenntnisanforderungen infolge einer Beweislastumkehr den Verjährungsbeginn nicht beeinflussen könnten, weil dem Patienten anderenfalls eine Klagerhebung zugemutet werde, „obwohl der Patient von den für eine laienhafte Einschätzung der Prozessaussichten essentiellen Umständen, aus denen sich die haftungsbegründende Kausalität ergibt, nicht einmal im Ansatz Kenntnis hat“.[56] Goehl vermengt dabei die Ebenen der Kenntnis von den haftungsbegründenden Umständen und ihrer (auch beweis-)rechtlichen Würdigung.

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Zwar gehört zur verjährungsrelevanten Kenntnis grundsätzlich auch das Wissen davon, dass das schuldhafte Fehlverhalten des Anspruchsgegners als Ursache für den Schaden anzusehen ist. Wegen der Beweiserleichterungen im Arzthaftungsrecht ist aber nicht in jedem Fall der Vollbeweis der Kausalität des Fehlverhaltens für den Schaden erforderlich. Hier sind wir bei der zutreffenden rechtlichen Würdigung der bekannten Tatsachen, die nicht zu den subjektiven Voraussetzungen für den Verjährungsbeginn zählt. Gerade bei schweren Schäden aus fehlerhafter Behandlung bleibt fast regelmäßig trotz umfassender Begutachtung vorprozessual und im Gerichtsverfahren die Kausalität der Standardunterschreitung für den Schaden ungeklärt. Dennoch wird wegen der (inzwischen gesetzlich verankerten) Beweiserleichterungen der Schadensersatzanspruch bestätigt. Zu der Einschätzung der Prozessaussichten gehört daher neben der medizinischen Bewertung der Behandlung die juristische Wertung (grob oder nicht, Befunderhebungsfehler oder Diagnosefehler) und diese juristische Würdigung gehört nicht zu den haftungsbegründenden Umständen (Tatsachen). Bleibt die Kausalität offen, ist aber von einem groben Behandlungsfehler auszugehen und weiß der Patient, dass der Fehler zumindest geeignet war, die Schädigung herbeizuführen bzw. nicht zu vermeiden, dann sind das die Umstände, die in die juristische Bewertung der Prozessaussichten einfließen.

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Für die juristische Bewertung wird dem Patienten zugemutet, anwaltlichen Rat einzuholen. Hierfür hat der Patient mindestens 3 Jahre nach Kenntniserlangung von einem groben und zur Schädigung geeigneten Behandlungsfehler Zeit. Die Befürchtung von Goehl, dass bei der hier vertretenen Ansicht der Patient in die paradoxe Situation geraten könne, in welcher er das Vorliegen eines groben Behandlungsfehlers widerlegen müsse, um der Verjährungseinrede zu entgehen,[57] kann daher der Zumutbarkeit der Einholung eines Rechtsrats nicht entgegen gehalten werden.

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Wer also medizinisch hinreichend beraten davon Kenntnis erhält, dass dem behandelnden Arzt ein Fehler vorzuwerfen ist, welcher unter Anlegung eines objektiven Facharztstandards schlechterdings nicht verständlich ist, kann sich auf fehlende oder unzureichende Kenntnis wegen Unsicherheiten in der Kausalität dann nicht mehr berufen, wenn der Fehler zumindest geeignet war, den Schaden hervorzurufen.

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In einem vom OLG Hamm entschiedenen Geburtsschadenfall hatten die Anwälte des Kindes im Jahr 2001 aus einem geburtshilflichen Privatgutachten den Vorwurf eines groben Behandlungsfehlers hergeleitet. In einem zweiten Schritt 2002 war ein neuropädiatrisches Privatgutachten eingeholt worden, in welchem es als möglich eingestuft wurde, dass ohne diesen Fehler die eingetretene Schädigung vermieden worden wäre. Hier lagen nach der nachvollziehbaren Ansicht des OLG Hamm die Voraussetzungen für einen Verjährungsbeginn spätestens Ende 2002 vor und ein erst Ende 2006 ausgesprochener Einredeverzicht mit dem üblichen Vorbehalt, „soweit noch nicht verjährt“, konnte der Verjährungseinrede nicht mehr entgegengehalten werden.[58]

 

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Zu dem gleichen Ergebnis wird man kommen müssen, wenn die Kenntnis von Umständen vorliegt, die auf dem Umweg über einen Befunderhebungsfehler auf einen (fiktiven) groben, für die Verursachung der eingetretenen Schädigung geeigneten Behandlungsfehler schließen lassen.