Zeig mal: Gesten

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Mit einer geballten Faust kann man keinen Händedruck wechseln.

Indira Gandhi

4. GESTEN DER MACHT

Bei öffentlichen Auftritten von bekannten Persönlichkeiten, seien sie Vertreterinnen oder Vertreter aus dem Medienbereich, der Kunst, des Sports, der Wirtschaft oder Wissenschaft, sind es oft Gesten, die in der Presse einen Aufsehen erregenden Blickfang darstellen und nachdrücklich in Erinnerung bleiben. Es wird umarmt, geküsst, gewinkt, gekniet, sich verbeugt, die Faust gereckt oder durch ein anderes Handzeichen eine Botschaft vermittelt, die die Massen erreicht, sie versöhnt, aufrüttelt, rührt, zum Nachdenken bringt oder ihre Solidarität einfordert. Von Politikerinnen und Politikern wird erwartet, dass sie ihre Körpersprache bewusst einsetzen. Ihre Macht ist im besten Fall akzeptiert, im schlechtesten gefürchtet. „Interaktionistisch verstanden beinhaltet Macht eine asymmetrische Beziehung, die darin besteht, andere beeinflussen, lenken und beherrschen zu können, oft auch gegen deren Wissen“ (Gyr 2000: 43).

Die politische Bühne mit ihrer Medienwirksamkeit ist wohl einer der wichtigsten Orte der großen Gesten. Manche dieser Gesten werden zu Sinnbildern politischer Scheidewege, zu Ikonen gesellschaftspolitischer Einschnitte wie beispielsweise der Kniefall von Willy Brand am 7. Dezember 1970 vor dem Denkmal für die Opfer des Aufstands im Warschauer Ghetto. Die spontan wirkende Haltung der Erschütterung und der Demut, mit der Brandt seine Bitte um Vergebung ausdrückte, fand international Beachtung. Das Bild war in allen Medien präsent und wurde als wohl wichtigste Geste der deutschen Nachkriegsgeschichte bezeichnet. Sie ermöglichte eine neue Ostpolitik und ebnete den Weg für die deutsch-deutsche Wiedervereinigung.

Nicht jede Geste geht in die Geschichte ein. So gehört das Händeschütteln wohl zu den am meisten abgelichteten Standardgesten versöhnlicher Begegnung auf dem internationalen politischen Parkett. Bedeutung erhält die Berührung erst durch den politischen Kontext. Sie kann ihre Kraft der Symbolik dadurch entwickeln, dass sie spontan und ehrlich wirkt und eine Botschaft vermittelt, die über Etikette hinausgeht – wie das Halten der Hand zwischen dem deutschen Bundeskanzler Helmut Kohl und dem französischen Staatspräsidenten François Mitterand im September 1984. Während sie auf dem Soldatenfriedhof Douaumont in Verdun der Gefallenen beider Seiten gedachten und ein Trompeter die Totenklage blies, nahmen sie sich sichtbar erschüttert spontan bei der Hand und verharrten in dieser Verbundenheit, während sie den traurigen Tönen lauschten.

In der Regel ist der Händedruck als politische Geste inszeniert. Das berühmte Pressefoto von J. David Ake von 1993 dokumentiert den Abschluss des Osloer Friedensabkommens. Im Vordergrund geben sich Jitzchak Rabin und Jassir Arafat die Hand. Hinter beiden steht Bill Clinton mit ausgebreiteten Armen und vermittelt durch die Geste des Zusammenführens seine maßgebliche Beteiligung an den Verhandlungen. Der Handschlag war geplant und geprobt worden. „Mit dem Satz: ‘The whole world will be watching, and the handshake is what they will be looking for’ konnte Clinton vorab auch den skeptischen Rabin von der weitreichenden politischen und medienwirksamen Bedeutung dieser Geste überzeugen“ (Hommers 2014: 418).

Auch der Händedruck zwischen US-Präsident Barak Obama und dem kubanischen Staatschef Raúl Castro im Dezember 2013 auf der Gedenkfeier für Nelson Mandela fand große Aufmerksamkeit in der Presse. Es war die erste Geste der Annäherung seit der kubanischen Revolution von 1959 und von daher von besonderer historischer Bedeutung. Weniger harmonisch verlief dagegen die gemeinsame Presseerklärung von Raúl Castro und Barak Obama drei Jahre später im März 2016.

Ein kurzer Filmausschnitt (https://www.youtube.com/watch?v=IzwL48XtWHU) zeigt, dass Castro sich gegen Obama wehrt, als dieser ihm auf die Schulter klopfen will. Er verhindert die typisch US-amerikanische Geste handgreiflich. Bereits Georg Bush hatte durch ein unangemessenes Berühren der Schulter Aufmerksamkeit erregt: Beim G-8-Gipfel in St. Petersburg im Juli 2006 näherte er sich Angela Merkel von hinten, legte seine Hände auf ihre Schultern und griff beherzt zu. Die deutsche Bundeskanzlerin reagierte mit einer erschrockenen Abwehrbewegung und hob beide Hände. Die Szene führte zu einer großen Aufregung in der Presse und sozialen Netzwerken.

Hatte sich Bush nur einfach peinlich daneben benommen oder hatte der amerikanische Präsident die deutsche Bundeskanzlerin gar sexuell belästigt? Vielleicht handelte es sich aber vor allem um eine Geste der Macht? Diese Erklärung ist sehr nahliegend. In Deutschland wie auch in den USA ist die Schulterpartie die Körperzone der Macht. Nur eine ranghöhere Person darf eine rangniedrigere Person an der Schulter berühren. So kann ein Vorgesetzter dem Mitarbeiter durchaus wohlwollend auf die Schulter klopfen, um seine Anerkennung auszudrücken, der Mitarbeiter darf dies aber gegenüber dem Vorgesetzten nicht. Wer wen, wann, wo und wie lange berührt, unterliegt gesellschaftlichen Konventionen. „Immer ist es der Statushöhere, der den Untergeordneten berührt und nicht umgekehrt“ (Gyr 2000: 51). Es ist also nicht verwunderlich, dass weder Castro noch Merkel die mit der Geste verbundene Rollenzuweisung akzeptieren wollten.

Politische Gesten können die beabsichtigte oder unbewusst angestrebte Wirkung erfüllen, sie können aber auch einfach daneben gehen. So wurde die Geste des Sieges von Christian Wulff (CDU), als er 2003 zum Ministerpräsidenten von Niedersachsen gewählt wurde, in den sozialen Netzen recht höhnisch kommentiert. Zeigen wollte er das Zeichen für „Victory“ (Geste 12). Doch da seine Handfläche nach innen zeigte, wurde daraus nichts. In englischsprachigen Ländern bedeutet dies „Steck dir zwei Finger in den Hintern“.

Etwas länger zurück liegt die Begegnung des ehemaligen Außenministers Klaus Kinkel mit dem Dalai Lama. Als dieser 1995 dem deutschen Politiker als Zeichen der Freundschaft eine Khata, einen tibetischen Schal, der positive Gedanken und Motive symbolisiert, um die Schultern legen wollte, ließ Kinkel das tibetische Ritual nicht zu. Die Presse reagierte mit Spott und zweifelte an den interkulturellen Kompetenzen des deutschen Außenministers.

Als nur noch peinlich kann die Selbstdarstellung des italienischen Politikers Silvio Berlusconi bezeichnet werden, der auf einem Pressefoto hinter dem spanischen Politiker Josep Pique stehend, diesem Hörner aufsetzt und die Geste „Mano Cornuta“, auch „Pommesgabel“ genannt, grinsend in die Kamera hielt. Eine Geste, die in der Türkei Recep Tayyip Erdoğan erregte. Fünf türkische Jugendliche, die auf dem Weg zu einem Rockkonzert waren, grüßten den vorbeifahrenden Corso des Staatschefs mit der Geste. Erdoğan ließ die jungen Männer umgehend in Handschellen abführen und einen Tag lang festhalten (Geste 14).

Erdoğan selbst war auf vielen Pressefotos seit 2013 mit erhobenen vier Fingern (Geste 24) zu sehen (SZ 18.08.2016). Dieses politische Statement drückt seine Unterstützung für die Muslimbrüder und den gestürzten ägyptischen Staatspräsidenten Mohhamad Mursi aus. Das Handzeichen „Rabia“ (vier) ist eine Anspielung auf den Rabia-al-Adawiya-Platz in Kairo, auf dem das ägyptische Militär mit Waffengewalt gegen Demonstranten vorging und über 600 Anhänger der Muslimbrüder tötete.

Der äthiopische Marathonläufer Feyisa Lilesa nutzte beim letzten olympischen Wettkampf der Leichtathletik die große Bühne für eine politische Geste gegen die Unterdrückung seines Volkes, den Stamm der Orono (SZ 23.08.2016). Dazu erhob er die Arme gekreuzt über den Kopf, ein Symbol für gefesselte Hände. Die olympische Charta verbietet jegliche politische Demonstration. Wer dagegen verstößt, kann disqualifiziert werden. Lilesa wurde lediglich vom IOC an die olympische Charta erinnert, kam also ohne Disziplinierungsmaßnahme davon.

Die afroamerikanischen Sprinter Tommie Smith und John Carlos hingegen wurden 1968 bei den Spielen in Mexiko diszipliniert, weil sie ihre schwarz behandschuhten Hände bei der Siegerehrung als Demonstration gegen die Rassendiskriminierung in den USA in die Höhe hielten.

Die Wirkung von Gesten ist oft eine Herausforderung für die Staatsmacht, wenn sie die Opposition von Bürgern zum Ausdruck bringen. So drohte die Militärregierung 2014 in Thailand gegen den „Gruß von Panem“ (Geste 21) vorzugehen, wenn dieser in der Öffentlichkeit gezeigt würde. Es wurden mehrere Studenten, die gegen die Machtübernahme des Militärs mit dieser Geste protestierten, festgenommen.

Als ein Beispiel für politisch couragiertes Auftreten ging die Schwedin Tess Apslund durch die Presse (SZ 04./05.05.2016), die sich einer Gruppe aufmarschierter Rechtsextremisten mit erhobener Faust (Geste 30) entgegen stellte. Die Geste habe sie dem Freiheitskämpfer Nelson Mandela abgeschaut, erläuterte Asplund, für sie sei es eine Selbstverständlichkeit gegen Neonazis zu demonstrieren. Ein Fotograf war zur Stelle und veröffentlichte das Foto auf Twitter, viele Tausende teilten es nationen-übergreifend. „Du bist großartig“, twitterte die englische „Harry Potter“-Autorin Joan K. Rowling.

Die Unterhaltung in der Gebärdensprache ist für mich eine reine Entspannung. Ich kann mich zurücklehnen und die Schönheit der sprechenden Hände beobachten

Zitat aus einer Fallbeschreibung (Leonhardt 2010:144)

5. GEBÄRDEN UND GEBÄRDENSPRACHE

Wäre es nicht schön, wenn Verständigung kulturübergreifend „einfach von der Hand“ ginge? Wenn es eine universelle Gebärdensprache gäbe, die weltweit unterrichtet und damit von allen Menschen erlernt würde? Das ist leider nicht der Fall.

Während jeder Mensch gestikuliert und zum größten Teil unbewusst die verbale Kommunikation durch Körpersprache ergänzt, kommentiert oder verstärkt, muss die Gebärdensprache erlernt werden. Sie ist eine eigene Sprache, sie sich anzueignen ist ebenso mühsam wie das Erlernen einer Fremdsprache (Leonhardt 2010: 140). In der Gebärdensprache können wie in jeder gesprochenen Sprache komplexe Zusammenhänge ausgedrückt werden und alle Gebärdensprachen haben ihre eigene linguistische Struktur (Boyes Bream 1995: 14).

 

Weiter wird die Verständigung dadurch erschwert, dass über hundert verschiedene Gebärdensprachen existieren. Dabei sind Dialekte nicht mit berücksichtigt, von denen es allein in der Schweiz schon mehrere gibt (Boyes Braem / Haug / Shores 2012). So unterscheiden sich die Dialekte der deutsch-schweizer Gebärdensprache in den fünf Kantonen, in denen sie an Gehörlosenschulen unterrichtet werden, und der jeweilige Spracherwerbsort der Gebärdenden kann am Dialekt regional zugeordnet werden.

Gebärdensprachen unterscheiden sich durch unterschiedliche Zeichen, Zeichenbildungs- und Satzbauregeln. Benutzer verschiedener Sprachen können sich untereinander nicht verständigen, selbst wenn die gleiche Lautsprache gesprochen wird, wie es zum Beispiel bei der britischen (British Sign Language, BSL) und der amerikanischen Gebärdensprache (American Sign Language, ASL) der Fall ist (Crystal 1995: 220). Selbst das Buchstabieren hilft nicht weiter, denn auch das Fingeralphabet unterscheidet sich. Das englische Fingeralphabet wird mit beiden Händen ausgeführt, während das amerikanische nur eine Hand benutzt. So entspricht der Buchstabe „T“ im amerikanischen Fingeralphabet der Geste „Feigenhand“ (Geste 4), im englischen Fingeralphabet wird das Zeichen für „T“ ausgeführt, indem mit dem Zeigefinger der rechten Hand auf den unteren Rand der geöffneten Handfläche der linken Hand gedeutet wird. Im schwedischen Fingeralphabet, das auch mit nur einer Hand auskommt, werden Zeigefinger und Daumen aus der zur Faust geschlossenen Hand gestreckt, was in Deutschland als Zählgeste für „zwei“ gedeutet werden kann.

Gebärdensprachen sind also ebenso komplex wie gesprochene Sprachen. „Eine flüssige Konversation in der Gebärdensprache hat eine Geschwindigkeit – ein bis zwei Zeichen pro Sekunde –, die mit der gesprochenen Sprache vergleichbar ist. Die Bildung eines Gebärdenzeichens nimmt zwar mehr Zeit in Anspruch als das Aussprechen eines Wortes, aber zahlreiche Zeichen drücken eine bestimmte Bedeutung erheblich prägnanter aus als ihre lautsprachliche Entsprechung“ (Crystal 1995: 222).

Jede Gebärdensprache verfügt über eine große Anzahl von Zeichen, die amerikanische beispielsweise umfasst etwa 4000. Nur ein kleiner Teil von ist ihnen ist so bildhaft, dass er ohne weiteres Wissen verstanden wird. Die in einer Auf-und-ab- Bewegung zur Faust geballten Hände stehen beispielsweise in der Deutschen Gebärdensprache für den Begriff Wut. Der die Vokabel begleitende Gesichtsausdruck erleichtert die Übersetzung. Das Handzeichen für die Farbe Gelb ist dagegen nicht ohne Kenntnis zu deuten, hier hilft auch Mimik nicht weiter. In der amerikanischen Gebärdensprache entspricht die Farbbezeichnung der Grußgeste „Aloha“ (Geste 7).

Crystal (1995: 220) vermutet, dass ursprünglich viele Handzeichen der Gebärdensprache ikonisch, also bildhaft waren, die Bildhaftigkeit der meisten Zeichen aber durch den Sprachwandel verloren ging.

Die Ausdrucksmittel der Gebärdensprache bedienen sich nicht nur der Hände und Arme. Gesichtsausdruck, der Blick und die Blickrichtung, das Bild, das der Mund formt, die Kopfhaltung und die Körperhaltung vermitteln Gefühle und Ansichten der Gebärdenden und sind für die Grammatik der jeweiligen Gebärdensprache von zentraler Bedeutung (Leonhardt 2010: 141). Eine Frage kann von einer Aussage durch das Hochziehen der Augenbrauen oder das Anheben des Kinns unterschieden werden. Die Wiederholung einer Verbgebärde in unterschiedlichen Geschwindigkeiten kann Kontinuität, Wiederholung oder die Betonung eines Aspektes bedeuten und wird durch die begleitende Mimik differenziert. Pausen zwischen Gebärden und Gebärdenfolgen markieren „Satzzeichen“, auch hier erschließt sich durch den Gesichtsausdruck und die Körperhaltung, ob es sich um ein „Komma“, ein „Ausrufungszeichen“ oder einen „Punkt“ handelt.

Von großer Bedeutung für die Verständigung ist die Nutzung des Gebärdenraums. Der Gebärdenraum reicht von der rechten bis zur linken Seite der gestreckten Arme und vom Scheitel bis etwas unterhalb der Taille. Über dem Kopf oder unterhalb der Gürtellinie werden nur sehr wenige Zeichen ausgeführt (Cystal 1995: 222). Je nachdem wohin jeweils Zeichen in den Gebärdenraum gesetzt werden, drücken sie unterschiedliche Satzelemente oder semantische Funktionen aus. So werden Zukunft, Gegenwart und Vergangenheit dadurch erkannt, dass Gebärden eher vorne oder eher hinten im Gebärdenraum platziert werden. Wird sich über verschiedene Personen unterhalten, so sind diesen unterschiedliche Bereiche im Gebärdenraum zugeordnet. Der Gebärdenraum wird verkleinert oder vergrößert, je nachdem, ob es eher um „leisere“, zurückhaltende Mitteilungen geht oder um „lautere“, stark emotionale und nachdrückliche Botschaften.

Bereits 1817 wurde in Hartford, USA, die erste Gehörlosenschule gegründet. Die komplexe Struktur der Gebärdensprache wird aber erst seit knapp sechzig Jahren systematisch erforscht. William Stokoe verfasste mit „Sign Language Structure“ 1960 eine der ersten wissenschaftlichen Abhandlungen und stellte fest, dass die Gebärdensprache alle linguistischen Kriterien einer Sprache erfüllt. Stokoe untersuchte Gebärdenzeichen danach, wo sie im Gebärdenraum ausgeführt werden, wie die Hand geformt wird, um eine Gebärde auszuführen, und welche Bedeutung dem Bewegungsfluss der aktiven Hand zukommt. Er schlug vor, die Untersuchung der kleinsten Bedeutung unterscheidenden Elemente, der „Chereme“, Cheremologie zu nennen und nicht von Phonologie zu sprechen. Der Vorschlag ist naheliegend, da sich der Begriff Phonologie aus dem griechischen Wort für „Laut“ oder „Stimme“ ableitet, während Stokoe Cheremologie aus dem griechischen Wort für „Hand“ ableitete. Sein Vorschlag setzte sich nicht durch. In Deutschland ist nach wie vor von „Phonologie“ die Rede.

Ich denke, dass nur Leute, die in die Gehörlosenkultur hineingeboren sind, diese Einzigartigkeit vollständig verstehen können.

Zitat aus einer Fallbeschreibung (Leonhardt 2000:145)

6. GEHÖRLOSENBEWEGUNG UND GEHÖRLOSENKULTUR

In den 1970er-Jahren entwickelte sich zunächst in den USA, kurz darauf auch in Europa eine Gehörlosenbewegung, die auf einem neuen Selbstbewusstsein der Gehörlosen aufbaute und die Gehörlosensprache selbst erweiterte. Neue Gebärden wie „Selbstbestimmung“ und „Bevormundung“ drückten aus, dass sich Gehörlose gegen die Stigmatisierung als Behinderte wehrten. Sie begannen sich als Mitglieder einer kulturellen Gemeinschaft zu definieren, gründeten soziale und politische Organisationen, setzten sich für den Erhalt ihrer Sprache ein und kämpften für die Entwicklung angemessener Methoden für den Gehörlosenunterricht.

Die Merkmale der Gehörlosenkultur lassen sich nach Leonhardt (2010) folgendermaßen zusammenfassen: Grundlage der Gehörlosenkultur ist die Gehörlosensprache, unabhängig von der Hörfähigkeit ihrer Mitglieder. Die kulturelle Zugehörigkeit geht mit der Einstellung einher, Zugehörige der Gehörlosenkultur zu akzeptieren, sie zu erkennen und anzuerkennen. Innerhalb der Gehörlosenkultur existiert eine formale Sozialstruktur. Eigene Höflichkeits- bzw. Benimmregeln bestimmen das Gesprächssetting. Es besteht ein hoher Prozentsatz von Ehen der Gehörlosen untereinander. Gehörlose organisieren sich in eigenen Vereinen und Verbänden. Die Gehörlosenkultur umfasst eigene Kunstformen wie das Gehörlosentheater, eine eigene Art des Humors wie gehörlosenspezifische Witze, eine eigene Namensgebung durch entsprechende Gebärden, eine eigene gehörlosenspezifische Literatur und sie bringt Kulturgegenstände hervor, die nur von Gehörlosen im Alltag genutzt werden wie Signaleinrichtungen, die Töne ersetzen (Türklingel, Babyfon) oder Schreibtelefone.

Ein Beispiel für einen Repräsentanten der Gehörlosenkultur ist der finnische Rapper Signmark, alias Marko Vuoriheimo. Er verfasst seine Texte in Gebärdensprache und tritt weltweit mit seinen Konzerten auf. Die Texte werden für Hörende übersetzt. Gehörlose verstehen ihre Sprache und verbinden sie mit der Musik, die sie als Vibrationen spüren und zu denen sie tanzen.

Mit der Gehörlosenkultur ist der Begriff „Deafhood“ (Taubsein) verbunden. Der Begriff „Deafhood“ bezeichnet eine Lebenseinstellung, die auf gemeinsame Werte und ein starkes Gemeinschaftsgefühl bezogen ist. Diese wird als ein Konzept der Selbstermächtigung dem gehörlosen britischen Wissenschaftler Patrick Ladd zugeschrieben. Deafhood soll dem defizitorientierten Begriff der Taubheit „Deafness“ ein positives Wort und eine selbstbewusste Haltung entgegen setzen. Wird ein Mensch in Texten als nicht hörend beschrieben, verwendet man die Kleinschreibung „deaf“. Eine Person, die der Gehörlosenkultur angehört, wird mit einem großen „D“ geschrieben, also „Deaf“. Die Deaf-Szene ist weltweit im Internet vertreten und in eigenen Austauschforen organisiert. Die Ansichten von Ladd, der Gehörlose durch Hörende kolonialisiert sieht und zum Widerstand gegen die Dominanz der Hörenden aufruft, sind umstritten.

Unbestritten ist, dass die Rechte der Gehörlosen nicht den Rechten der Hörenden entsprechen. In nur wenigen Ländern ist die Gebärdensprache Landessprache oder als Minderheitensprache akzeptiert wie beispielsweise in Schweden, das bereits 1981 die schwedische Gebärdensprache als Minderheitensprache anerkannt hat. Eines der ersten Länder, in denen die Gebärdensprache in der Verfassung verankert wurde, ist Finnland, das 1995 die finnische Gebärdensprache neben Finnisch und Schwedisch als Landessprache festgeschrieben hat. Uganda bestätigte 2000 die Gebärdensprache verfassungsrechtlich, 2005 wurde in Österreich die Gebärdensprache als anerkannte Minderheitensprache in die Bundesverfassung aufgenommen und seit 2006 ist die neuseeländische Gebärdensprache neben Englisch und Maori offizielle Amtssprache.

Die deutsche Gebärdensprache ist in einer Vielzahl von Gesetzen verankert. Auffällig ist allerdings, so ein Kommentar des Gehörlosenbundes, dass alle diese gesetzlichen Regelungen in den Behindertenbereich fallen bzw. die Sozialgesetzgebung betreffen.

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