Wie Opas schwarze Seele mit einem blauen Opel gen Himmel fuhr

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Wir waren alle überrascht, als Opa sagte, er würde am Sonntag mit uns zum Gottesdienst gehen. Meine Mutter schien hin- und hergerissen zu sein. Einerseits freute sie sich, andererseits fürchtete sie sich davor, dass Opa sich total danebenbenehmen würde.

„Wie kommt es denn, dass du mit uns zum Gottesdienst gehen willst?“, fragte sie vorsichtig beim Frühstück. „Du bist doch sonst bei den frommen Sachen eher zurückhaltend …“

„Ich bin eben noch nicht völlig verkalkt und durchaus bereit, Neues aufzunehmen. Außerdem kenne ich die Baptisten bisher nur aus dem Fernsehen und wollte mir mal ein eigenes Bild machen.“

„Ich wusste gar nicht, dass die Baptisten sooft im Fernsehen vorkommen.“

„Doch, doch. Zum Beispiel kam mal so eine Zeichentrickserie im Fernsehen, bei der die Figuren alle gelbe Gesichter haben und die Mutter mit so einer blauen Turmfrisur durch die Gegend läuft, die machten mit ihrer Kirche einen Ausflug ins Grüne. Ziemlich witzig.“

„Die Simpsons“, rief ich.

„Kann sein. Und George Clooney spielte mal einen ausgebrochenen Häftling. Auf seiner Flucht kamen er und seine Freunde an einem Fluss vorbei, wo Baptisten eine Taufe abgehalten haben. Der Film war sehr schräg.“

„Oh brother, where art thou“, sagte Sven. „Ein Kultfilm von den Coenbrüdern. Der Film ist echt der Hammer. Aber ganz so schräg geht es in unserer Kirche nicht zu. Übrigens gibt es auch eine abgefahrene Kirchenszene bei den Bluesbrothers …“

„Jedenfalls“, unterbrach ihn Opa, „wollte ich mir den Laden mal anschauen.“

„Willkommen, Papa!“, sagte Mama. „Aber ich bitte dich, dass du dich zusammenreißt und nicht irgendwelchen Blödsinn machst. Sei zurückhaltend und … und schau dir alles an.“

„Na, na, Annika“, meinte Opa. „Keine Panik. Ich werde euch schon nicht blamieren. Man sollte aber auch seine Gesinnung nicht verleugnen. Übrigens schmeckt der Kaffee diesmal verdammt gut, nur die Brötchen sind etwas hart.“

Um zwanzig vor zehn saßen wir alle in Opas Auto und fuhren los.

„Fährst du immer fast in der Mitte der Straße?“, fragte Sven.

„Ja, wenn es leer ist“, brummte Opa. „So kann ich sicher sein, dass ich nicht den Bordstein streife.“

„Hm“, meinte Mama. „Ich glaube, wir müssen mit dir mal zum Augenarzt.“

Darauf sagte Opa nichts und fuhr ein paar Zentimeter weiter nach rechts.

Unsere Kirche sieht eigentlich nicht so richtig wie eine Kirche aus mit Kirchenschiff und einem hohen Glockenturm. Klar, am Giebel ist ein kleines Steinkreuz befestigt, das schon, aber sonst ist sie eher modern gebaut, und die bunten Glasfenster gehen nach hinten raus auf den Parkplatz, weil es da Osten ist und die Sonne dann durch die Fenster scheint.

Anfangs fanden das alle gut, aber jetzt, mit der ganzen Technik und dem Beamer, der die Liedtexte an die Wand wirft, mussten wir Rollos befestigen, damit es nicht zu hell wurde.

Bei uns gibt es keine Kirchenbänke, sondern Polsterstühle. Es steht ein Altartisch vorne, der meistens mit Blumen geschmückt ist, und daneben die Kanzel auf der einen und das Klavier auf der anderen Seite.

Ich war mal mit einem Freund in einer richtigen alten Kirche und war erstaunt, dass die Leute vor dem Gottesdienst alle total ruhig waren und besinnlich vor sich hin geschaut haben. Das ist bei uns anders. Es ist eher wie in einem Bienenstock, wo es summt und brummt, und erst, wenn dann das Klavier zu einem Vorspiel einsetzt, beruhigen sich die Leute allmählich. Einmal musste der Pastor aufstehen und sagen, dass die Gespräche aufhören sollten, weil man von der Musik kaum etwas hörte.

Das könnte aber auch an Karin gelegen haben, die noch nicht so gut Klavier spielen kann.

Ich konnte mit den Gottesdiensten bei uns nicht viel anfangen und fand sie meistens langweilig, obwohl sich alle immer viel Mühe gaben. Gut, manche Lieder sang ich gerne mit, und bei der Predigt gefielen mir besonders die Geschichten, die darin vorkamen. Hinterher traf ich mich oft mit ein paar Freunden, und wir spielten Tischfußball im Keller.

Als wir kamen, wurden wir natürlich gleich am Eingang begrüßt, und Opa sagte mehrmals, dass er der Vater von Annika sei, und der Typ am Eingang fand es total spannend, den Vater meiner Mutter kennenzulernen, und er meinte auch, eine gewisse Ähnlichkeit im Gesicht zwischen den beiden zu erkennen.

Meine Mutter verteilte das erzwungene Lächeln Nummer zwei und steuerte auf Sitzplätze im ersten Drittel zu.

„Wo gibt es denn die Liederbücher?“, fragte Opa.

„Du brauchst keine, weil der Text an die Wand geworfen wird“, flüsterte Mama.

„Dann müsste ich meine Fernsichtbrille aufsetzen“, flüsterte Opa, „die ich vergessen habe.“

Mir war bis dahin nicht klar, wie laut man flüstern konnte, aber es fiel nicht weiter auf, weil sich alle halblaut unterhielten.

Irgendwann setzte das Klavier ein, und der Geräuschpegel nahm ganz allmählich ab, und am Ende des Stücks waren dann alle ruhig.

„René“, flüsterte meine Mutter. „Hol für Opa ein Liederbuch, weil er seine Fernsichtbrille nicht dabeihat.“

„Aber er ist doch vorhin Auto gefahren“, flüsterte ich zurück. Meine Mutter nickte und seufzte gleichzeitig.

Also ging ich los und holte für Opa ein Liederbuch. Zum Glück standen die Nummern unterhalb der Texte an der Wand für die, die unbedingt ein Liederbuch brauchten.

„Wie bei Belsazar“, sagte Opa und deutete auf die Schrift an der Wand, und ich grinste, weil ich natürlich die Geschichte von König Belsazar kannte, wo bei einem Festmahl plötzlich eine Schrift an der Wand erschien. Wir hatten erst neulich das Gedicht von Heine auswendig lernen müssen: „Die Mitternacht zog näher schon, in stummer Ruh lag Babylon …“

„Ich hoffe, dass ich morgen noch lebe“, flüsterte Opa meiner Mutter ins Ohr.

„Wieso denn?“

„Weil Belsazar am nächsten Tag tot im Bett lag, nachdem die Schrift an der Wand erschienen war.“

Er lachte lautlos in sich hinein und fing gleich danach an zu husten.

Ich wunderte mich, dass er diese Geschichte überhaupt kannte, wo er sich doch gar nicht mit der Bibel beschäftigte.

Inzwischen hatten wir drei Lieder gesungen. Aber bis Opa ein Lied gefunden hatte, fing schon das nächste an.

„Das geht mir alles zu schnell“, murmelte er.

Nach der Kollekte wurde Opa von Reiner, der diesmal mit den Bekanntmachungen dran war, extra erwähnt, und alle drehten sich nach Opa um, der mit seiner rechten Hand allen zuwinkte. Ich hatte den Eindruck, dass sich Opa bisher gut amüsierte.

Weil wir einige Flüchtlinge aus dem Iran haben, wird der Predigttext bei uns immer auf Persisch vorgelesen und dann auf Deutsch.

Opa war zuerst überrascht und runzelte die Stirn. Dann murmelte er so laut, dass es fast alle hören konnten: „Man kommt sich hier vor wie im Orient!“

Einige drehten sich um.

Bei der Predigt schaute er mehrmals auf die Uhr und gähnte. Mama blickte starr geradeaus, als ob sie es nicht gemerkt hätte.

Bertram Giesecke, unser Pastor, ist eigentlich nicht schlecht. Er gibt sich große Mühe. Und damit die Leute bei der Predigt dranbleiben, stellt er oft zwischendurch Fragen, die er aber dann selbst beantwortet. Wahrscheinlich rechnet er gar nicht damit, dass jemand was sagt. Aber Opa kannte Bertram natürlich nicht. Mitten in der Predigt stellte er die Frage: „Und wie geht es euch so, wenn ihr einen schlechten Tag habt?“

Opa blickte überrascht auf. Und als niemand etwas sagte, rief er: „Entweder ich rauche eine Zigarette, oder ich mache den andern das Leben schwer. Das lenkt ab. Dann bin ich nicht der Einzige, dem es schlechtgeht.“

Es war eine Sekunde lang völlig still. Bertram blickte Opa überrascht an. Damit hatte er nicht gerechnet, und einige andere drehten sich auch zu Opa hin. Jemand prustete los.

Bertram sagte so was wie: „Vielen Dank. Ja, das kann schon mal vorkommen. Schauen wir einmal, was Paulus dazu meint.“

Und dann erklärte er, dass Paulus gerne Gott dankt, wenn es ihm schlechtgeht, weil ihm das hilft.

„Das ist doch der reinste Schwachsinn!“, rief Opa dazwischen und bekam von Mama einen kleinen Fußtritt. „Ich kann doch nicht danken, wenn ich nicht gut drauf bin. Da fällt mir das Fluchen schon leichter!“

Wieder bedankte sich Bertram für den Kommentar und sagte dann sehr deutlich, dass er jetzt gerne zu Ende predigen wollte. Nachher könnte man ja darüber reden. Er sagte dann noch, dass es tatsächlich funktioniert, wenn man für die unangenehmen Dinge dankt. Aber Opa schüttelte nur den Kopf und brummte wieder: „Der reinste Schwachsinn! Ich nenne das Gehirnwäsche!“

Eine Dame vor uns drehte sich empört um und zischte: „Können Sie bitte Ihren Mund halten. Ich möchte etwas von der Predigt verstehen!“

„Sie sollten dafür danken, dass ich sie störe. Dann können Sie das mal ausprobieren, was gerade gesagt wurde. Darum geht es doch hier!“

Daraufhin blieb sie stumm.

Wir haben die Angewohnheit, das Gebet manchmal freizugeben, sodass jeder, der gerne will, laut ein Gebet von seinem Platz aus beten kann. Opa blickte erschrocken auf, als einer neben ihm plötzlich laut betete.

Und ich zuckte zusammen, als Opa selbst damit anfing. Sein Gebet war relativ kurz. Er sagte ungefähr: „Gott, danke für das Frühstück und das saubere Wasser aus der Leitung. Danke, dass ich den verdammten Krieg überlebt habe und diese seltsame Predigt. Ich finde es nervend, wenn man bei Gebeten so herumlabert. Ich hoffe, dass ich meiner Familie nicht zu sehr auf die Nerven gehe. Amen.“

Es war wieder ein paar Sekunden still, weil alle etwas verblüfft nach diesem Gebet schwiegen. Normalerweise wurde nicht so ehrlich gebetet. Dann betete der Pastor, dass es gut ist, wenn wir auch für die alltäglichen Dinge dankbar sein können.

 

Hinterher, beim Kirchenkaffee, stand Opa neben einem Bistrotisch und unterhielt sich mit einer ganzen Reihe Leute, oder er wollte sich unterhalten, aber die meisten blickten in ihre Kaffeebecher, als ob eine geheime Botschaft auf dem Becherboden stand.

Er versuchte es mit Witzen, und ein paar lächelten höflich. Schließlich redete er so laut, dass man es überall hören konnte, und erklärte, dass immer mehr Leute nach Deutschland kämen, um sich ein sorgenfreies Leben mit unseren Steuergeldern aufzubauen.

Einer unserer Iraner, ich glaube, es war Ervin, fragte Opa, wo er denn ursprünglich herkäme.

„Aus Leipzig.“

„Und seit wann?“

„Ich bin neunundvierzig rübergekommen.“

„Dann sind Sie ja auch ein Flüchtling gewesen.“

Opa blickte Ervin etwas seltsam an und versuchte, wieder einen Witz zu erzählen.

„Ich will gar nicht wissen, welche von seinen Witzen er gerade zum Besten gibt“, sagte meine Mutter und setzte hinzu: „Gehen wir!“

Mit einem strahlenden Lächeln (Lächel Nummer neun, unecht) hakte sie sich bei ihrem Vater unter und sagte laut: „Ich muss jetzt meinen Vater mitnehmen. Er ist nämlich unser Chauffeur.“ Ein komisches Wort, weil es mich an einen alten Rolls Royce erinnerte und an einen Mann in Uniform mit Schirmmütze.

Opa ließ sich nicht gerne mitziehen, aber er sah es dann ein, und wir fuhren zurück.

„Meine Güte, sind die alle lahm!“, brummte er. „Es kommt beim Kaffeetrinken keine richtige Stimmung auf.“

„Ich glaube, die meisten waren bedient über deine seltsamen Aktionen“, meinte meine Mutter.

„Was denn für Aktionen?“

„Man kommt sich vor wie im Orient! Oder die merkwürdigen Antworten auf Pastor Bertrams Fragen! Und unsere Flüchtlinge haben sich auch über deine verletzenden Bemerkungen gewundert, wo du doch selbst ein Flüchtling warst.“

Aber das konnte er nicht ertragen: „Ich verbiete dir, mich in einen Topf mit den Iranern zu werfen.“

Das fand Anna jetzt wieder lustig. „Opa wird in einen Topf geworfen!“, sagte sie.

„Überhaupt“, meinte meine Mutter, „wusste ich gar nicht, dass du öffentlich beten kannst, Papa. Ich stelle es mir schwierig vor, zu einem Gott zu beten, den es deiner Meinung nach gar nicht gibt.“

„Das habe ich nur getan, um einen guten Eindruck zu machen, weil mich alle bei der Predigt ein bisschen dumm angeschaut haben.“

„Das nennt man übrigens rhetorische Fragen“, meinte Sven ein bisschen angeberisch. „Wenn niemand eine Antwort erwartet.“

„Ja, ich bin nicht blöd, Sven“, schimpfte Opa. „Aber dieser Pastor blickte sich um, als ob er auf eine Antwort wartete. Auf jeden Fall haben mich die Leute auf mein Gebet hinterher angesprochen und fanden es ganz gut. Ich habe ihnen den Witz erzählt, wo ein Taxifahrer in den Himmel kommt und begeistert aufgenommen wird, weil bei seinem Fahrstil die Leute regelmäßig anfingen zu beten.“

„Na ja, vielleicht hast du es nicht gemerkt, aber die haben mehr aus Höflichkeit gelacht! Und wir müssten eigentlich jetzt auch beten, denn du fährst ohne deine Fernbrille.“

Mama machte eine Pause und sagte dann noch: „Du benutzt also das Gebet, um einen guten Eindruck zu machen?“

„Ich passe mich nur an. So wie ein Forscher im Urwald sich einem exotischen Stamm anpasst und seine Bräuche mitmacht.“

„Aha!“

Ich fand es witzig, mir vorzustellen, dass ich zu einem Stamm von Wilden gehörte, die ein Forscher untersucht und aus lauter Freundlichkeit ihr abscheuliches Essen probiert oder ihre merkwürdigen Tänze mitmacht.

6
Sven

Was René so erzählt hat, stimmte nicht immer genau. Manches bekam er auch nicht mit. Klar, eine Sache war ja nicht zu übersehen: Ich war bei Opa auf Krawall gebürstet. „Die Auseinandersetzung des jungen Mannes mit einer männlichen Figur“ oder so ähnlich. Seine Art, Bemerkungen zu machen, klangen so aggressiv, dass ich mich nicht zurückhalten konnte. Und wie er schon aussah! Er hatte mehr graue als weiße Haare, und das in seinem Alter. Das konnte nicht echt sein. Ich ging davon aus, dass er sie färbte. Und dann diese ekligen Haarbüschel, die aus seinen Ohren wuchsen! Er hatte sich auf jeden Fall auf mich eingeschossen.

Und ich habe mir zum x-ten Mal überlegt, dass es vielleicht doch nicht so gut war, während des Studiums zu Hause zu leben. Aber ein Zimmer ist teuer, und Mama ganz allein mit den beiden Kleinen zu lassen, fand ich auch nicht so gut. Na ja, ich werde die Zeit mit Opa überleben. Aber nach der Zwischenprüfung suche ich mir mal ein Zimmer in Tübingen. Es wird wohl auf eine WG hinauslaufen.

Neulich, beim Mittagessen nach dem spektakulären Gottesdienst mit ihm, sagte er plötzlich: „Sag mal, Sven, du bist doch ein schlaues Kerlchen, kannst wahrscheinlich logisch denken und bildest dir deine eigene Meinung. Immerhin studierst du ja Theologie. Ich schätze dich so ein, dass du nicht einfach alles nachplapperst wie ein Papagei, oder?“

Ich nickte und überlegte gleichzeitig: Vorsicht, Sven, irgendetwas plant der Alte! Dann sagte ich langsam: „Ja, ich betrachte mich nicht als Papagei, da hast du recht … Worauf willst du hinaus?“

Anna kicherte und wiederholte ihr neues Lieblingswort: „Schlaues Kerlchen!“

„Na ja, ist doch klar“, fuhr Opa fort. „Es geht um die Sache mit Gott. Die biblischen Geschichten − das ist doch Kinderkram. Der Turmbau zu Babel klingt wie ein Märchen. Die unterschiedlichen Sprachen waren doch schon längst vorher da, ganz abgesehen von den angeblichen Wundern, die Jesus vollbracht haben soll.

Aber diese Schöpfungsgeschichte ist doch einfach ein Witz für Leute, die ihren Grips gebrauchen. Es kann doch nicht sein, dass ein intelligenter Junge wie du diese läppischen Geschichten für bare Münze hält und an so einen Gott glaubt, der über allem schweben soll. Ich vermute mal, dass euch im Studium euer Kindergartenglaube erst mal ausgetrieben wird.“

Ich war verblüfft, dass er so direkt den Glauben angriff. Selbst meine Mutter sagte nichts. Wahrscheinlich, weil ihr nichts einfiel. Aber das kam mir gerade recht. Jetzt konnte ich ihm mal zeigen, dass sein plumper Atheismus mich nicht gleich aus der Bahn warf.

„Also, Opa“, begann ich meinen Gegenangriff, „wenn ich dich richtig verstanden habe, dann bist du der Meinung, dass Dietrich Bonhoeffer, Martin Luther King und Gustav Heinemann alles Idioten waren, weil sie an Gott glaubten?“

Opa brauste wie erwartet auf: „Das hab ich nicht gesagt …“

„Aber das ist die Folge von dem, was du gesagt hast.“

„Zieh dich nicht auf ein paar große Männer zurück. Keine Ahnung, warum die an diesen Mist geglaubt haben. Ich hab dich nach deiner Meinung gefragt.“

Gut, das hatte ihn schon mal leicht verunsichert, und ich fuhr fort: „Reg dich doch nicht auf, Opa, ich wollte nur sagen, dass Leute, die an Gott glauben, nicht zwangsläufig Idioten sein müssen.“

Jetzt könnte das Argument ganz gut passen, dass seine Anschauung von vorgestern sei, und ich sagte: „Deine Argumente, Opa, sind ehrlich gesagt ziemlich dünn, weil du immer noch im 19. Jahrhundert lebst. Inzwischen gibt es die vergleichende Religionswissenschaft und die Tiefenpsychologie, und die haben erkannt, dass die scheinbar läppischen Geschichten in der Bibel tiefsinnige Erzählungen über den Glauben sind. Die Bibel ist eben kein Biologiebuch, Opa, das weiß doch jeder, der ein bisschen gebildet ist. Die Bibel erzählt in Form von Geschichten etwas über die Beziehungen zwischen Gott und uns. Die Schöpfungsgeschichte sagt mit bildreichen Worten, dass es kein Zufall ist, wie die Welt entstand. Dahinter steht Gott. Also, ehrlich, Opa, ich hätte von dir etwas mehr Allgemeinbildung erwartet. Deine Argumente klingen nach unterstem Niveau und …“

Ich hörte mit Reden auf, weil Opa lospolterte: „Willst du etwa Nietzsche für dumm erklären?“

„Natürlich ist er dumm“, sagte ich so cool wie möglich. „Er hat sich in etwas hineingesteigert mit seinem Gott-ist-tot-Quatsch. Ist ja auch nicht zufällig, dass er wahnsinnig geworden ist. Es gibt heute kaum noch militante Atheisten, weil du nicht beweisen kannst, dass es Gott nicht gibt. Außerdem, Opa, du weißt ja: Wer schreit, hat meistens unrecht.“

Jetzt hatte ich ihn! Er schoss Blitze aus seinen Augen und knurrte: „Ich lasse mich von einem windigen Studentenarschloch nicht beleidigen!“

„Ich finde, dass du uns beleidigt hast, weil du es nicht aushältst, dass intelligente Leute an Gott glauben. Und das mit dem Arschloch, das nimmst du zurück!“

Es war kurz still, alle hielten den Atem an. War natürlich von mir auch nicht gerade nett, aber ich hatte ja nichts zu verlieren. Wenn es ihm bei uns nicht gefiel, würde er wieder gehen. Und außerdem hatte er nicht das Recht, mich unflätig zu beschimpfen.

Opa blickte konzentriert auf seinen Teller, dann räusperte er sich und sagte: „Gut. Das Arschloch nehme ich zurück. Aber dass man sein Leben damit verbringt, an einen unsichtbaren Gott zu glauben, den keiner beweisen kann, das ist … das ist einfach Zeitverschwendung.“

„Für dich vielleicht, aber nicht für uns. Was hältst du von folgendem Gedanken, Opa?“, fing ich wieder an und dachte an die Geschichte mit Blaise Pascal und seinem Gottesbeweis.

„Wenn ich sterbe und dann feststelle, dass es Gott nicht gibt oder dass alles aus ist nach dem Tod, dann habe ich wenigstens sinnvoll gelebt. Aber wenn du stirbst und dann feststellst, es geht weiter, und du triffst auf Gott, der dich nach deinem Leben fragt, wie du es gelebt hast, dann siehst du wirklich alt aus. Das muss dann wirklich blöd für dich sein.“

„Ich habe selten jemanden getroffen“, sagte Opa, und ich merkte, wie er versuchte, noch eins draufzusetzen, „der so eingebildet ist wie du, aber − na ja, so ist man eben mit zwanzig …“

Er stand auf und griff nach seinem Stock. „Eine tolle Familie!“, grunzte er.

Meine Familie war zwar geschockt, aber ich rieb mir im Stillen die Hände, weil ich dachte, dass ich die Runde gewonnen hatte. Seltsam fand ich nur, dass ich ein angedeutetes Lächeln in seinen Mundwinkeln sah, als er an mir vorbeihumpelte, das ich mir nicht erklären konnte. Es war nur kurz über sein Gesicht gezuckt, aber ich hatte es bemerkt und war verwirrt, weil es überhaupt nicht zu seiner Laune passte. Erst viel später sollte ich es verstehen. Als die Tür ins Schloss fiel, fing Mama an und sagte: „Also, wirklich, Sven! Ihn so vorzuführen war eine Umdrehung zu heftig.“

„Ich lass mir doch von ihm nicht mit seinem billigen Atheismus den Glauben madig machen …“, sagte ich.

„Ich … versteh dich ja und … und finde es gut, dass du so schlau bist, aber er regt sich dann dermaßen auf, dass man um seine Gesundheit fürchten muss.“

„Ja, dann soll er sich das nächste Mal zusammenreißen und nicht so dumpfbackige Argumente verbreiten.“

Meine Mutter seufzte, aber ich fand es toll, dass ich dem Alten mit seinem überheblichen Getue mal gezeigt hatte, was Sache war. Selbst Anna fand das, obwohl sie alles etwas anders ausdrückte und sagte: „Opa hat Arschloch gesagt!“

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