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Erster Teil Landesspezifische Ausprägungen

Erster Teil Landesspezifische Ausprägungen › § 58 Wissenschaft vom Verwaltungsrecht: Deutschland

Walter Pauly

§ 58 Wissenschaft vom Verwaltungsrecht: Deutschland

Allgemeine Hinweise

I.Die Genese der Wissenschaft vom Verwaltungsrecht1 – 17

1.Herausbildung aus der älteren Schicht der Policeywissenschaft1 – 4

2.Verengung zum rechtswissenschaftlich-dogmatischen Verwaltungsrecht5 – 12

3.Niedergang im Nationalsozialismus13, 14

4.Neubeginn unter dem Bonner Grundgesetz15 – 17

II.Die gegenwärtige Wissenschaft vom Verwaltungsrecht18 – 37

1.Schulenbildung und Richtungsstreit18 – 27

a)Konsolidierung der rechtsakt- und rechtsschutzbezogenen Dogmatik18

b)Kritik der „Neuen Verwaltungsrechtswissenschaft“19 – 21

c)Theorie und Methodik der Verwaltungsrechtswissenschaft22 – 27

2.Ausdifferenzierung verwaltungsrechtlicher Teildisziplinen28, 29

3.Verhältnis zu anderen juristischen Subdisziplinen30, 31

a)Verfassungs- und Verwaltungsrechtslehre30

b)Verwaltungsrechts- und Zivilrechtswissenschaft31

4.Verhältnis zur Verwaltungswissenschaft32

5.Verhältnis zur Verwaltungspraxis und Verwaltungsgerichtsbarkeit33, 34

6.Foren und Medien35 – 37

III.Lehre des Verwaltungsrechts38, 39

IV.Europäisierung der Wissenschaft vom Verwaltungsrecht40 – 44

1.Perspektivenwandel und Omnipräsenz in Forschung und Lehre40 – 43

2.Entstehung einer europäischen Verwaltungsrechtswissenschaft im europäischen Verwaltungsverbund44

Bibliographie

Erster Teil Landesspezifische Ausprägungen › § 58 Wissenschaft vom Verwaltungsrecht: Deutschland › Allgemeine Hinweise

Allgemeine Hinweise

Abkürzungen


AöR Archiv des öffentlichen Rechts
DÖV Die öffentliche Verwaltung
DVBl. Deutsches Verwaltungsblatt
JZ Juristenzeitung
JuS Juristische Schulung
NVwZ Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht
StWStP Staatswissenschaften und Staatspraxis
VerwArch. Verwaltungsarchiv
VVDStRL Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer

Erster Teil Landesspezifische Ausprägungen › § 58 Wissenschaft vom Verwaltungsrecht: Deutschland › I. Die Genese der Wissenschaft vom Verwaltungsrecht

I. Die Genese der Wissenschaft vom Verwaltungsrecht

1. Herausbildung aus der älteren Schicht der Policeywissenschaft

1

Verwaltung im spezifischen Sinne einer kompetenziell ausdifferenzierten, verschriftlichten, tendenziell normierten und bürokratischen sowie zunehmend verwissenschaftlichten Amtsführung ist in Deutschland cum grano salis seit dem 16. Jahrhundert mit der Aufweichung der tradierten religiösen und altständischen Ordnungsvorstellungen in den nach Herrschaftsverdichtung strebenden frühneuzeitlichen Territorialstaaten entstanden.[1] Unter dem neoaristotelischen Leitbild „guter Policey“[2] stand obrigkeitliches Handeln insgesamt im Dienste richtiger und angemessener Ordnung sowie Verwaltung des Gemeinwesens, worauf insbesondere eine vielfältige und formenreiche Polizeigesetzgebung durch Statuierung sozialdisziplinierender Pflichtenordnungen (beispielsweise Hof-, Schul-, Feuer-, Kleider-, Markt-, Gewerbe- und Bettelordnungen) hinzielte, in den Territorien ebenso wie in den Städten und im Reich, dort kulminierend in den Reichspolizeiordnungen von 1530, 1548 und 1577. Literarisch flankiert wurde diese Entwicklung durch ein breites Spektrum allenfalls am Rande juristischer Schriften. Diese reichten von Regimentstraktaten, klassisch ausgeprägt zum umfassenden Handbuch der Politik in Veit Ludwig von Seckendorffs „Teutscher Fürstenstaat“ (1656), über verwaltungspraktische Formel- und Kanzleibücher, Beamtenethiken, überwiegend der altökonomischen Lehre vom Ganzen Haus verpflichtete sog. Hausväterliteratur bis hin zu „Ehezuchtbüchlein“, die als „theologisch-moralisch-policeyliche Mischgattung“ zur guten Ordnung ermahnten.[3]

2

Im Zuge der Bewältigung der verheerenden Folgen des Dreißigjährigen Krieges breitete sich in den außenpolitisch kaum noch handlungsfähigen deutschen Territorialstaaten der Kameralismus aus und gewannen die innere und die soziale Verwaltung eine besondere legitimatorische und praktische Bedeutung. Zu der in Europa singulären eigenen Disziplin einer Policeywissenschaft kam es nach systematisierenden Anfängen im 17. Jahrhundert nicht zuletzt durch die Einrichtung entsprechender, den philosophischen Fakultäten zugeordneter Lehrstühle, zunächst in Halle und Frankfurt/Oder (1727), und das Erscheinen einschlägiger Lehrbücher. Um die Mitte des 18. Jahrhunderts verselbständigte sich die Policeywissenschaft allmählich gegenüber der staatswirtschaftlichen Kameralistik und Privatökonomie und fand ihren ersten Systematiker in Johann Heinrich Gottlob von Justi. Dessen „Grundsätze der Policey-Wissenschaft“ (11756) erklärten allerdings zunächst noch in kameralistischer Weite und Anlehnung an die Eudämonielehre von Christian Wolffs Natur- und Vernunftrecht die staatliche Wohlfahrtspflege zur Aufgabe der Policey, wenn auch zunehmend unter Aufbrechung der Vorstellung einer gemeinschaftlichen Glückseligkeit von Fürst und Volk zugunsten des Glücks der Bürger.[4] Dagegen band der nächst von Justi bedeutendste Polizeiwissenschaftler des 18. Jahrhunderts, der dem habsburgischen Absolutismus verhaftete Joseph von Sonnenfels, in seinem Hauptwerk „Grundsätze der Policey“ (51787) die Policey an einen, wenn auch weit gefassten Sicherheitszweck.

3

Speziell dem Policeyrecht als eigenem Fach widmete sich erstmals der von Montesquieu beeinflusste Altdorfer Rechtslehrer Johann Heumann von Teutschenbrunn in seinem 1757 erschienenen Werk „Initia Iuris Politiae Germanorum“, das die Natur der Policeygesetze, ihre Quellen und Geschichte untersuchte, um sodann die auch zuvor schon in Sammlungen zusammengestellte und inzwischen ungeachtet ihrer Gemachtheit und damit Veränderlichkeit als Recht begriffene Normenmasse nach Sachgebieten unter Unterscheidung von Policey- und Justizsachen juristisch zu systematisieren.[5] Die große Summe der sich wissenschaftlich etablierenden juristischen Disziplin lieferte an der Wende zum 19. Jahrhundert, im Übergang vom aufgeklärten Absolutismus zum liberalen Rechtsstaat und konstitutionellen System Günther Heinrich von Berg mit seinem „Handbuch des Teutschen Policeyrechts“ (1799–1809).[6] Dort wurde zwar die Wohlfahrtspolicey der Sicherheitspolicey unterstellt, sie aber trotz Kants wirkmächtiger Kritik jeder empirisch bedingten Glückseligkeit nicht verabschiedet, weil von Berg die Policey als „Schutzmacht des bürgerlichen Handels und Wandels“ begriff.[7] Der Wohlfahrtszweck war auf die Bekämpfung künftiger gemeinschädlicher Übel beschränkt, Eingriffe in die bürgerliche Freiheit nur im Rahmen der Verfolgung rechtmäßiger Zwecke zulässig und der Bereich der Justiz rechtsstaatlichen Postulaten folgend ausgeweitet.[8]

 

4

Entgegen der radikalliberalen Beschränkung des Staates auf den Rechtszweck wirkte der pragmatische Altliberale Robert von Mohl in seinem staatswissenschaftlich ausgerichteten Werk „Die Polizei-Wissenschaft nach den Grundsätzen des Rechtsstaates“ (1832/1833) im Vormärz auf eine Synthese von wohlfahrtsstaatlicher Polizei, gerade auch mit Blick auf die soziale Frage, und einer formal wie material ausgeformten Rechtsstaatlichkeit hin. So „taufte er den verketzerten Polizeibegriff mit liberalem Wasser“.[9] Zweck des Rechtsstaates sei es neben der Freiheitssicherung liberal-formaler Lesart, auch den Bürgern „Schutz und Unterstützung“ zu gewähren, physisch durch die „Medicinal-“ und die „Armen-Polizei“, geistig durch „Förderung der Verstandesbildung“, der „sittlichen“ und der „religiösen Bildung“. Neu ist die Verknüpfung mit einem als freiheitssichernd konzipierten rigorosen Subsidiaritätsprinzip. Zum Schutz der Freiheit der Bürger fügte von Mohl die Verwaltung in das System des konstitutionellen Staatsrechts ein,[10] band sie bei Neuregelungen eines Rechtsverhältnisses an ein unter Mitwirkung der Volksvertretung zustande gekommenes Gesetz[11] und wollte sie, einem zunächst wirkungslos gebliebenen zeitgenössischen Ansatz folgend, einer eigenständigen Administrativjustiz unterworfen sehen. Hatte Heumann der Sache nach allenfalls Vorformen des Verwaltungsrechts behandelt, von Berg um 1800 eine Gesamtdarstellung des „von nun an so genannten Administrativ- oder Verwaltungsrechts“[12] vorgelegt, so gilt spätestens der zweite Band von Robert von Mohls „Staatsrecht des Königreiches Württemberg“ (1831) als wissenschaftlich bedeutsame Darstellung des Verwaltungsrechts, wobei Verfassungs- und Verwaltungsrecht unter dem gemeinsamen Dach des Staatsrechts einander zugeordnet werden.[13] Parallel zur Entstehung der Verwaltungsrechtswissenschaft aus der Policeywissenschaft vollzog sich in der Ausbildung zur höheren Staatsverwaltung eine Abwertung der kameralistischen zugunsten rein juristischer Inhalte, wobei allerdings in der Juristenausbildung das Zivilrecht dominierte und Staats- wie Verwaltungsrecht eine Nischenexistenz führten.[14]

2. Verengung zum rechtswissenschaftlich-dogmatischen Verwaltungsrecht

5

Auch nach dem Scheitern der Frankfurter Paulskirchenverfassung (1849) hat sich die Rechtsstaatsidee im liberalen Bürgertum erhalten und drängte nun, abgelöst von der politischen Verfassungsfrage und dem Anspruch demokratischer Partizipation, auf eine Beschränkung der Staatsgewalt gegenüber dem Einzelnen. Wegweisend schied Carl Friedrich von Gerber (1865) das Verwaltungsrecht aus dem Staatsrecht aus, wollte es dann „in seiner Selbständigkeit erkannt“ wissen und erklärte, wenn „der Begriff des Rechtsstaats irgend eine reelle Bedeutung hat, so ist sie gerade die, dass mehr und mehr auch auf dem Gebiete der Verwaltung feste rechtliche Bestimmungen gegeben werden, welche der Willkür den Boden entziehen“.[15] Bereits 1856 war auf gesetzespositivistischer Grundlage Josef Pözls „Lehrbuch des bayerischen Verwaltungsrechts“ erschienen, worauf aus württembergischer Perspektive, aber mit gemeindeutschem Anspruch unter Übernahmen aus dem französischen Verwaltungsrecht Friedrich Franz Mayers „Grundzüge“ (1857) und „Grundsätze des Verwaltungsrechts“ (1862) folgten, die zunächst kaum rezipierte Ansätze der Aufstellung eines Systems der Rechtsinstitute und eines Allgemeinen Teils erkennen lassen.[16] Rechtsvergleichung bezog Mayer zwar primär auf die deutschen Einzelstaaten, rezipierte dabei gleichwohl etwa mit Gabriel Dufours „Traité général de droit administratif appliqué“ (11843–1846; 21854–1857) Literatur, die Jahrzehnte später auch noch Otto Mayer heranziehen sollte. Für die Etablierung des Faches bedeutsam war die Einrichtung von verwaltungsrechtlichen Lehrstühlen, in Württemberg 1842, in Preußen 1881 einsetzend, und einer Verwaltungsgerichtsbarkeit, ab 1863 in Baden und ab 1872 in Preußen, die Entstehung einer verwaltungsrechtlichen Zeitschriftenlandschaft und die zunehmende Publikation einschlägiger Darstellungen, unter anderem aus der Feder von Ernst von Meier, Georg Meyer, Otto von Sarwey, Edgar Loening und Karl Freiherr von Stengel,[17] die mehr oder minder das juristische neben dem staatswissenschaftlichen Moment herausstellten und die Gliederung nach dem Ressortprinzip durch ein abstrakteres Unterteilungsprinzip ersetzten.

6

Den erratischen Versuch, die Weite der alten Polizeiwissenschaft in einer modernen Verwaltungslehre fortzuschreiben, unternahm der hegelianisch inspirierte Gesellschaftstheoretiker Lorenz von Stein (Die Verwaltungslehre, 7 Theile, 1865–1868), der in seinem Konzept eines sozialen Königtums die Verwaltung als den tätigen, arbeitenden Staat mit einer Korrektivfunktion gegenüber der Gesellschaft ausstattete. Da das Verwaltungsrecht dabei „aus dem Wesen des zu Verwaltenden“ zu bilden sei,[18] konnte ihmzufolge die Verwaltungsrechtswissenschaft lediglich als unselbständiges „Correlat der Verwaltungslehre“ begriffen werden, wenngleich ausgebildet zu einem „System des verfassungsmäßigen Verwaltungsrechts“.[19] Programmatisch sprach von Stein von einem europaweit „vergleichenden Verwaltungsrecht“ und schichtete einen die Organe und Prinzipien betreffenden „allgemeinen Theil“ von einem auf die Verwaltungsgebiete und -aufgaben bezogenen „besonderen Theil“ ab.[20] Seinem gemeineuropäischen Ansatz zufolge nahm er dabei die Verhältnisse zahlreicher europäischer Staaten in den Blick, etwa in dem 1876 in zweiter Auflage erschienenen „Handbuch der Verwaltungslehre mit Vergleichung der Literatur und Gesetzgebung von Frankreich, England, Deutschland und Österreich“ oder noch ausgreifender in dem seit 1860 erscheinenden „Lehrbuch der Finanzwissenschaft“, in dem in der fünften und letzten Auflage 1885/1886 darüber hinaus auch Italien und Russland in die Darstellung einbezogen wurden. Nicht ohne ein gewisses nationales Selbstbewusstsein sah von Stein dabei die deutsche Verwaltungstätigkeit als eine Art gelungene Synthese aus Englands staatsfreier Selbstverwaltung und Frankreichs nahezu selbstverwaltungsfreier Staatsverwaltung an. Wie sehr gerade das französische Verwaltungsrecht zeitgenössisch interessierte, belegt nicht zuletzt Robert von Mohls dreibändige Enzyklopädie „Die Geschichte und Literatur der Staatswissenschaften“ (1855–1858), die einen umfangreichen Bericht speziell über die französische Literaturentwicklung lieferte. Bei aller Bewunderung der Systematik von Verwaltungsrecht und Verwaltungsrechtswissenschaft in Frankreich fehlte nicht die Kritik an der hohen Zentralisation sowie der weit ausgedehnten Staatstätigkeit.

7

Rechtspolitische Anstöße, insbesondere in Richtung einer eigenständigen Verwaltungsgerichtsbarkeit, vermittelte der rechtsliberale Rudolf von Gneist, der ausgehend vom englischen Verwaltungsrecht und der Idee des selfgovernment mit zahlreichen rechtsvergleichend gehaltenen Schriften für Rechtsstaatlichkeit und Selbstverwaltung eintrat, unter anderem für eine ehrenamtliche Beteiligung an der Verwaltung, um so den Gegensatz zwischen Obrigkeit und Bürger abzumildern. So resümierte er 1869 im Vorwort zu „Verwaltung – Justiz – Rechtsweg. Staatsverwaltung und Selbstverwaltung nach englischen und deutschen Verhältnissen“ die Vorbildwirkung der „Vergangenheit und Gegenwart Frankreichs und Englands“ für die bürgerliche Freiheit in Deutschland. Insgesamt neigte von Gneist zu einer Idealisierung der englischen Verhältnisse, denen er das unter dem Partikularismus der Klassen leidende französische System diametral entgegensetzte. Das deutsche Staats- und Verwaltungswesen schien ihm dagegen insbesondere auf Grund der ausgeprägten gesellschaftlichen Harmonie durchaus ebenbürtig. Von Gneists rechtsvergleichende Methode zielte keineswegs auf eine kritiklose Rezeption von historisch und sozial inkompatiblem fremden Recht, sondern auf ein auf die deutschen Verhältnisse und Reformbedürfnisse passendes Destillat. In den universal angelegten Arbeiten von Gneists wie auch von Steins spiegelt sich in gewissem Maße auch das Nachglimmen des alten Polizei- und Wohlfahrtstaatsgedankens wider. Der aufkommende Rechtsstaat führte allerdings zu einer Funktionsverlagerung der Verwaltung von der vorsorgenden zur vollziehenden Gewalt, wodurch das „Verwaltungsrecht die gültige und äußerliche Formulierung der Verwaltung selbst“ wurde.[21]

8

Die Schwächen der zunächst vorherrschenden staatswissenschaftlichen Darstellung der verwaltungsrechtlichen Materien lagen auf der Hand. Noch einer Stoffordnung nach Verwaltungszweigen und einer entsprechend additiven wie narrativen Darstellungsweise verpflichtet, vermochte sie kaum, Gemeinsamkeiten und Querverbindungen zwischen den einzelnen Materien des Verwaltungsrechts herauszuarbeiten. Aufgrund dieser Systematisierungsdefizite war die Entwicklung eines veritablen Allgemeinen Teils des Verwaltungsrechts nicht zu erreichen, obwohl entsprechende Versuche einzelner Vertreter dieses Ansatzes zu verbuchen sind. Dem Durchbruch zum Allgemeinen Teil im Wege stand auch ein Ballast an heute mitunter abstrus anmutenden volkswirtschaftlichen, technischen, historischen und politischen Argumentationsführungen und Erwägungen.

9

Letzteres durchaus auch als Stärke der staatswissenschaftlichen Herangehensweise anerkennend, die durch den „Anschluß an das System der Verwaltungslehre“ ein „umfassendes Kulturbild der Gegenwart“ liefere und „künftigen Geschlechtern vielleicht noch interessanter sein“ werde als die Sicht der „rein juristischen Seite“[22], hat Otto Mayer die juristische Methode in der Verwaltungsrechtswissenschaft auf ihren „unübertroffenen Höhepunkt geführt“[23]. Er gilt als der „eigentliche Schöpfer und Klassiker der modernen deutschen verwaltungsrechtlichen Methode“[24], in der politische und historische Erwägungen weitgehend eliminiert waren. Ihm gelang die Herausarbeitung verwaltungsrechtlicher Institute und eines Allgemeinen Teils des Verwaltungsrechts, dem auf Grund des erreichten Abstraktionsgrades eine starke Folgewirkung vergönnt war. Unter Konzentration auf die Rechtsform prägte er bis heute relevante Grundbegriffe des „wohlgeordneten Verwaltungsrechts“ des bürgerlichen Rechtsstaates, unter anderem den „Verwaltungsakt“, den „Vorrang“ und den „Vorbehalt des Gesetzes“, um so der Herrschaft des Gesetzes auch im Einzelfall die Bahn zu ebnen.[25] War namentlich der Verwaltungsakt der zeitgenössischen Wissenschaft durchaus geläufig, Mayer gestaltete ihn, orientiert an der Urteilsähnlichkeit des französischen acte administratif, zu einem der Verwaltung zugehörigen obrigkeitlichen Ausspruch, „der dem Untertanen im Einzelfall bestimmt, was für ihn Rechtens sein soll“.[26] Mayer hatte neun Jahre vor Erscheinen des ersten Bandes seines Hauptwerkes „Deutsches Verwaltungsrecht“ (2 Bde., 1895/1896) in einer richtungsweisenden Monographie die französische Verwaltungsrechtswissenschaft dargestellt,[27] die anders als das anglo-amerikanische Verwaltungsrecht in den europäischen Staaten des ausgehenden 19. Jahrhunderts vielfältig rezipiert wurde und als die international elaborierteste galt. Sein rechtsvergleichendes Projekt verfolgte er dabei zunächst im Wege einer systematischen Durchbildung des ihm keineswegs hinreichend geordnet und allgemeingültig erscheinenden französischen Verwaltungsrechts. Mayer entwickelte hierzu Ordnungsbegriffe und begründete ein neues Darstellungssystem, nicht mehr ausgerichtet an den Zuständigkeiten, wie bei den französischen Juristen, sondern am Modus, am „Wie“ des Verwaltungshandelns, d.h. an den Einwirkungsformen der Exekutivgewalt. So verlieh er anknüpfend an seine am französischen Recht entwickelte Systematisierung auch der deutschen Wissenschaft vom Verwaltungsrecht eine neue Gestalt mit sehr eigenständiger Ausrichtung, nicht zuletzt einseitig auf die obrigkeitlich auftretende, befehlende und eingreifende Verwaltung.

 

10

Der programmatische Verzicht auf die Berücksichtigung administrativer Zweckkategorien und die Reduktion des Verwaltungsrechts auf eine Rechtsformenlehre barg das Risiko, die Rückbindung an die Verwaltungswirklichkeit einzubüßen. Bereits Loening hat die Ausblendung der Verwaltungszwecke moniert und Mayer „Begriffsphantasien“ vorgeworfen, „die mit den realen Rechtsinstituten nichts gemein haben“.[28] In Deutschland wie in Frankreich stieß die juristische Methode denn auch auf Widerstand vornehmlich in den Reihen der Verwaltungspraktiker, in geringerem Maße aber auch in der Richter- und Professorenschaft, sollten sich die verwaltungspolitischen Argumentationsmuster doch als überaus stabil erweisen. Gänzlich überholt erscheint heute Mayers doktrinäre Ablehnung des öffentlich-rechtlichen Vertrages, die aus einer überscharfen Trennung von subordinationsrechtlich geprägtem öffentlichen Recht und auf Gleichordnung angelegtem Zivilrecht resultierte.[29] Die auf dem Gebiet der Daseinsvorsorge tätige und leistende Verwaltung hat Mayer auch bei seinen grundlegenden Ausführungen zur öffentlichen Anstalt nicht ausreichend in den Blick genommen. Die Fundamente der modernen Verwaltungsrechtswissenschaft beruhen so auf einem Akt absichtsvoller Selbstbeschränkung und der Ausklammerung gerade der modernen Seite der zeitgenössischen Verwaltung und ihres Rechts.[30] Mayer ging es um die Entwicklung eines veritablen allgemeinen Teils des Verwaltungsrechts, der mit den Ordnungsfiguren und Instrumenten der staatswissenschaftlichen Methode nicht einzulösen war und dessen Ausarbeitung unter der Berücksichtigung noch unausgegorener, sich im Fluss befindlicher Rechtsentwicklungen möglicherweise gelitten hätte.

11

In einer bis zum Ersten Weltkrieg währenden Phase der Konsolidierung dominierte Mayers formalistischer Ansatz, der wirkmächtig in Fritz Fleiners „Institutionen des Deutschen Verwaltungsrechts“ (11911) fortgeschrieben, im Fortgang der insgesamt acht Auflagen (81928) jedoch zunehmend modifiziert und aktualisiert wurde.[31] In diese Zeit bürgerlicher Sekurität fallen zentrale rechtsdogmatische Monographien unter anderem zum fehlerhaften Staatsakt und zur Ermessenslehre aus der Feder des jungen Walter Jellinek,[32] Karl Kormanns Versuch zu einem „System der rechtsgeschäftlichen Staatsakte“ (1910) sowie Ottmar Bühlers Studie über „Die subjektiven öffentlichen Rechte und ihr Schutz in der deutschen Verwaltungsrechtsprechung“ (1914). Der spätestens mit der Kriegswirtschaft und Kriegsfolgenbewältigung unübersehbar gewordene Ausbau des Interventionsstaates mit seinem ungeheuren Aufgabenzuwachs[33] ließ Bühler 1919 eine gewaltige Umstellung von Verwaltung und Verwaltungsrechtslehre diagnostizieren, nicht zuletzt auch eine Schwerpunktverlagerung vom Landes- auf das Reichsrecht.[34] Mayers vielzitiertem Diktum aus dem Vorwort zur dritten Auflage seines Verwaltungsrechtslehrbuches vom August 1923 „Verfassungsrecht vergeht, Verwaltungsrecht besteht“ widersprach Fleiner, demzufolge die Neugestaltung des Verfassungsrechts einen „starken Einfluß auch auf das Verwaltungsrecht ausgeübt“ hat,[35] aber auch Albert Hensel, der nicht zuletzt auf die „Neugestaltung der wirtschaftlichen Betätigung des Staates in halböffentlichrechtlichen Formen“ und den „Zusammenschluß der den Staat und stärker noch die Verwaltung beeinflussenden Kräfte in Organisationen“ mit einer „scheinbar rein privatrechtlichen Struktur“ hinwies.[36]

12

Fleiner nahm in seine Darstellung einen Abschnitt „Neue Organisationsformen“ (§ 8) auf, insbesondere zu den „öffentlichen Betrieben“ und der „Verwaltung mit den Mitteln des Privatrechts“ in Form der „gemischt-wirtschaftlichen Unternehmung“. Im Besonderen Teil von Walter Jellineks stärker gesetzespositivistisch ausgerichteten enzyklopädischen Darstellung zum „Verwaltungsrecht“ (1928) fehlten weder die „Verwaltung durch beliehene öffentliche Unternehmer“ noch die „Öffentliche Fürsorge“ oder Fragen der Sozialversicherung; im Allgemeinen Teil fand sich die Anerkennung des „öffentlichrechtlichen Vertrages“ ebenso wie die der „schlichten Hoheitsverwaltung“.[37] Zweckerwägungen spielten namentlich beim sog. freien Ermessen eine Rolle, anders als in Adolf Merkls österreichischem Entwurf, der die „Phantasmagorie einer rechtsfreien Verwaltung wie Rauhreif in der Bestrahlung der Sonne“ zerstieben sehen wollte.[38] Die mit der steten Zunahme des Stoffes unvermeidliche Ausdifferenzierung der Fächer führte zur Verselbständigung von Sozial- und Steuerrecht. Das öffentliche Wirtschaftsrecht systematisierte Ernst Rudolf Huber nach Grundformen und Rechtsschutzgesichtspunkten in seinem wegweisenden „Wirtschaftsverwaltungsrecht“ (1932).[39] Das Kommunalrecht wie die Kommunalwissenschaften überhaupt erlebten einen Bedeutungsgewinn, der noch vor dem Ende der Weimarer Republik auch die Verwaltungswissenschaft erfasste.[40]