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Capitän Richard

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IV.
1815

Sonnabends den 23. September passirte ein großes Kriegsschiff unter englischer Flagge die Linie. Oben am Hauptmast flatterte die Admiralsflagge. Die schwimmende Festung kam von Europa und schien nach Südamerika oder Indien zu segeln.

Am Bord ging’s sehr lustig her. Die Mannschaft feierte ein Fest, das bei dieser Gelegenheit auf den Schiffen aller civilisirten Nationen begangen wird. Die Ceremonie der »Linientaufe« ist im Wesentlichen immer gleich, nur die äußeren Formen sind verschieden.

Am Bord des englischen Kriegsschiffes schien das Commando eingestellt und der Mannschaft übertragen zu seyn. Diese hatte zu ihrem Oberhaupt einstimmig den ältesten Matrosen gewählt und am Fuße des Hauptmastes einen Thron erbaut, aus welchem der Senior der Theerjacken, mit einem Dreizack bewaffnet, mit langem Bart und goldpapierner Krone geschmückt, bereits Platz genommen hatte.

Hier mußte Jeder, der zum ersten Male die Linie passirte, erscheinen und sich vor den Meeresgott hinstellen. Dann wurde ihm das Gesicht mit Theer bestrichen, und nachdem er von den alten Theerjacken weidlich ausgelacht worden, trat einer der Letztern mit einem riesenhaften blechernen Rasiermesser auf ihn zu, und sobald er ihn rasirt hatte, gab er ein Zeichen, und aus einem ungeheuren Bierfaß, das dem berühmten Heidelberger Faß nicht viel nachgab, strömte ein armdicker Strahl von Meerwasser auf das Haupt des Dulders.

Wenn der Passagier, Offizier oder Matrose, in dieser Weise rasirt und »getauft« war, konnte er sich in der Sonne des Erdgleichers trocknen, und der Geheimschreiber des Neptun gab ihm ein Zeugniß, worin die vollzogene Linientaufe bescheinigt wurde. – So kam Einer nach dem Andern an die Reihe.

Mitten in der Ceremonie erschien plötzlich ein französischer Offizier auf dem Verdeck und trat auf den Gott Neptun zu.

»Majestät,« sagte er zu ihm in ziemlich gutem Englisch,»hier sind hundert Goldstücke, die Ihnen der Kaiser Napoleon schickt.«

»Der Kaiser Napoleon?« erwiederte Neptun; »den kenne ich nicht, ich kenne nur den General Bonaparte.«

»Es ist wahr,« versetzte der Offizier lächelnd, »ich kann gar nicht vergessen, daß der General Bonaparte zehn Jahre Kaiser gewesen ist; ich mache nun meinen Fehler wieder gut und sage: Hier sind hundert Napoleons, die der General Bonaparte schickt.«

»Das ist etwas Anderes,« sagte der Meergott, indem er seine breite Hand hinhielt.

Aber eine weiße, feine, aristokrarische Hand fuhr plötzlich zwischen die Hand des französischen Offiziers und die des englischen Matrosen und nahm die hundert Napoleons in Empfang.

»Gehst Sie mir die Börse, Herr General,« sagte der Inhaber dieser aristokratischen Hand; »ich halte es für angemessener, das Geld erst diesen Abend zu vertheilen.«

Der Gott Neptun brummte in den Bart, aber er fügte sich, und die Linientaufe sollte eben fortgesetzt werden, als ein Matrose rief:

»Oh! ein Haifisch unter dem Hinterdeck!«

»Auf den Haifisch!« rufen alle Stimmen.

Der Gott Neptun, der sich aus einmal ganz allein sah, erhob sich von seinem Throne und ging zu den Uebrigen aus das Hinterdeck.

Mit Erlaubniß des Admirals – dessen Anwesenheit durch die am Hauptmast flatternde Flagge angezeigt wurde – bemächtigten sich die Matrosen des Hinterwerks, welches in der Regel bekanntlich nur den Oberoffizieren zugänglich ist.«

Einer von ihnen befestigte ein Stück Speck an einem großen Angelhaken, der an einer eisernen Kette hing, und warf diese ins Wasser.

Der gewaltige Hai, dessen Flossen auf der Oberfläche des Wassers zu sehen waren, tauchte rasch unter. Gleich darauf fühlten die Matrosen, welche die Kette am Steuer befestigt hatten, einen furchtbaren Ruck, und die Kette spannte sich rasch nach einander in drei bis vier verschiedenen Richtungen.

Die Heftigkeit der Bewegungen ließ indeß allmälig nach; man bemerkte etwas Weißes am Ende der noch immer stark gespannten Kette: es war der Bauch des verendenden Haifisches.

Die ganze Schiffsmannschaft brach nun in lauten Jubel aus – noch lauter als in den fröhlichsten Momenten der Linientaufe. Der Lärm lockte einen Mann, der noch nicht erschienen war, auf das Verdeck.

Dieser Mann trug den historisch gewordenen kleinen Hut und die grüne Gardejägeruniform, an welcher der große Stern der Ehrenlegion neben dem Orden der eisernen Krone glänzte. An letzterem war das einfache Ritterkreuz befestigt. Sein Gefolge bestand aus dem General, der die hundert Goldstücke gebracht hatte, und aus einem französischen Seeoffizier.

Der Mann in der grünen Uniform war Napoleon; der General, der ihm folgte, war Montholon, der französische Seeoffizier Las Cases.

Man befand sich am Bord des »Northumberland,« auf welchem der Admiral Cockburn persönlich den Befehl führte. St. Helena war das Ziel der Seereise. Die Matrosen und Offiziere hatten vor der Abfahrt die Weisung erhalten, Napoleon nie anders als »General Bonaparte« zu nennen.

Das Schiss war am 7. August unter Segel gegangen, die Fahrt hatte daher schon 47 Tage gedauert.

Man hatte eben die Linie passirt, aber auf Befehl des Admirals war der »General Bonaparte nebst seinen Begleitern mit der lächerlichen und lästigen Ceremonie der Linientaufe verschont geblieben.

Als indeß der Lärm größer wurde, kam Napoleon auf das Verdeck, um zu sehen was es gab.

Aus einer langen Seereise ist jede Zerstreuung willkommen. Als Napoleon erfuhr, daß man einen Hai gefangen, setzte er sich auf die Kanone, die sein gewöhnlicher Sitz war, und wartete.

Bald darauf verkündete das wiederholte Schreien der Matrosen, daß man den Hai auszog. Dann erschien oberhalb der Schiffswand der mit drei Reihen scharfer Zähne bewaffnete Rachen des Ungethüms, welches endlich vollends auf das Verdeck gezogen wurde. Aber als der Hai niederfiel, wichen die Matrosen schnell zurück, denn keiner wollte dem noch mit dem Tode ringenden Raubfisch zu nahe kommen.

Diese Vorsicht war keineswegs überflüssig. Kaum fand der Hai auf dem Verdeck einen Stützpunkt, so machte er einen Sprung bis zum Fockmast hinaus und biß mit solcher Gewalt in die Laffete einer Kanone, daß seine Zähne in dem Holz stecken blieben. Der Schiffszimmermann benutzte diesen Augenblick, eilte auf ihn zu und gab ihm mit der Art einen furchtbaren Hieb auf den Kopf.

Der Hai riß seine Zähne gewaltsam aus der Laffete los und schwang sich mit einem Sprunge vom Backbord zum Steuerbord. Drei bis vier Matrosen wurden zu Boden geworfen, und einer von ihnen blieb besinnungslos liegen. Die Anderen sprangen auf die Schanzverkleidung oder kletterten wie eine Schaar Affen auf die Wandtaue.

Ein schallendes Gelächter begleitete diese Evolutionen, denen der Mummenschanz der Matrosen ein überaus malerisches Aussehen gab.

Napoleon fand dieses Schauspiel, das mit einem Kampfe Aehnlichkeit hatte, anfangs ganz unterhaltend, aber bald versank er mitten unter dem Lärm und Gelächter in tiefes Nachdenken.

Als er wieder bemerkte, was um ihn vorging, hatte man dem Hai den Kopf abgehauen und den Leib aufgeschnitten. Ein Matrose hielt das Herz des Ungethüms in der Hand, und der Schiffsarzt machte die Umstehenden auf das zähe Leben des Raubfisches aufmerksam, denn das Herz zog sich noch zusammen und der kopflose, aufgeschlitzte Rumpf wand und krümmte sich immerfort.

Napoleon fühlte Mitleid mit diesen gewaltigen Todesqualen, er wandte sich ab und seine Augen begegneten dem Blicke des Grafen Las Cases.

»Kommen Sie,« sagte er, »ich will Ihnen ein Capitel meines italienischen Feldzuges dictieren.«

Las Cases folgte dem Kaiser. Als er eben die Treppe betrat, näherte sich ihm der Capitän Roß und fragte ihn:

»Warum geht denn der General Bonaparte fort?«

»Der Kaiser geht fort,« antwortete Las Cases, »weil er die Todesqualen des Haifisches nicht sehen mag.«

Die Engländer sahen einander erstaunt an. Man hatte ihnen erzählt, Napoleon sey nach jeder Schlacht auf der Wahlstatt umhergegangen, um seine Augen an dem Anblick der Todten und seine Ohren an dem Jammern der Verwundeten zu weiden.

Als das Erstaunen vorüber war, wurde das mit Blutbeschmutzte Verdeck gewaschen und die durch das Erscheinen des Haifisches unterbrochene Linientaufe nahm ihren Fortgang.

Unterdessen dictirte Napoleon das Capitel, wo er die Beschuldigung, er habe die Pestkranken in Jaffa vergiften lassen, ausführlich widerlegt. Dies that Napoleon aus Langweile. Die Hitze war groß, die Seefahrt ohne alle Abwechslung, und im Anfange der Reise kam er selten aufs Verdeck, nie vor dem Frühstück, und wie im Felde. frühstückte er zu unregelmäßigen Stunden. Die Engländer frühstückten immer um acht Uhr, die Franzosen um zehn.

Nach dem Frühstück pflegte Napoleon zu lesen oder sich mit Montholon, Bertrand und Las Cases zu unterhalten. Um vier Uhr kleidete er sich an, ging in den gemeinschaftlichen Salon und spielte eine Partie Schach.

Um fünf Uhr pflegte ihm der Admiral persönlich anzuzeigen, daß das Diner bereit sey. Dann setzte man sich zu Tische. Das Diner des Admirals dauerte gemeiniglich zwei Stunden, also eine Stunde und fünfzig Minuten länger, als Napoleons Diner zu dauern pflegte.

Napoleon stand schon am ersten Tage auf, sobald der Kaffee servirt war; der Großmarschall und Las Cases, die ebenfalls vom Admiral zur Tafel gezogen wurden, standen sogleich auf und folgten dem Kaiser.

Die Verwunderung war groß; der Admiral schien es übel zu nehmen und beklagte sich in englischer Sprache über unartiges Benehmen. Aber Madame Bertrand, die noch in der Thür war, kehrte um und erwiederte ebenfalls in englischer Sprache:

»Herr Admiral, Sie scheinen zu vergessen, daß Ihr Tischgast einst halb Europa beherrscht hat. Wenn er in Paris, Berlin oder Wien vom Tische aufstand, so standest die Könige die bei ihm zu Gaste waren, ebenfalls auf und folgten ihm.«

 

»Das ist wahr, Madame,« antwortete der Admiral; »aber da wir keine Könige sind und nicht in Paris, Wien oder Berlin speisen, so werden wir’s nicht übel nehmen, wenn der General Bonaparte vom Tische aufsteht; er wird es indeß auch nicht übel nehmen, wenn wir sitzen bleiben«

Seit jenem Tage wurde unbeschränkte Freiheit genommen und gewährt.

Während dieser langen Unterredungen am Bord des »Northumberland« hörte Las Cases aus dem Munde des Kaisers alle in seinen Memoiren erzählten Anekdoten über die Kindheit und Jugend des großen Mannes. Endlich wurde Napoleon des Erzählens überdrüssig, obschon ihm seine Begleiter noch gern zugehört hätten.

Sonnabends den 9. September hatte demnach Napoleon angefangen, die Geschichte seiner italienischen Feldzüge zu dictiren.

Bis auf diese Zerstreuung, die anfangs eine Stande, später zwei bis drei Stunden dauerte, verstrichen die Tage sehr einförmig vom 7. August bis zum 13. October. An diesem Tage sagte der Admiral bei Tische, er hoffe am folgenden Abende um sechs oder sieben Uhr die Insel St. Helena zu sehen.

Diese Nachricht war begreiflich für alle am Bord befindlichen Personen höchst interessant, denn die Seereise hatte bereits siebenundsechzig Tage gedauert.

Am folgenden Tage, als die Gesellschaft bei Tische saß, rief der Matrose im Mastkorbe: »Land!«

Man war schon beim Dessert, man stand auf und ging auf’s Verdeck.

Napoleon trat auf das Vorderdeck und suchte das Land. Ein am Horizont schwebender Nebel war Alles was er bemerken konnte; nur das Auge eines Seemannes konnte in diesem Nebel einen festen Körper erkennen.

Am andern Morgen, als der Tag anbrach, war Jedermann auf dem Verdeck. Das Wetter war heiter, die Insel sehr deutlich sichtbar, denn obgleich man in der Nacht einige Stunden »beigelegt« hatte, war eine bedeutende Strecke zurückgelegt worden.

Gegen Mittag wurden die Anker ausgeworfen; das Schiff war etwa noch eine halbe Seemeile von der Insel entfernt. Es waren hundert und zehn Tage, daß Napoleon Paris verlassen hatte. Die Reise ins Exil hatte also länger als die zwischen Elba und St. Helena liegende zweite Regierung gedauert.

Napoleon, der früher als gewöhnlich aus seiner Cajüte gekommen war, trat auf das Verdeck und nahm die Insel in Augenschein. Keine Ueberraschung, kein Schmerz war in seinem Auge zu lesen, keine Muskel seines Gesichts zuckte: seine Züge schienen aus Erz gegossen, nur in den Mundwinkeln war einige Bewegung wahrzunehmen.

Das Auge wurde indeß keineswegs befriedigt. Man bemerkte eine lange schmale Häuserreihe zwischen hohen, kahlen Felsen. Wie in Gibraltar, war jeder einigermaßen geeignete Platz mit Kanonen besetzt.

Als Napoleon etwa zehn Minuten geschaut hatte, sagte er zu Las Cases:

»Kommen Sie, wir wollen arbeiten.«

Er ging wieder hinunter und begann zu dictiren, ohne daß seine Stimme die mindeste Unsicherheit verrieth.

Als die Anker ausgeworfen waren, fuhr der Admiral sogleich in einer Schaluppe zu der Insel hinüber. Um sechs Uhr kam er sehr ermüdet zurück.

Er hatte die ganze Insel durchwandert, bis er einen passenden Ort gefunden. Unglücklicher Weise mußten Reparaturen, die wohl zwei Monate dauern konnten, vorgenommen werden. Die englischen Minister hatten gemessenen Befehl gegeben, Napoleon erst landen zu lassen, wenn seine, Wohnung bereit seyn würde; allein der Admiral erklärte, er wolle ihn auf seine Verantwortung ausschiffen, da der General Bonaparte durch die lange Seereise wohl ermüdet seyn werde. Abends konnte die Ausschiffung freilich nicht mehr: stattfinden. Der Admiral kündigte daher an, daß am folgenden Tage eine Stunde früher als gewöhnlich gespeist werden solle, um nach dem Diner ans Land gehen zu können.

Als Napoleon am folgenden Tage aus dem Speisesaale kam, fand er alle Offiziere auf dem Verdeck versammelt; auch der größte Theil der Schiffsmannschaft war in Reih und Glied aufgestellt.

Eine Schaluppe war bereit. Napoleon stieg mit dem Admiral und dem Großmarschall ein. Eine Viertelstunde nachher – Montags den 16. October 1815 – betrat erden Boden von St. Helena.

Das Uebrige ist in dem »gefesselten Prometheus« von Aeschylus zu lesen.

V.
Lieschen Waldeck

Zu derselben Stunde, wo Napoleon den Boden des fernen Eilandes betrat, saß in einem Hause unweit des so stark besuchten Städtchens Baden, dessen Heilquellen schon unter Alexander Severus bekannt waren, ein sechzehnjähriges Mädchen, ein Ebenbild von Göthe’s Margarethe, vor ihrem stillstehenden Spinnrade. Das holde Kind lehnte das Köpfchen an die Wand, die Hände ruhten im Schooß, die blauen Augen blickten zum Himmel aus, und der kleine rosige Mund sang leise und mit Wehmuth das in Deutschland so bekannte Lied:

 
Meine Ruh ist hin,
Mein Herz ist schwer;
Ich finde sie nimmer
Und nimmermehr.
 
 
Wo ich ihn nicht hab,
Ist mir das Grab,
Die ganze Welt
Ist mir vergällt.
 
 
Mein armer Kopf
Ist mir verrückt,
Mein armer Sinn
Ist mir zerstückt.
 
 
Nach ihm nur schau ich
Zum Fenster hinaus.
Nach ihm nur geh’ ich
Aus dem Haus.
 
 
Sein hoher Gang,
Sein’ edle Gestalt,
Seines Mundes Lächeln
Seiner Augen Gewalt,
 
 
Und seiner Rede
Zauberfluß,
Sein Händedruck,
Und ach sein Kuß!
 

Sie war so in Gedanken vertieft, daß sie nicht merkte wie die Thür ausging und ein junger Mann von etwa neunundzwanzig Jahren ins Zimmer schaute.

Der Besucher war in der Tracht eines westphälischen Landmanns, aber wer ihn näher beobachtete, bemerkte eine militärische Haltung, die er ungeachtet aller Mühe nicht zu verbergen vermochte: für diesen zugleich schlanken und kräftigen Wuchs paßte nur die Offiziersuniform, und aus den dunkelblauen feurigen Augen sprach kriegerischer Muth.

Das holde Kind sang weiter:

 
Meine Ruh’ ist hin,
Mein Herz ist schwer;
Ich finde sie nimmer
Und nimmermehr.
 

Bei dieser Stelle des Liedes war ihre Stimme so wehmüthig, so traurig geworden, daß der Lauscher nicht den Muth hatte, die noch übrigen zwei oder drei Strophen anzuhören. Er trat näher und sagte: »Lieschen!«

Die Sängerin sah sich erschrocken um und erkannte den jungen Mann trotz der Dunkelheit, die sie hatte kommen lassen, ohne die auf der eichenen Truhe bereit stehende Lampe anzuzünden.

»Sie sind’s?« sagte sie mit etwas zitternder Stimme.

»Ja wohl, Lieschen . . . aber was für ein trübseliges Lied singen Sie da?«

»Kennen Sie es denn nicht?«

»Nein,« antwortete er.

»Man sieht wohl, daß Sie ein Franzose sind.«

»Woran denn? etwa an meiner deutschen Aussprache? Sie erschrecken mich fast, Lieschen!«

»O nein, Sie sprechen so gut deutsch wie ein Sachse. Ich meine, man sieht, daß Sie ein Franzose sind, weil dieses Lied in ganz Deutschland bekannt ist; vom Rhein bis zur Oder gibt’s wohl wenige Mädchen, die es nicht singen. Es ist Margarethens Lied von unserm großen Dichter Göthe.«

»Ja, ich weiß es wohl,« erwiederte er lächelnd, und zum Beweise, daß er die Wahrheit sagte, wiederholte er die ersten vier Verse des Liedes. – Dann trat er auf sie zu, reichte ihr die Hand und sagte: »Adieu, Lieschen«

»Wie, adieu?« sagte sie erschrocken.

»Ja, ich muß fort, ich kann nicht länger in Baden bleiben . . . ich muß weiter in das Innere von Deutschland . . .«

»Sind Sie wieder in einer neuen Gefahr?«

»Ich bin, wie jeder Geächtete, in Gefahr, verhaftet, zum Tode verurtheilt, erschossen zu werden . . . sonst habe ich nichts zu fürchten,« setzte er lächelnd hinzu.

»O, mein Gott,« sagte das junge Mädchen, die Hände faltend, »das kann ich mir gar nicht denken.«

»Haben Sie denn vergessen, was ich vor drei Tagen sagte, als ich in diese Thür trat, die mir der Zufall . . . oder vielmehr die Vorsehung aufthat? meine ersten Worte waren: »Mich hungert und dürstet . . . ich bin ein Geächteter!«

»Aber vorgestern sagten Sie mir doch, Sie hätten einen sichern Zufluchtsort gefunden . . .«

»Lieschen, jetzt muß ich’s Ihnen gestehen: mit dem Zufluchtsorte meinte ich dieses Haus.«

Lieschen sah den Geächteten erschrocken an.

»Dieses Haus?« erwiederte sie. »Sie haben sich ohne Erlaubniß meines Vaters hier im Hause versteckt?«

»Beruhigen Sie sich, Lieschen; ich will dieses Haus jetzt verlassen . . . aber zuvor will ich Ihnen sagen, wie ich hereingekommen bin und wen Sie aufgenommen haben.«

Lieschen schob ihr Spinnrad mit dem Fuße zurück, legte die Hände in den Schooß und sah den Gast zugleich freundlich und unruhig an.

»Ich war mit Napoleon auf der Insel Elba. Er schickte mich nach Frankreich, um Vorbereitungen für seine Rückkehr zu treffen. Ich setzte mich mit dem Obersten Labedoyère und mit dem Marschall Ney in Verbindung. Beide sind erschossen worden; ich bin ebenfalls verurtheilt, aber ich ward bei Zeiten gewarnt, und um der Verhaftung zu entgehen, entfloh ich nach meiner Vaterstadt Straßburg, wo ich beinahe einen Monat bei einem Freunde verborgen blieb. Vor vier Tagen indeß erfuhr ich, daß mein Aufenthalt entdeckt sey; ich flüchtete mich in dieser Verkleidung aus der Stadt und über den Rhein.

So kam ich auf Umwegen nach Baden. Meine Absicht war, weiter zu gehen, denn ich habe in Deutschland eine sehr wichtige Angelegenheit; aber ich sah Sie, Lieschen . . . und blieb hier, ohne an die möglichen Folgen meines Verweilens zu denken . . .«

»Ich glaubte, Sie wären fort; aber ich freute mich Sie am andern Tage wieder zu sehen . . . ich fragte Sie nicht, warum Sie geblieben waren . . .«

»Warum ich geblieben war?« erwiederte der Flüchtling und sah das holde Kind, das ihm so aufrichtig gestand, wie sie sich gefreut ihn wieder zu sehen, mit feurigen Blicken an. »Ich will’s Ihnen sagen. Ich hatte mich auf den Boden des Stallgebäudes geflüchtet, Niemand hatte mich gesehen. Inder Nacht wollte ich fort; aber während ich hinausschaute und in Gedanken von Ihnen Abschied nahm, erschienen Sie am Fenster, Lieschen . . Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, daß Sie schön sind; aber als Sie am offenen Fenster im Mondschein standen, bezauberten Sie mich.«

Lieschen erröthete, trotz der Dunkelheit, und schlug die Augen nieder.

Der Flüchtling fuhr fort: »Sie hielten einen Rosenstrauß in der Hand; ich weiß nicht was Sie dachten, aber Sie glaubten, ich sey längst fort; Sie schauten nach dem Wege hin, den ich hätte gehen müssen, wenn ich nicht geblieben wäre; Sie pflückten die Rosenblätter ab und warfen sie weg . . . nach dem Schwarzwalde hin, wo ich nach Ihrer Meinung schon seyn mußte.«

»Da haben Sie sich geirrt,« erwiederte Lieschen; »ich pflückte die Rosenblätter ab, und der Wind trieb sie fort.«

»Nun, dann hat der Wind die Rosenblätter dem Schwarzwalde zugetrieben, denn es war Westwind . . . Sie blieben lange am Fenster, und ich sah Sie an. Als sich endlich Ihr Fenster schloß, fühlte ich meine Füße gefesselt, ich hatte nicht mehr den Muth fortzugehen.«

»Aber heute wollen Sie doch fort . . .« sagte Lieschen mit einem Seufzer.

»Hören Sie,« erwiederte der Flüchtling »Heute sah ich französische Gendarmen in der Nähe der Stadt und zweifle nicht, daß sie mir auf der Spur sind.«

»Mein Gott! was ist zu thun?« sagte Lieschen.

»An mir liegt wenig,« versetzte der Flüchtling; »aber die Entdeckung eines vermeinten Verschwörers in Ihrem Hause würde Ihren Vater und zumal Sie in Gefahr bringen, denn Sie haben meine Anwesenheit geheim gehalten.«

»Ich war um so lieber bereit dazu, da mein Vater, der sonst so gut, so mitleidig ist, aus einem mir unbekannten Grunde einen unversöhnlichen Haß gegen die Franzosen hegt; ich habe oft gesehen, daß ihn der Anblick Ihrer Landsleute in den größten Zorn versetzte. Wenn Sie indeß hier sicherer zu seyn glauben als anderswo, so bleiben Sie.«

»Lieschen, Sie sind ein Engel! . . .«

»Ein Menschenleben ist in den Augen Gottes so kostbar, daß er mir gewiß verzeihen wird.«

»Gutes Mädchens . . . Aber es ist nicht nur die Gefahr, die mich von Ihnen entfernt, sondern auch die erwähnte wichtige Angelegenheit Ich gehe nach Baiern.«

»Nach Baiern?« wiederholte Lieschen, die aufmerksamer wurde.

»Ja . . . ich suche ein junges Mädchen, schön wie Sie, aber minder glücklich. Sobald ich diesen Auftrag erfüllt habe, bin ich frei. . . und wie sehr ich auch an der französischen Grenze in Gefahr bin, so werde ich doch wieder kommen, das schwöre ich Ihnen.«

»Wann?« fragte Lieschen.

»Wann? das weiß ich noch nicht; aber ich hoffe, in drei Monaten . . .«

»Ja drei Monaten?« erwiederte Lieschen erfreut.

»Ja, Lieschen, versprechen Sie mir, daß Sie mich dann wieder erkennen wollen?«

 

»Sie stellen mein Gedächtniß auf keine schwere Probe; ich pflegt mich meiner Freunde länger als drei Monate zu erinnern.«

Es schlug sieben. Der junge Offizier zählte die Glockenschläge.

»Sieben Uhr!« sagte Lieschen; »mein Vater ist heute nach Carlsruhe gereist, und wird nicht lange mehr ausbleiben.«

»Ja,« erwiederte der Flüchtling; »ich muß ohnehin fort.«

Er trat an das offene Fenster, von welchem man die Aussicht auf die nahe Gebirgskette hatte.

»Sie kennen den Weg, den Sie nehmen müssen?« fragte Lieschen schüchtern.

»Ja,« antwortete der junge Offizier; »aber ich betrachte nicht den Weg, den ich gehen muß, um fortzugehen, sondern den Weg, auf welchem ich gekommen bin.«

»Armer Verbannter! ich weiß wohl, Baden ist beinahe noch Frankreich, Ihr Vaterland, und jeder Schritt, den Sie machen werden . . .«

»Wird mich von Frankreich und von Ihnen entfernen; ja, Sie haben Recht, Lieschen . . . Es ist sonderbar,« setzte er mit tiefer Wehmuth hinzu; »ich habe fast immer außerhalb meines Heimatlandes gelebt, und ich habe es nur von Zeit zu Zeit wieder gesehen, wie der Matrose, dessen Leben zwischen Himmel und Wasser verstreicht, von Zeit zu Zeit eine Insel betritt, vor welcher das Schiff ankert. Vom zwölften bis zum fünfzehnten Jahre war ich in Italien, vom fünfzehnten bis zum zwanzigsten in Tirol und Deutschland,vom zwanzigsten bis zum fünfundzwanzigsten in Illyrien, Oesterreich und Böhmen, vom fünfundzwanzigsten bis zum siebenundzwanzigsten in Polen und Rußland. Ich habe mich noch nie zuvor mit Bedauern von der französischen Grenze entfernt, ich folgte meiner Fahne und meine Augen waren nur auf die Schwingen des Adlers gerichtet; aber heute fühle ich, wie theuer mir Frankreich ist, das ich verlassen muß . . . Es ist eine Thorheit, aber ich würde ein Jahr von meinem Leben mit Ihrer Liebe, ja zehn Jahre ohne Ihre Liebe hingeben, um noch einmal die Spitze des Straßburger Münsters zu sehen!«

»Ja, ich verstehe, es wäre Ihr Vaterland.«

»Sie können sich keinen Begriff machen von dem Bewußtsein: ich stehe allein in der Welt, Vater, Mutter, Bruder, Alle, die mir im Leben theuer waren, sind todt! Alle meine Zuneigung, alle meine Liebe und Verehrung hatte ich einem Manne gewidmet. Dieser Mann ist gestürzt, von solcher Höhe herab gestürzt, daß er mich in seinem Sturz nicht sah. Ich wollte ihm nach St. Helena folgen, wie ich ihm auf die Insel Elba gefolgt war, aber die Engländer wiesen mich ab. Ich kehrte nach Frankreich zurück. . . und wurde als Verschwörer zum Tode verurtheilt. Ich war des Lebens überdrüssig, und würde mich, trotz meiner größeren Vermögensverhältnisse, vielleicht freiwillig ausgeliefert haben, wenn ich den Trost gehabt hätte, von einem befreundeten Herzen bedauert zu werden.«

»Sie hatten gar keinen Freund?«

»Meine Freunde waren meine Waffenbrüder; ich sah sie auf allen Schlachtfeldern Europas fallen, die Ueberlebenden sind geächtet, wie ich, umherirrend in den Ländern, die sie erobert hatten.«

»Keine Geliebte?« fragte Lieschen schüchtern.

»Eine Geliebte? Wie hätten wir bewaffneten Wanderer an Liebe denken können? Wir marschirten im Sturmschritt durch Europa, und eine Stimme, die stets unbedingten Gehorsam fand, wiederholte unablässig: Vorwärts! Marsch!Es ist unglaublich aber wahr; ich bin bald dreißig Jahre alt, und mein in den Schrecknissen des Krieges abgehärtetes – Herz ist noch für sanfte Gefühle empfänglich . . . nachdem ich gelitten wie ein Mann, fühle ich mich noch fähig zu lieben wie ein Kind.«

»Mein Gott!« rief Lieschen, ihn unterbrechend, »hören Sie . . . auf der Landstraße ein Wagen! . . . Es ist, mein Vater, der von Carlsruhe kommt.«

»Das heißt: ich muß fort.«

Sie reichte dem jungen Offizier die Hand.

»Freund,« sagte sie, »wie gern würde ich Ihnen sagen: bleiben Sie!«

Der Flüchtling hielt die dargebotene Hand fest »Lieschen,« sagte er, »ich will fort, ich muß . . . aber bevor ich gehe, habe ich Sie noch um etwas zu bitten: lassen Sie mich nicht fortgehen, ohne ein Andenken an Ihr Mitleid, das mir so wohl thut. Vor drei Tagen würde ich für jedes Rosenblatt, das Sie ausstreuten, ein Jahr meines Lebens gegeben haben. Sie tragen Veilchen bei sich, ihr Duft erfüllt das ganze Zimmer . . . geben Sie mir die Blumen,und ich gehe.«

»Veilchen!« sagte Lieschen traurig.

»Ja, sie sollen ein Talisman seyn, der mich auf der Flucht beschützen wird.«

»Ein trauriger Talisman! Wissen Sie, wo diese Veilchen, wo die Rosen, von denen Sie so eben sprachen, gepflückt sind?«

»Dann liegt mir wenig; genug, daß Sie sie berührt haben.«

»Sie sind auf dem Friedhofe gepflückt,« fuhr Lieschen traurig fort, »auf dem Grabe meiner Schwester, die vor drei Jahren gestorben ist. Ich pflücke dort jeden Morgen, solange der Frost sie verschont, einige Blumen, deren Duft mich den ganzen Tag umgibt, und ich glaube dann von dem Geiste meiner armen Schwester umschwebt zu seyn.«

»Ich nehme meine Bitte zurück.«

»Nein, hier sind die Veilchen . . . Jetzt gehen Sie.«

»Tausend Dank, Lieschen! . . . Ich gehe in eine neue Verbannung: aus Frankreich war ich schon längst verbannt, und nun trennt mich das Schicksal auch von Ihnen . . . aber ich werde wiederkommen; vergessen Sie nicht für mich zu beten!«

»Ach! für wen soll ich beten? . . ich weiß ja Ihren Namen nicht«

»Beten Sie für den Capitän Richard.«

»Gehen Sie . . . gehen Sie! Mein Vater kommt!«

Der junge Offizier faßte Lieschens Hand, drückte einen feurigen Kuß darauf und eilte aus einer Thür, während sich die andere aufthat.

»Auf Wiedersehen!« sagte er, »es würde mir zu weh thun, Ihnen Lebewohl zu sagen.«