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Capitän Richard

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Märgi loetuks
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

VI.
Der Pastor Waldeck

Lieschen blieb allein, und vielleicht zum ersten Male in ihrem Leben eilte sie ihrem Vater nicht entgegen, als sie ihn kommen hörte. In dein Augenblicke, als sich der junge Offizier entfernt hatte, waren ihre Kräfte geschwunden, sie war neben der Thür, aus welcher sich der Flüchtling entfernt hatte, auf einen Sessel gesunken.

Der alte Mann fand es auffallend, daß ihm seine Tochter nicht entgegenkam oder ihn wenigstens erwartete; er ging einige Schritte im Dunkeln vorwärts und stand dann lauschend still.

»Lieschen!« sagte er nach einer Weile, als er nichts hörte, halb rufend halb fragend.

Durch die Stimme ihres Vaters aus ihren Träumen geweckt, sprang sie auf und eilte auf ihn zu.

»Hier bin ich, Vater.«

»Komm hierher,« sagte der Pastor etwas erstaunt, und streckte die Hand aus. »Komm hierher, mein Kind, und küsse mich: erst für Dich und dann für deine Schwester, die nicht mehr da ist.«

Das junge Mädchen schlang die Arme um den Nacken des Greises.

»O ja . . . ja, Vater!« sagte sie unter dem Eindruck des doppelten Gefühls, das ihr Herz erfüllte. »O ja-Vater, ich will Alles thun, um Dir die Verblichene zu ersetzen!«

Sie nahm ihm Mantel und Stock ab, warf den erstern auf einen Sessel und stellte den letzteren in einen Winkel. Der Alte folgte ihr mit den Augen, als hätte er sie sehen können.

»Warum hast Du denn kein Licht, Lieschen?« fragte er.

»Ich hatte vergessen, die Lampe anzuzünden,« antwortete sie mit etwas unsicherer Stimme.

»Und Du bist so allein im Dunkeln geblieben?«

»Ich träumte,« stammelte sie.

Der Pastor seufzte; zum ersten Male glaubte er in der Stimme seiner Tochter eine gewisse Verlegenheit zu bemerken.

Sie machte Licht und zündete die Lampe an. Das schöne,ernste Gesicht des etwa sechzigjährigen Greises ward nun sichtbar. Man sah es ihm auf den ersten Blick an, daß er viel gelitten hatte; aber der Ausdruck des Gesichts war sanft und wohlwollend, die Herzensgüte vereinigte sich in feinen Zügen mit dem Ausdruck der Trauer, den die überstandenen Leiden zurückgelassen hatten.

Seine Tochter machte nicht dieselben Bemerkungen wie wir, sie war an den wehmüthig ernsten Ausdruck seines Gesichts gewöhnt; sie glaubte ihren Vater sogar heiterer als gewöhnlich zu finden. Sie bemerkte, daß er einen kleinen, aber dem Anschein nach schweren Sack in der Hand hielt und fragte mit naiver Neugier:

»Was hast Du da mitgebracht, Vater?«

Der Pastor sah sie noch heiterer an.

»Was ich mitgebracht habe?« fragte er lächelnd.

»Ja.«

Er hob den Sack auf-

»Deine Mitgift. mein Kind.«

»Meine Mitgift?« sagte Lieschen erstaunt.

Der Pastor reichte ihr den Sack.

»Heb ihn auf,« sagte er.

Lieschen hätte den Sack, den ihr Vater losließ, beinahe fallen lassen.

»O, wie schwer!« sagte sie

»Nicht wahr?« sagte der alte Mann frohlockend; »es sind zweitausend Thaler darin.«

»Zweitausend Thaler!« wiederholte das holde Kind traurig. »Darum also legst Du Dir so viele Entbehrungen auf!«

»Was für Entbehrungen?« fragte der Pastor.

»Darum also arbeitest Du über deine Kräfte? . . .«

»Du bist nicht bei Trost! wo siehst Du denn, daß ich so viel arbeite?«

»Du besorgst ja unsern Weingarten ganz allein . . .«

»Mein Kind,« erwiederte der Greis lächelnd, »der Weinberg ist ein Gleichniß aus dem Evangelium, und schon deshalb kann ich in dem meinigen nicht zu viel arbeiten.«

»Aber Du opferst Dich für mich auf, Väterchen, und darüber mache ich Dir einen Vorwurf,« sagte Lieschen beinahe ernst.

»Mir . . .«

»Ja, Du hast mich zu lieb.«

»Sage das nicht, mein Kind,« erwiederte der Greis, indem er sie auf seinen Schooß zog; »ich will Dir das Gegentheil beweisen.«

»O! das möchte ich doch hören.«

»Erinnerst Du Dich denn nicht, daß ich schon vor drei Jahren eine gleiche Summe erspart hatte?«

»O ja, aber . . .«

»Ich hatte damals wie jetzt eine Summe von zweitausend Thalern; aber es kam der furchtbare Winter von 1812 und 1813 Du warst damals erst vierzehn Jahre alt, ich dachte, die Armen sind auch meine Kinder und Du könntest wohl noch warten, denn der liebe Gott gab Dir ja das tägliche Brot, die Armen hingegen darbten in dem kalten Winter . . .«

»Lieber, guter Vater!«

»Erinnerst Du Dich noch?« fuhr der alte Mann fort, indem er sein Kind zärtlicher an sich zog: »es war an einem Novemberabende, der Wind heulte, der Regen schlug an die Fenster, und wir saßen in guten behaglichen Kleidern am warmen Ofen . . . Du saßest dort, ich hier; erinnerst Du Dich noch, Lieschen?«

»O ja, Vater.«

»Ich war in Gedanken versunken,« fuhr der Pastor fort: »Du hieltest dein Spinnrad an und fragtest mich: Woran denkst Du denn, Väterchen? – Ich denke an die Nothleidenden, antwortete ich, an die Armen, die weder Brot noch Feuer haben . . . Da standest Du auf und gingst an den Schrank, nahmst den Sack mit den zweitausend Thalern heraus und brachtest mir ihn. Wir verstanden uns, Du liebes Herzenskind! Ich nahm Dir den Geldsack aus der Hand und ging fort. Am andern Morgen hatte schön Lieschen keine Mitgift mehr, aber sechzig Arme hatten Holz, Brot und Kleider für den ganzen Winter.«

»Ja wohl,« sagte das holde Kind, »Du wurdest mit Segenswünschen überhäuft, an denen der liebe Gott gewiß ein Wohlgefallen fand.«

»Ja, mein Kind, denn nach zwei Jahren war ich wieder im Besitz einer gleichen Summe; aber jetzt bist Du nicht mehr vierzehn, sondern siebzehn Jahre alt, und ich verspreche Dir, daß dieses Geld seiner Bestimmung nicht entzogen werden soll. . Du müßtest denn einen reichen Cavalier oder einen schmücken Junker erobern, wie es in den Märchen und Romanen zuweilen vorkommt.«

»Hältst Du das für möglich?« fragte Lieschen hastig.

»Warum nicht? Du bist ja verständig, sittsam und schön wie Griseldis . . . und Griseldis wurde die Gemalin des Grafen Percival.«

»O, so weit brauchen wir die Freier nicht zu suchen, Väterchen! Meine arme Schwester Margarethe hat ja mehr als Einen abgewiesen: zuerst den Heidelberger Studenten, dann den Sohn des Frankfurter Banquiers . . . und endlich gar einen Baron . . . den Baron von Offenburg . . .«

Der alte Mann seufzte.

»O, ich verspreche Dir, Väterchen,« fuhr das naive Mädchen fort, ohne die Betrübniß ihres Vaters zu bemerken, »ich verspreche Dir, daß ich nicht so große Ansprüche machen werde.«

»Ja, ja,« antwortete der alte Mann mit Wehmuth, »Du wirst mit Gottes Hilfe einen Mann finden, der Deiner würdig . . . Einstweilen nimm den Sack, wie schwer er auch ist, und trage ihn in den Schrank, der neben meinem Bett steht. »Hier ist der Schlüssel.«

»Und dies soll meine Mitgift seyn?« erwiederte Lieschen lachend; »es müßte denn, wie Sie so eben sagten . . .«

»Es müßte sich denn ein Freier mit deinen klaren, freundlichen Augen und deinen rosigen Wangen begnügen. In diesem Falle würdest Du deine Mitgift nicht von mir, sondern von dem lieben Gott erhalten.«

Lieschen zündete einen Wachsstock an der Lampe an und trug den schweren Sack fort.

Der Pastor schaute ihr mit zärtlichen, gerührten Blicken nach.

»Ich habe ihr nicht gesagt,« sprach er zu sich selbst, »daß mir drei Thaler an den zweitausend fehlen . . . einen Thaler habe ich einer armen alten Frau und zwei einem armen Gichtbrüchigen gegeben. Der Heiland wandelt nicht mehr auf Erden, um einem solchen Unglücklichen sagen zu können: Stehe auf, wirf deine Krücke weg und geh . . . Aber ehe die Woche zu Ende ist, hoffe ich die drei Thaler ersetzen zu können; die Mitgift ist dann wieder vollständig, und mein armes Lieschen mag glücklich werden, wenn sich ein Mann findet, der dieses Engels würdig ist . . . Der Himmel ist mir diesen Ersatz wohl schuldig,« setzte er mit wehmüthigem Lächeln hinzu, als ob er noch zweifelte, daß so vielem Kummer, wie er gehabt, noch ein ungetrübtes Glück folgen könne.

Während er gedankenvoll vor sich hinblickte, kam sein Töchterlein wieder.

»Lieber Vater,« sagte Lieschen, »ich habe das Geld in den Schrank gelegt, und hier ist der Schlüssel.«

»Gut, mein Kind . . Jetzt glaube ich, daß es Zeit ist, an das Abendessen zu denken. Was meinst Du?«

»Ja, Vater,« antwortete Lieschen zerstreut.

Sie ging der Thür zu, stand aber still und schien tief in Gedanken. Der alte Mann blickte ihr nach.

»Nun, was fehlt Dir?« fragte er.

»Mir? nichts,« antwortete sie.

Sie begann den Tisch zu decken; aber plötzlich hielt sie inne, stützte beide Hände auf den Tisch und sah ihren Vater an.

»Komm her, Lieschen,« sagte er, mit der Hand winkend.

Lieschen hüpfte sogleich auf ihn zu, als ob dieser Befehl einem Wunsche ihres Herzens entsprochen hätte.

»Hier bin ich, Vater.«

»Bist Du krank?« fragte er.

»Nein,« sagte sie, den Kopf schüttelnd.

»Aber Du bist nachdenkend, zerstreut . . .«

»Ja, Vater, ich habe Dir etwas zu sagen . . . aber zum ersten Male in meinem Leben bin ich verlegen . . . ich getraue mich nicht. . .«

»Sprich, mein Kind,« sagte der Pastor unruhig; »ich bin ja derselbe gütige, nachsichtige Vater, der ich immer war. . . Du hast mir gewiß nichts vorzuwerfen.«

»Wer weiß? Vielleicht eine gute Handlung, die man aber leicht übel deuten kann.«

»Eure gute Handlung? Wie kannst Du Dir denn einen Vorwurf daraus machen?«

»Nicht aus der guten Handlung an sich,« erwiederte Lieschen, »aber aus dem Geheimniß, das ich daraus gemacht habe, und . . . und wegen der Person, der ich gefällig gewesen bin.«

»Laß hören; was ist’s?«

»Du sagtest mir oft, Väterchen, daß unsere Vorfahren lange und grausame Verfolgungen wegen ihres Glaubens erduldet haben . . .«

»Ja wohl zu Luther’s Zeiten und im dreißigjährigen Kriege.«

»Und oft hast Du mir mit Thränen erzählt, wie Manche ihre Freiheit, ihr Vermögen, selbst ihr Leben aufs Spiel gesetzt haben, um Verfolgten eine Zuflucht zu bieten.«

 

»Ja, aber zum Lohn für das was sie auf Erden gewagt hatten, wird Gott sie im Himmel belohnt haben-

»Du würdest mir also nicht zürnen, lieber Vater, wenn ich Mitleid gehabt hätte mit einem Menschen, der in ähnlicher Weise verfolgt, aus seiner Heimat vertrieben worden wäre?«

»Mit einem Geächteten?«

»Ja, Vater.«

»Und wo ist der Geächtete?«

»Vor einer kleinen Weile war er hier. . . jetzt ist er hoffentlich schon weit von hier.«

»Und um von dem Unglücklichen zu sprechen, hast Du gewartet bis er fort ist?««

»Verzeihe mir, Vater,« sagte Lieschen zögernd; »aber der Unglückliche war. . .«

»Ich errathe, erwiederte der Pastor; »er war ein Franzose, nicht wahr?«

»Ja Vater. . . ein Franzose, der unter dem Kaiser Napoleon gedient hat und ihm bei der Rückkehr von der Insel Elba behilflich gewesen ist; er wird nebst vielen Anderen verfolgt, und ist über die Grenze entflohen.«

»Du hast recht gethan, ihm eine Zuflucht zu bieten; aber es war nicht recht von Dir, an meinem Mitleid zu zweifeln.

»Nicht wahr, Vater, Du würdest ihn aufgenommen haben?«

»Allerdings; das Haus eines Dieners der Religion ist ja der natürliche Zufluchtsort der Unglücklichen und Verlassenen . . . Wie alt war der Franzose?«

»Wie alt?«

»Ja.«

»Neunundzwanzig bis dreißig Jahre.«

»Also ein junger Mann.«

»Hätte ich ihn denn fortweisen sollen, weil er jung war?« fragte Lieschen

»O nein,« sagte der Pastor, indem er seine Tochter unruhig ansah.

»Warum siehst Du mich so an, lieber Vater?« fragte Lieschen

»Ich suche etwas,« antwortete er.

»Was denn?«

»Was hast Du mit den Veilchen gemacht, die Du diesen Morgen auf dem Grabe deiner Schwester gepflückt hast?«

»Ich könnte Dir sagen, Vater, ich hätte sie verloren, antwortete das holde Kind, »aber Gott behüte mich, daß ich meinen guten Vater belüge . . . der Fremde bat mich um die Blumen, und ich gab sie ihm.«

»Lieschen! Lieschen!« sagte der Greis kopfschüttelnd, »bis jetzt habe ich meine Tochter ein Muster aller Mädchen der Stadt genannt!«

»Ich errathe was Du meinst, lieber Vater, und ich antworte Dir ohne Erröthen, der Fremde bat mich um die Blumen, und ich gab sie ihm als ein Andenken meiner Freundschaft.«

»Wirst Du ihn nicht wiedersehen?« fragte der Pastor Waldeck.

»Wahrscheinlich nicht. . . er sagte freilich er werde in drei Monaten wieder kommen.«

»Sey auf deiner Hut, mein Kind!« warnte der Vater.

»Vor ihm? O nein, Vater!«

»Seine Landsleute haben uns viel Unglück gebracht!«

»Was meinst Du, lieber Vater?« -

»Ich meine, es ist heute der 16. October, der Todestag unserer armen Margarethe . . . Wir tragen zwar keine Trauerkleider mehr, aber die Hand der Zeit, wie rauh und schonungslos sie auch war, hat die Trauer noch nicht aus unseren Herzen verwischt.«

»Nein, Vater, und Gretchens Zimmer ist noch so, wie es bei ihrem Tode war.«

»Sie ist nun im Himmel, ihrer wahren Heimat,« setzte der Greis hinzu. »Du fragtest mich soeben um die Ursache meines Franzosenhasses; ich will Dir’s an dem heutigen Trauertage sagen; ich will Dir erzählen wie uns Margarethe entrissen wurde und auf welchem Schmerzenswege sie zum Himmel eingegangen ist.«

»Was ist denn meiner Schwester so Schreckliches geschehen, das Dich noch drei Jahre nach ihrem Tode so tief ergreift?«

»Was ihr geschehen ist, liebes Kind? Ich wollte Dir ein ewiges Geheimniß daraus machen; aber was Du mir von dem französischen Flüchtling, von seiner versprochenen und vielleicht erwarteten Rückkehr erzählt hast, macht mir zur Pflicht, Dir nichts zu verschweigen. Du sollst daher Alles wissen, mein Kind. Wenn der Franzose wieder kommt, werde ich Dir sagen: Erinnere Dich! —wenn er nicht wieder kommt,werde ich sagen: Vergiß!«

»O, sprich, Vater! Erzähle mir Alles.«

Der Pastor Waldeck stützte eine Weile den Kopf in die Hand, als ob er in die Vergangenheit zurückblickte; dann begann er:

VII.
Rückblick

»Wir müssen sieben Jahre in die Vergangenheit zurückgehen, liebes Kind,« sagte der Greis. »Du warst damals ein kleines Mädchen, das mit der Puppe spielte; da hieß es auf einmal, die Franzosen rückten von Regensburg und die Oesterreicher von München an . . .«

»O, ich erinnere mich recht gut, Vater. . .ich sehen doch auf der Höhe von Abensberg, neben den Burgruinen das kleine freundliche Haus mit den Weinreben über der Thür und den Apfelbäumen im Garten.«

»Erinnerst Du Dich auch noch des Tages, wo die Oesterreicher einzogen?«

»O ja, sehr gut. . . ich war mit meinem Freunde Staps und mit meiner Schwester Margarethe im Wohnzimmer als auf einmal die Trommeln wirbelten. . . Zugleich zogen Studenten singend vorüber. Staps, der bei meiner Schwester saß, stand auf, und gab den Sängern ein Zeichen. . .Vater, was ist denn aus unserem Freund Staps geworden?«

»Er ist erschossen worden.«

»Erschossen!« rief Lieschen erblassend.

»Ja, erschossen.«

»Wo denn?«

»In Wien.«

»Warum denn?«

»Weil er dem Kaiser Napoleon nach dem Leben getrachtet hatte.«

»O mein Gott!« sagte Lieschen den Kopf in die Hand stützend. »Der arme Staps! Aber es war auch ein großes Verbrechen. Warum wollte er denn den Kaiser Napoleon ermorden?«

»Napoleon war in seinen Augen der Unterdrücker Deutschlands. Ueberdies war er Mitglied einer geheimen Gesellschaft, deren Geboten er unbedingt gehorchen mußte.«

»Dann bat er wahrscheinlich in Abensberg auf den Kaiser geschossen? nicht wahr, Vater?«

»Ich will ihn nicht verdammen, mein Kind . . . obgleich unser Unglück mit jenem Tage begann, wo Abensberg geplündert und in Brand gesteckt wurde.«

»Ja, Du wurdest verwundet, Vater; man fand Dich unter den Todten . . . und von jenem Tage an bis an ihr Ende sah man Margarethe fast immer weinen. Was war denn geschehen? Wenn ich davon sprechen wollte, sagtest Du später, mein Kind . . . später sollst Du Alles erfahren.«

»So höre, mein Kind. Napoleon dachte vielleicht kaum an die Kugel, die ihm durch den Hut gedrungen war; aber der General Berthier sah ein Verbrechen darin, das eine exemplarische Bestrafung verdiene: er befahl einem Regiment, das bereits geräumte Dorf wieder zu besetzen, den Thäter zu ermitteln und alle Einwohner für den Mordversuch verantwortlich zu machen.«

»Das Regiment rückte ein, um den furchtbaren Befehl zu vollziehen; aber die Oesterreicher hatten inzwischen das Dorf schon wieder besetzt. Abensberg scheint ein sehr wichtiger Punkt gewesen zu seyn. Die Franzosen griffen das Dorf mit Ungestüm an, die Oesterreicher vertheidigten es hartnäckig. Es war ein furchtbarer Kampf . . .«

»O, ich erinnere mich, Vater. Du brachtest meine Schwester und mich in den Keller. Margarethe weinte und wollte Dich nicht verlassen. In den Straßen wurde gekämpft, wir hörten das Schießen und das Aechzen der Sterbenden, das Jammern der Verwundeten. . . Ja, Du hast Recht,Vater, es war ein Schreckenstag.«

»Unser Haus zumal war verrammelt wie eine Festung, und ich war da . . . mitten unter den Kämpfendem die ihre Pflicht thaten . . . nur ich, der Mann des Friedens, der alle Menschen für Brüder, für Kinder Eines Vaterlandes hält, ich schüttelte den Kopf und betete für Freund und Feind, für Oesterreicher und Franzosen. Sie verstanden mich nicht, die armen Verblendeten: sie glaubten, da ich nicht auf ihrer Seite war, müsse ich ihr Gegner seyn. Sie drangen mir ein Gewehr auf und trieben mich ins Feuer.«

»O, mein Gott!« sagte Lieschen erblassend; »und Alles dies geschah über unsern Köpfen!«

»Ja, mein Kind; aber mitten im Kugelregen sagte ich: »Herr, Du bist groß, Du bist allmächtig und barmherzig! Gib, daß die Menschen, die sich das Leben nehmen, sich einst den Bruderkuß geben! Gib, daß man Dich nicht mehr den Gott des Krieges, sondern den Gott des Friedens nenne. . .« Plötzlich wankte ich mitten in meinem Gebet; die Stimme versagte mir, es ward mir dunkel vor den Augen, und ich sank blutend zu Boden: ich war von einer Kugel in die Brust getroffen.«

»Lieber Vater!« sagte Lieschen, dem Greise um den Hals fallend und mit so herzzerreißendem Tone, als ob er erst eben verwundet worden wäre.

»Ehe sich meine Augen schlossen,« fuhr der Pastor Waldeck fort, »sah ich deine Schwester, die ihren Schlupfwinkel verlassen hatte und mir in ihrer Verzweiflung zu Füßen sank . . . O, ich kann nicht beschreiben was ich in jener Minute litt, die das Leben von der Ohnmacht, den Tag von der Nacht trennt! Ich glaubte, es sey aus mit meinem Leben und die Hand des Todes berühre mich. Ich streckte die Hände nach meiner Tochter aus, die ich noch wie durch einen blutigen Schleier bemerkte; ich versuchte ihren Namen zu stammeln, sie zu berühren, zu segnen, aber die Kraft fehlte mir; Alles verschwand und ich verlor die Besinnung.«

»Mein Gott!« stammelte Lieschen.

»Wie lange ich bewußtlos blieb, weiß ich nicht . . .aber als ich die Augen aufschlug und wieder zum Bewußtsein kam, war ich unglücklicher und konnte mich schwerer zum Leben entschließen, als ich mich zum Sterben entschlossen hatte . . . O! es war wirklich der Krieg mit allen seinen Gräueln und Schrecknissen, mit seinem Gefolge von Verbrechen. Man hatte mich mitten unter den Todten, mit einem Gewehr in der Hand gefunden, man hatte mich verschont, weil man mich für todt gehalten. Das freundliche kleine Haus war nur noch ein rauchender Trümmerhaufen, das Dorf eine große Ruine . . . überall Blut, auf den Feldern wie in den Gassen, wie im Gotteshause. Dort fand ich deine Schwester . . . sie war bleich und in Verzweiflung; sie hatte wohl Ursache, in Verzweiflung zu seyn, denn sie war unglücklicher, als ob sie todt gewesen wäre.«

»Vater, Vater!« rief Lieschen schluchzend.

»Nachher,« fuhr der Pastor mit Bitterkeit und tiefer Betrübniß hinzu, »nachher heißt es, eine herrliche Schlacht, die sowohl den Angreifern als den Vertheidigern Ehremacht! . . . Ich ließ meine Wunde von selbst heilen, aber mit deiner Schwester kam es anders, die sorgfältigste Pflege, die freundlichste, liebevollste Behandlung vermochte nichts über sie. Ich verließ Baiern und ging nach Westphalen, und von dort nach Baden: ich nannte mich nicht mehr Blum, sondern Waldeck – aber nichts war im Stande, sie wieder mit dem Leben zu befreunden. Du hast gesehen, wie sie mit jedem Tage blässer und schwächer wurde, wie sie dahinwelkte und eine Blüthe ihrer Jugend nach der andern abgestreift wurde . . . bis sie endlich am 16. October 1812 verschied.«

»Arme Schwester!« sagte Lieschen.

»Du begreifst jetzt, warum Gretchen weder den Heidelberger Studenten noch den Sohn des Frankfurter Banquiers noch den Baron von Offenburg heirathen wollte; sie war von dem Capitän Richard entehrt worden.«

»Ach Gott!! ach Gott!« rief Gretchen erschrocken. »Von dem Capitän Richard?«

»Ja, von dem Capitän Richard. So heißt der Elende, der uns in Trauer versetzt hat. Dich für ein Jahr – denn in deinem Alter währt die Trauer nur kurze Zeit – mich für mein ganzes Leben!«

»Ach, mein Gott!« stammelte Lieschen, die der Name, den sie gehört, wie ein Donnerschlag getroffen hatte.

»Ich bin ein Verkündiger des Friedens,« fuhr der Greis fort, »mein Beruf ist, verzeihen und segnen . . . daher bete ich täglich, Gott möge in seinem Zorn jenen ruchlosen Mann nie in meine Nähe führen, denn ich könnte wähnen, daß er in seiner Gerechtigkeit ein Strafgericht über ihn verhängen wolle.«

»Um Gotteswillen, Vater! . . .« sagte das geängstigte Mädchen und faßte die Arme des alten Mannes, der, die Hände zum Himmel erhebend, gleichsam die Strafe Gottes auf den Missethäter herab beschwor.

»Ja, Du hast Recht, mein Kind,« sagte der Pastor, »wir wollen nicht mehr daran denken . . . wenigstens nicht mit rachsüchtigem Herzen . . . der Tisch ist gedeckt; wir wollen uns setzen . . . es ist nur zwischen Dir und mir ein leerer Platz, ich vermisse noch immer meine arme Margarethe.«

Der Greis setzte sich an den Tisch, aber statt zu essen, stützte er den Kopf auf die Hand.

Lieschen stand ihm gegenüber und sah ihn mit tiefer Bekümmerniß an. Plötzlich fiel ganz in der Nähe ein Schuß und gleich darauf hörte man hastige Fußtritte . . . dann wurde die Thür mit Heftigkeit aufgerissen.

Lieschen schrie laut auf. Der Pastor sah sich um und erblickte den jungen Offizier, der vor einer Weile von seiner Tochter Abschied genommen hatte.

»Vater . . . er ist’s,« stammelte sie.

»Kommen Sie herein, sagte der Greis.

»Ich werde verfolgt,« sagte der Fremde; »wollen Sie mich noch einmal retten?«

»Kommen Sie geschwind herein und setzen Sie sich an den Tisch, zwischen meine Tochter und mich . . . Lieschen, geschwind ein Besteck! . . . Sprechen Sie deutsch, mein Herr?«

 

»Ja,« antwortete der Flüchtling.

»Sie sind unser Gast,« fuhr der Pastor fort. »Nur Ruhe und Fassung . . . vielleicht sind Sie noch zu retten.«

Der Fremde setzte sich an den Tisch an denselben Platz, wo der Vater so eben seine Tochter so schmerzlich vermißt hatte.

Lieschen legte schnell ein Besteck vor ihn hin und nahm selbst ihren Platz ein. »O mein Gott, dachte sie, »führst Du ihn in deinem Zorn oder in deiner Barmherzigkeit zu uns?«

Zugleich erschien ein Mann, der die Uniform eines Brigadiers der Gendarmerie trug, an dem offen gebliebenen Fenster und während die untere Hälfte seiner Person nicht sichtbar wurde, schaute ein pfiffiges spöttisches Gesicht in das Zimmer und musterte die kleine Tischgesellschaft.

»O! der Brigadier Schlick!« flüsterte Lieschen; »er ist verloren!«

Aber der Brigadier, der dem armen Mädchen einen so großen Schrecken verursachte, schien durchaus keine so feindselige Absicht zu haben; er nahm höflich den Hut ab und sagte:

»Guten Appetit, Herr Waldeck und die werthe Gesellschaft!«

Richard sah den Gendarmen flüchtig an; er glaubte das Gesicht schon gesehen zu haben, er wußte nur nicht wo.

Der Pastor sah sich um und legte in sein Gesicht eine Ruhe, die in seinem Herzen nicht war.

»Wer ist da?« fragte er.

»Lassen Sie sich nicht stören, Herr Pastor . . . ich bin’s, der Brigadier Schlick.«

Dieser Name war dem Capitän so wenig fremd wie das Gesicht des Gendarmen, er konnte sich nur nicht erinnern, bei welcher Gelegenheit er ihn gehört hatte.

Der Brigadier Schlick sah den Capitän mit einer Aufmerksamkeit an, welche bewies, daß er mindestens ein ebenso gutes Gedächtniß hatte wie der französische Offizier; vielleicht war sein Gedächtniß noch besser.

Nach einer kleinen Weile machte der Gendarme eine Kopfbewegung, welche anzeigte, daß seine Zweifel, wenn er wirklich welche hegte, geschwunden waren.

»Der Bürgermeister,« sagte er, »hat mir aufgetragen, sehr höflich gegen Sie zu seyn, und Sie sehen, daß ich mich an meine Weisung halte . . . Ist es erlaubt hineinzugehen?«

Der Pastor warf dem Capitän einen Blick zu, der bedeutete: »Fassen Sie sich, oder Sie sind verloren!«

Dann antwortete er dem Brigadier:

»Allerdings, Sie können hereinkommen . . . Steh’ auf, Lieschen, und leuchte Herrn Schlick.«

Lieschen stand aus, nahm mit zitternder Hand die Lampe und ging der Thür zu. Aber der Brigadier überhob sie der Mühe.

»O, bemühen Sie sich nicht, mein schönes Fräulein,« sagte er, ins Fenster steigend, unsereins ist schon gewohnt, den Weg durchs Fenster zu finden.«

Lieschen warf einen flüchtigen Blick auf den Franzosen. Er schien ganz ruhig und den Abendbesuch gar nicht zu beachten.

»Willkommen, Herr Schlick!« sagte der Pastor, den ungebetenen Gast ganz unbefangen begrüßend.

Lieschen war so blaß, daß der Gendarme Mitleid mit ihr hatte.

»Mein Fräulein,« sagte er. »Sie sind sehr blaß und da meine Anwesenheit wahrscheinlich die Ursache Ihres Schreckens ist, so will ich Ihnen vor Allem beweisen, daß ich nicht so böse bin, wie ich aussehe.«

Da er den Fremden nicht aus den Augen ließ, so stützte dieser das Kinn mit der Hand und sah den Gendarmen ebenso neugierig, oder doch eben so ruhig an, wie er selbst angesehen wurde.

»O, Brigadier,« antwortete der Pastor, »das ist nicht nöthig, wir haben Sie lange genug gekannt . . .«

Lieschen nahm alle ihre Fassung zusammen, um sich zum Lächeln zu zwingen.

»Ich weiß nicht, Herr Schlick,« sagte sie, »ich erinnere mich, daß Sie oft einen Wortwechsel mit meinem Vater gehabt haben.«

»Wortwechsel?« entgegnete Schlick. »Da irren Sie sich, mein liebes Fräulein, wie könnte ich so unhöflich seyn, mit einem gelehrten Herrn wie Ihr Papa Streit anzufangen?«

»O ich weiß es noch recht gut, erwiederte Lieschen; »wenn Sie wollen, will ich Ihnen sogar sagen, bei welcher Gelegenheit.«

»Das möchte ich doch wissen, mein Fräulein.«

»Es war wegen der Franzosen . . .«

»Ja, das ist wohl möglich; in diesem Punkte bin ich starrköpfig . . . ich habe die Franzosen überaus gern, Herr Waldeck hingegen haßt sie . . . nicht wahr, Herr Pastor?«

»Ja, das ist wahr.«

»Ich kann mir’s wohl denken,« fuhr der Gendarme fort, »die Franzosen werden Ihnen im letzten Kriege übel mitgespielt haben . . . in Baiern zumal ging’s heiß her; ich war dabei, und weiß ein Wort davon zu erzählen.

»Sie waren dabei?« fragte der Pastor mit einiger Neugier.

»Ja wohl . . . man hat sogar über meine Anwesenheit bei der Armee Sr. Majestät des Kaisers und Königs einige Bemerkungen gemacht, die ich nicht mit Stillschweigen übergehen kann . . . Ist Ihnen von dem Geschwätz etwas zu Ohren gekommen, Herr Waldeck?«

»Nein.«

»Die bösen Zungen sagten, ich sey im Lande umhergereist, um dem Kaiser Napoleon zu berichten, was ich gesehen und gehört. Dieses Gerücht mag dadurch entstanden seyn, daß ich nicht nur französisch und deutsch – was bei einem Grenzbewohner gar nicht zu verwundern – sondern auch etwas italienisch, polnisch und ungarisch spreche. Man behauptete, ich hätte mit dem Fürsten von Neuchâtel einen Vertrag abgeschlossen, und für meine Berichte, je nach deren Wichtigkeit, eine mehr oder minder bedeutende Summe erhalten.«

»Wenn das wirklich der Fall war,« erwiederte Lieschen naiv, »so waren Sie ja ein Spion!«

»Ganz recht, mein Fräulein, das sagten die bösen Zungen. Ich dagegen behaupte, daß ich zur Befriedigung meiner Wißbegierde reiste, daß ich aus Unbesonnenheit erzählte was ich gesehen, und daß der Kaiser, der an meinem Geschwätz Gefallen fand, mich aus Freigebigkeit belohnte.«

»Wirklich?« sagte der Pastor.

»Und da Se. Majestät der Kaiser und König,« fuhr der Brigadier fort, »sehr freigebig war, so unternahm ich einst mit einem jungen Offizier von den Gardejägern ein sehr gewagtes Abenteuer. Soll ich’s Ihnen erzählen, Herr Pastor?«

»Allerdings, Herr Schlick; ich bin zwar nicht so neugierig wie der Kaiser Napoleon, aber Ihre Geschichten sind immer sehr unterhaltend.«

»Aber der Herr hier,« erwiederte Schlick, auf den Capitän deutend, »spricht vielleicht nicht deutsch . . . dann könnte ich’s französisch erzählen.«

»Thun Sie sich keinen Zwang an, Herr Brigadier,« sagte der Capitän, der noch nicht gesprochen hatte, im reinsten Deutsch; »Sie sehen, daß ich im Stande bin, Sie anzuhören.«

»Nun, ich sehe wohl, daß ich unter Landsleuten bin,« erwiederte Schlick. »Hören Sie also, Herr Waldeck. Ich sollte mich mit dem jungen Jägeroffizier in die Ruinen einer alten Burg begeben, wo eine geheime Gesellschaft ihre Versammlungen hielt.«

»In Abensberg?« fragte der Pastor.

»Ja wohl. Sind Sie in Abensberg bekannt, Herr Waldeck?«

»Ja, ich habe einige Zeit dort gewohnt,« antwortete der Pastor gleichgültig.

»Wir hatten den Auftrag,« fuhr Schlick fort, uns in die Burgruinen von Abensberg zu begeben und in die geheime Gesellschaft aufnehmen zu lassen, um deren Absichten kennen zu lernen. Es gelang uns vollkommen: ich war schon Mitglied der Nachtvögelgesellschaft, der Jägeroffizier wurde aufgenommen. Am andern Morgen hatten wir dem Fürsten von Neuchâtel eine so interessante Geschichte zu erzählen, daß er mir im Namen des Kaisers, den die Geschichte ebenfalls sehr zu unterhalten schien, hundert Napoleons schenkte.«

»Ein hübsches Sümmchen,« sagte der Pastor; »Sie müssen ein reicher Mann seyn, wenn Sie viele so interessante Geschichten erzählt haben.«

»Man ist nie reich,« erwiederte der Brigadier, »wenn man Weib und Kind hat, und wenn das Kind eine Tochter ist, die man aussteuern muß.«

»Ich verstehe, und deshalb haben Sie es mit der Nationalität nicht so genau genommen . . .«

»Wieso, Herr Pastor?«

»Sie sind doch ein Deutscher, und dienten dem Kaiser Napoleon . . .«

»Ein Deutscher? Wissen Sie das gewiß, Herr Pastor?«

»Ich habe es wenigstens geglaubt.«

»Ich bin ein Badenser. Das Großherzogthum Baden weiß ja selbst nicht recht was es ist, und ich bin nicht halsstarriger als mein Heimatland; ich machte es also wie das Großherzogthum Baden: zuerst war ich deutsch, und als es französisch wurde, machte ich’s natürlich wie das Großherzogthum Baden und wurde französisch. Aber jetzt geht’s in Europa drunter und drüber, und der Congreß gibt dem Rheinbund einen neuen Zuschnitt. Das Großherzogthum Baden, obschon von einer französischen Prinzessin regiert, wird wieder ein Stück von Deutschland, und da ich bekanntermaßen ein Stück vom Großherzogthume Baden bin, so werde ich natürlich wieder deutsch.«