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XL
Die Liebe der Tugend und die Tugend der Liebe

Ingénue konnte sich nicht entfernen, ohne daß sie zuvor Charlotte von Corday hatte in den Wagen steigen sehen; und trotz dieses neuen Verzuges war sie lange vor der Rückkehr ihres Vaters zu Hause.

Der gute Rétif kam in einem Zustande zurück, der, ohne die Trunkenheit zu sein, wenigstens die Heiterkeit war.

Er hatte bei Tische zahlreiche Complimente über seine Pariser Nächte und seine Zeitgenossinnen empfangen. Berauscht durch diese Lobeserhebungen, hatte sein Buchhändler eine Bestellung bei ihm gemacht; und Réveillon, – der zum Zustande eines Publicisten seit der Brochure, welche Rétif für ihn abgefaßt, übergegangen, – Réveillon hatte sich herbeigelassen, von Zeit zu Zeit über geschwärztes Papier, statt über gemaltes zu plaudern.

Réveillon hatte Rétif bei Tische neben sich gesetzt und ihn großmüthig trinken lassen, wie er selbst getrunken; denn zu jener Zeit, welche doch von der unsern nicht sehr entfernt ist, gab es noch eine gewisse Gutmütigkeit, welche dem ehrlichen Manne erlaubte, sich in gutem Weine mit Freunden zu erheitern.

Die Dichter, die Literaten, die Schriftsteller hatten übrigens schon einen gewissen Fortschritt gemacht: im siebzehnten Jahrhundert waren sie Trunkenbolde, im achtzehnten waren sie nur noch Gourmands.

Das Gespräch, nachdem es abwechselnd eine Menge Gegenstände berührt hatte, war auf Auger, den neuen Angestellten von Réveillon, gefallen und hatte, wie man sehen wird, seine Früchte getragen.

Als Rétif gegen zehn Uhr Abends nach Hause kam, fand er Ingénue an ihrem Arbeitstische sitzend; nur arbeitete Ingénue nicht.

Sie fühlte ihr Unrecht; sobald sie auf der Treppe die Tritte ihres Vaters und das Liedchen hörte, mit dem er seinen Gang begleitete, wenn er guter Laune war, eilte sie auch, die Thüre zu öffnen.

Als Rétif eingetreten, war Ingénue sehr liebenswürdig und sehr liebkosend gegen ihn.

Diese Liebkosungen und diese Liebenswürdigkeit rührten tief Herrn Rétif, den das Spitzchen, welches er von seinem Mahle zurückbrachte, ungemein zur Rührung prädisponirt hatte.

»Nun,« sagte er zu Ingénue, nachdem er sie geküßt, »Du hast Dich sehr gelangweilt, nicht wahr, mein liebes Kind?«

»Ja, mein Vater,« erwiederte Ingénue.

»Ah! ich habe es mir oft gesagt: warum bist Du nicht ein Mann, statt eine Frau zu sein? ich würde Dich überallhin mitnehmen!«

»Ist es Ihnen unangenehm, daß Sie eine Tochter haben, mein Vater?«

»Nein, denn Du bist schön, und ich liebe die schönen Gesichter: das erquickt. Du bist die Freude des Hauses, meine arme Ingénue, und seitdem Du das Mädchenalter erreicht, haben alle meine Heldinnen blaue Augen und blonde Haare.«

»Guter Vater!«

»Bedenke aber, mein Kind, was sich uns bieten würde, wenn Du ein Knabe wärest . . .«

»Was sich uns bieten würde, mein Vater?«

»Ja, das ist ganz einfach: ich bin alle Tage oder fast alle Tage zum Mittagessen auswärts eingeladen; nun wohl, wärest Du ein Knabe, so würde ich Dich mit mir nehmen; wir hätten kein Mittagsbrod zu Hause zu machen; das wäre einmal eine Ersparniß, und dann hättest Du nicht mehr nöthig, Deine hübschen Fingerchen zu beschmutzen.«

»Oh! mein Vater, wäre ich ein junger Mann, so brauchte ich meine Hand nicht zu schonen.« .

»Das ist wahr; doch außer dem würde ich Dich für den Druck setzen lehren; Du würdest mir bei meinen Arbeiten helfen; wir würden zehn Franken täglich zu Zwei verdienen; das sind dreihundert Franken im Monat, dreitausend sechshundert Franken im Jahre; ohne meine Manuscripte zu rechnen, welche vielleicht zu sieben bis achttausend gehen würden; denn man sieht nicht selten . . .«

Da die Summe Ingénue ziemlich stark dünkte, so schlug sie nur die Augen zu ihrem Vater auf.

»Ei!« sagte dieser, »schau Herrn Mercier an. . . Und dann wären wir sehr glücklich.«

Ingénue lächelte schwermüthig.

»Wir sind beinahe glücklich,« sprach sie.

»Beinahe!« rief Rétif. »Oh! Philosophie der Treuherzigkeit! Beinahe! Du hast wohl gesprochen, mein liebes Kind! ja, beinahe! wir sind beinahe glücklich!«

Rétif wurde wieder gerührt.

»Beinahe!« fuhr er fort, »das ist das Wort der Dinge dieser Welt; beinahe reich ist der Millionär, der zwei Millionen zu haben wünscht, beinahe mächtig ist der Prinz, der König zu sein wünscht, beinahe geliebt ist der Liebhaber, der mehr als Liebe wünscht.«

Ingénue schaute ihren Vater an; sie fragte sich ganz leise, was der Liebhaber mehr als Liebe wünschen könne.

»Oh!« fuhr Rétif fort, »wie weiß ich mir Dank, daß ich Dich in der Philosophie erzogen habe, Ingénue! Du hast erhabene Worte; ich werde dieses ganz gewiß irgendwo anbringen.«

Ingénue küßte ihren Vater.

»Beinahe glücklich, ja,« wiederholte dieser. »Um ganz glücklich zu sein, fehlt uns nichts, fast nichts, als Geld! . . . Ah! wärest Du ein Knabe, so hätten wir dieses Geld, und Du würdest nicht sagen: »»Beinahe glücklich!««

»Ach! ich würde es wahrscheinlich wegen einer andern Sache sagen,« sprach die philosophische Ingénue an Christian denkend.

»Das ist wahr,« erwiederte Rétif, »wärest Du ein Knabe, so wärest Du verliebt oder ehrgeizig.«

»Ehrgeizig? Oh! nein, das schwöre ich Ihnen, mein theurer Vater.«

»Also verliebt, was noch schlimmer ist: das geht nur schneller vorüber.«

Ingénue schlug mit einer Miene des Zweifels ihre schönen blauen Augen zu ihrem Vater auf; es schien ihr unbegreiflich, daß es eine Leidenschaft auf der Welt gebe, welche länger währe, als die Liebe.

»Ah! was das Verliebtsein betrifft,« sagte Rétif, »wir haben heute Abend teufelmäßig von Liebe gesprochen!«

»Mit wem denn?« fragte Ingénue erstaunt.

»Mit Herrn Réveillon; das ist wahrhaftig ein liebenswürdiger Mann, so dumm er auch ist.«

»Sie haben mit Herrn Réveillon von Liebe gesprochen, mein Vater?« sagte Ingénue mit dem höchsten Erstaunen; »mein Gott! in welcher Beziehung?«

»Oh! in Beziehung auf tausend Dinge . . . Ich erzählte ihm von Stoffen für Novellen . . . Er hat das Angenehme, der liebe Herr Réveillon, daß er Nicht begreift und sich nichtsdestoweniger immer das Ansehen gibt, als begriffe er, so daß er keine Einwendung macht; oh! er ist nicht peinlich!«

»Sie sagten aber, er habe in Beziehung auf tausend Dinge von Liebe gesprochen.«

»Ja, und besonders in Beziehung auf Auger.«

»Auger! welcher Auger?«

»Welcher Auger soll es sein!«

»Wie! der unsere?

»Der unsere, ja . . . Sieh, welch eine schöne Tugend die Menschenliebe ist; selbst von diesem Manne sprechend sagst Du mir: »»Unser Auger!«« Nun wohl, unser Auger, stelle Dir vor, das ist ein Juwel: Réveillon ist von ihm entzückt. Er hatte Anfangs Argwohn und Vorurtheile gegen ihn; bah! Alles ist verschwunden!«

»Ah! wahrhaftig? Desto besser!« sagte Ingénue zerstreut.

»Es gibt, wie es scheint, keinen verständigeren Menschen, hörst Du?«

»In der That, ich halte ihn nicht für dumm.«

»Weit entfernt! er ist nicht nur nicht dumm, sondern er ist sogar zuvorkommend, er weiß die Dinge zu errathen, er verrichtet rasch sein Geschäft, er ist der Letzte, der sich zu Tische setzt, und steht zuerst wieder auf; er trinkt nur Wasser, er isolirt sich von den Arbeitern, seinen Kameraden; er hat sich schon durch seine wunderbare Geschicklichkeit bei der Arbeit bemerkbar zu machen gewußt. . . und dann . . .nun! ich weiß nicht, ob Du ihn angeschaut hast, doch der Bursche hat kein häßliches Gesicht.«

»Oh!«

»Was sagst Du?«

»Ich sage, er sei weder hübsch, noch häßlich.«

»Teufel! Du bist schwierig! seine Augen sind lebhaft; er ist gut gebaut ohne zu viel Außenschein; ein nerviger Gesell, ein tüchtiger Arbeiter. Réveillon und seine Töchter sind bei meiner Treue von ihm begeistert.«

»Es ist besser, daß es so ist, und daß unsere Protection einen ihrer würdigen Gegenstand gefunden hat,« sprach Ingénue.

»Gut gesagt, meine Tochter,« rief Rétif, »sehr gut gesagt, eine vortreffliche Wendung! Du hast da eine ausgezeichnete Phrase construirt: Und daß unsere Protection einen ihrer würdigen Gegenstand gefunden hat. Aeußerst gut, Ingénue! Ich bin ganz Deiner Ansicht. . . Auger wird seinen Weg in diesem Hause machen.«

»Desto besser für ihn,« erwiederte Ingénue, wie eine Person, welche bei der Frage ganz und gar nicht interessirt ist.

»Ich, ich habe das sogleich gesehen,« fuhr Rétif fort; »Du weißt die Töchter von Réveillon cultiviren Winterblumen, bengalische Rosen, Geraniums und dergleichen; seit acht Tagen aber, da man viel an der Aussteuer von Mademoiselle Réveillon der Aelteren gearbeitet hat, wurde Alles dies vernachlässigt.«

»Oh! das ist wahr; es scheint sogar, sie wird eine sehr schöne Aussteuer bekommen.«

»Nun wohl, dieser Teufels-Auger, als er die Vernachlässigung sah, kam auf den Gedanken, um drei Uhr Morgens aufzustehen, die Erde umzugraben und den Garten zu begießen, so daß es ganz unbegreiflich; obgleich kein Mensch das Ansehen hatte, als beschäftigte er sich mit dem Garten, war er doch frisch und blühend wie ein Ruhealtar.«

»Wahrhaftig?«

»Réveillon war entzückt, wie Du Dir wohl vorstellst; seine Töchter noch viel mehr; man suchte, man muthmaßte. . . Nichts! Endlich hat man aufgepaßt, und man sah meinen Burschen, der über die Hecke stieg und wie ein Neger arbeitete, während er sich wie ein Dieb zu verbergen suchte.«

»Wozu denn das?« fragte lachend Ingénue.

»Warte, das hat ihm Réveillon auch gesagt, als er auf ihn zuging und ihn anredete.

»»Nun, Auger, Sie machen sich also zum Gärtner meiner Töchter? Das ist ein Zuwachs von Arbeit ohne Lohn.««

»»Oh! Herr,«« erwiederte Auger, »»ich bin hinreichend bezahlt.««

»»Wie so, Auger?««

»»Ja, Herr, bezahlt über meine Verdienste und meine Mühe.««

 

»»In wie fern?««

»»Herr, sind Ihre Töchter nicht die Freundinnen von Mademoiselle Ingénue?««

»»Ja.««

»»Haben sie nicht zuweilen unter diesem Titel Gelegenheit, ihr eine Blume anzubieten?««

»»Allerdings.««

»»Nun wohl, Herr, ich arbeite hier für Mademoiselle Ingénue.««

»Für mich?« rief das Mädchen.

»Warte doch,« versetzte Rétif, »Du wird sehen!«

»»Und wenn ich mir die Hände an den Dornen verwunde,«« fuhr er fort, »»wenn ich die Erde mit meinem Schweiße besprenge, so sage ich mir: – Das ist noch zu wenig, Auger! Du bist Dein Blut, Du bist Dein Leben dieser Demoiselle schuldig! und kommt die glückliche Stunde, das eine zu vergießen und das andere zu opfern, so wird man sehen, ob es Auger an Herz und Gedächtniß fehlt.««

»Er hat das gesagt?« fragte Ingénue ein wenig erröthend.

»Noch Besseres! er hat noch Besseres gesagt, meine Tochter.«

Ingénue senkte den Kopf und faltete leicht die Stirne.

»Kurz,« sprach Rétif, »das ist ein reizender Junge, und Réveillon hat ihn schon belohnt.«

»Ah! wodurch?«

»Auger, wie ich es vorhergesehen, war nicht dazu gemacht, ein einfacher Arbeiter zu bleiben: er schreibt merkwürdig schön und rechnet wie ein Mathematiker; und dann bemerkte Réveillon, – oder vielmehr Mademoiselle Réveillon, – daß er sehr reine Hände hatte, welche durchaus nicht gut zum Verrichten grober Arbeiten; so daß er ihn aus seinen Werkstätten nahm und in seine Bureaux als Ausfertiger setzte. Das ist ein hübscher Platz; zwölfhundert Franken und die Kost im Hause.«

»Ja, in der That, ein sehr hübscher Platz,« wiederholte Ingénue maschinenmäßig.

»Er ist allerdings nicht so viel werth, als der, welchen er verlassen hat. Wie es ihm Réveillon sagte: »»Auger, Sie haben hier nicht die Küche des Prinzen; doch nehmen Sie dieselbe so wie sie ist.«« Es ist stark von Réveillon, der stolz ist wie ein Hidalgo, daß er Dergleichen Auger gesagt hat; doch was willst Du, mein Kind, dieser Teufelsmensch verwandelt Alles bis auf den Charakter der Leute. »»Ah! Herr!«« erwiederte Auger . . . höre wohl diese Antwort, mein Kind. »»Ah! Herr, das trockene Brod des redlichen Mannes ist mehr werth, als die Fasanen des Verbrechens!««

»Mein Vater, ohne Ihrer Ansicht zu nahe zu treten, finde ich diesen Satz ein wenig geschraubt, und ich liebe nicht sehr die Fasanen des Verbrechens

»Es ist wahr,« sagte Rétif, »dieses letzte Glied des Satzes scheint mir gesucht; aber siehst Du, mein Kind, die Tugend hat ihre Exaltation, welche leicht in die Sprache übergeht: es gibt Trunkenheiten der Tugend. In diesem Augenblicke berauscht sich Auger in der seinigen; das ist lobenswerth, man muß in solchen Dingen aufmuntern; darum bin ich leicht über die Fasanen des Verbrechens hingegangen. Ueberdies gefiel mir das erste Glied des Satzes: »»Das trockene Brod des redlichen Mannes . . .««

Das klingt gut; im Theater würde das Effect machen.«

Ingénue billigte mit dem Kopfe nickend.

Während dieses Gespräches hatte Rétif seinen getreuen Ueberrock gegen ein etwas groteskes, aber zum Declamiren bequemes Nachtkleid vertauscht.

»Seltsamer Wechsel!« rief er, als er sich in seinen Aermelausschnitten frei fühlte, »Fügungen des Schicksals! Launen des Lebens! Spiele der Seele! Da ist ein Mensch, den wir verabscheuten, der unser Hauptfeind war; da ist ein Elender, dem Du und ich einen raschen und geraden Weg zum Galgen gewünscht hätten, – nicht wahr?

»Zum Galgen?« versetzte Ingénue. »Oh! mein Vater, Herr Auger war sehr strafbar, doch mir scheint, Sie gehen zu weit.«

»Ja, Du hast Recht, ich übertreibe vielleicht ein wenig,« erwiederte Rétif , – »doch ich bin Dichter, meine Liebe: Ut pictura, poësis, wie Horaz sagt. Ich wiederhole also der Galgen; denn hättest Du ihn nicht dahin geschickt, so würde ich, ein Mann, ich, Dein Vater, ich, verwundet in meinen Gefühlen und in meiner Ehre, ihn nicht nur zum Galgen, sondern sogar zum Rade, und zwar sehr gern geschickt haben. Nun wohl, heute zeigt sich dieser Mensch als der Trefflichste, der Vollkommenste der braven Leute; er verbindet mit seinen Vorzügen den der Reue; er ist doppelt würdig der Lobspenden, einmal weil er das Gute thut, und dann weil er es thut, nachdem er das Böse gethan hat! O Vorsehung! o Religion!«

Ingénue schlug von Zeit zu Zeit ihr Auge besorgt auf und fing an über diese Exaltation ihres Vaters zu erschrecken.

Dieser fuhr fort:

»Glückliche Lehre des Gesetzgebers Jesus: »»Es wird mehr Freude sein im Himmel über Einen Sünder, der Buße thut, als über neunundneunzig Gerechte, die der Buße nicht bedürfen.««

»Warum nennen Sie Jesus Christus einen Gesetzgeber?« fragte Ingénue.

»Es ist gut, es ist gut, mein Kind,« antwortete Rétif; »wir Philosophen wissen, was die Worte zu bedeuten haben. Ich finde also, daß Auger ein redlicherer Mann ist, als viele andere Leute, und ich weiß ihm um so mehr Dank hierfür, als Du es bist, die seine Verwandlung bewirkt hat.«

»Ich, mein Vater?«

»Allerdings, Du! Erkenne also hierin jene geheime Stimme des Herzens, jene bewegende Kraft aller edlen Handlungen dieser Welt: liebte Dich Auger nicht, so hätte er nicht so gehandelt.«

»Mein Vater! . . .« rief Ingénue schamroth und zugleich ärgerlich.

»Was spreche ich, lieben?« fuhr Rétif fort, »man muß die Leute vergöttern, um ihnen so Alles, Alles zu opfern!. . . Sagen wir also hier nicht: »»Auger wurde tugendhaft um der Tugend willen,«« oh! nein! und das ist der Irrthum der gewöhnlichen Menschen; das ist der Irrthum des wackeren Pfarrers Bonhomme und des würdigen Fabrikanten Réveillon, welche Beide die Aenderung von Auger einer Gewissensrückkehr zuschreiben. Nein, meine Tochter, nein! bessert sich Auger, so geschieht es nicht durch die Liebe der Tugend, sondern durch die Tugend der Liebe.«

Ingénue hob den Pfeil nicht auf.

Eine Folge hiervon war, daß Rétif, der an diesem Abend eine Schelle an jedes seiner Worte zu hängen schien, um sie bei Gelegenheit tönen zu lassen, seinen Kopf hoch aufrichtete.

»Ah! ah!« sagte er mit einer vollkommenen Selbstzufriedenheit, »mir scheint, bei meiner Treue, ich habe da etwas Reizendes gesagt, und wahrhaftig, ich wundere mich, daß Du, Ingénue, mit dem ausgezeichneten Verstande, den Dir der Himmel geschenkt, es nicht bemerkt hast. Die Tugend der Liebe, das gibt mir einen köstlichen Titel für meine erste Novelle und sogar für einen Roman.«

Hiernach küßte Rétif seine Tochter, zog sich in seinen Alkoven zurück und schloß die Vorhänge, um sich in keuscher Weise vollends auszukleiden.

Gewiegt durch das Vergnügen, einen so schönen Titel gefunden zu haben, und vielleicht auch durch die Dünste der feinen Weine, die er getrunken, schlief fünf Minuten nachher der gute Rétif den doppelt stolzen Schlaf des Mannes und des selbstzufriedenen Dichters.

Was Ingénue betrifft, – sie zog sich in ihr Stübchen zurück, sehr wenig geneigt, zu schlafen, bevor sie sich selbst gefragt, was diese Vergötterung von Auger in demselben Momente, wo sich die Gleichgültigkeit von Christian offenbarte, bedeute.

XLI
Auger verliebt

Was Réveillon Rétif und Rétif feiner Tochter in Beziehung auf Auger gesagt hatte, war übrigens die strengste Wahrheit.

Auger schien sich unter dem Einflusse des geheimen Feuers, das ihn verzehrte, zu vervielfältigen.

Sein Geschäft ließ er unter seinen Fingern gleichsam zerschmelzen und verschwinden, und dies mit einer Unerschrockenheit, die seinen Arbeitsgefährten von Anfang den Schwindel bereitete ; – vom Schwindel gingen sie sodann zu den kalten Schweißen über; – und das ist leicht begreiflich für Jeden, der nur eine Viertelstunde das Innere eines Bureau studirt.

Der Expeditor der Regierung ist jeder Zeit Herumschlendere gewesen: das ist eine festgestellte und anerkannte Sache; doch der Privatexpeditor gibt ihm gewöhnlich in keiner Hinsicht nach, wenn er es sich erlauben kann.

Der Vorwand der schönen Schrift, an den man sich hält, constituirt hauptsächlich ein kaltes, ruhiges Tempo bei der Arbeit, und das wissen vortrefflich die wahren Kalligraphen, die ihr Talent mißbrauchen. Während man seine Maße und nach seinen Maßen seinen Anlauf für einen großen Anfangsbuchstaben nimmt, hätte man eine halbe Seite geschmiert.

Auger schrieb wie der berühmte Saint-Omer, der durch unseren geistreichen Freund Henri Monnier noch berühmter geworden; doch er hatte Intermittenzen: er begriff, mit einer wunderbaren Anschauung, was sorgfältig behandelt werden mußte, und was gleichsam über das Knie abgebrochen werden durften statt alle Dinge unter allen Umständen zu modeln wie ein gewöhnlicher Expeditor, wußte er mäßig in den Hauptbuchstaben, in den vollen Zügen und den Feinstrichen zu sein. Die Rechnungen, die Bestellungen und die Quittungen fertigte er auch zu Dutzenden aus, indeß sein Nachbar kaum den Titel eines Stückes geschrieben hatte.

Durch diese Geschwindigkeit der Ausführung von Auger weit zurückbleibend, schien dieser Nachbar nichts mehr im Tage gethan zu haben, und eben so der Kassier, dem seine Sortenzettel und seine Empfangscheine, seine Buchhaltung in Soll und Haben früher als Beschäftigung genügten.

Réveillon, der in diesen zwei Angestellten zwei Phönize zu haben glaubte, bemerkte im Gegentheile, daß er unter Dreien nur einen hatte: Auger stellte die zwei Anderen tief in den Schatten.

Das Resultat von Allem dem war, daß der Kassier, beängstigt, als er wahrnahm, wie dieser Gargantua der Expedition für sich allein die Arbeit von drei Personen verschlang, nicht mehr deutlich aus der Tafel von Pythagoras sah. Da wurden natürlich immer ernstere Fehler begangen, so wie der Kassier immer mehr den Kopf verlor, und Réveillon faltete die Stirne wie Jupiter, um den ganzen Olymp des Faubourg Saint-Antoine zittern zu machen.

Tückisch und schweigsam, lauerte Auger auf die Gelegenheit, wo der Kassier zu viel Dummheiten machen würde; diese Gelegenheit mußte sich nothwendig bald bieten. Eines Tages brachte ein Käufer ein Kassenbillet von sechzig Franken zurück; der Kassier hatte es ihm zu viel auf ein Billet von tauend, das er am Gitter von Meister Réveillon gewechselt, herausgegeben.

An diesem Tage sprach Réveillon laut:

»Das ist ein Mensch, mit dem ich Mitleid fühlte, weil er Frau und Kind hatte, und dennoch muß ich ihn nächster Tage vor die Thüre setzen.«

Begünstigt und gehoben durch die Demoiselles Réveillon, vergöttert vom Vater, ehrerbietig gegen Rétif, ganz bleich und ganz in Kniebeugungen, wenn er Ingénue erblickte, machte Auger so Riesenschritte auf der Laufbahn, die er sich gewählt.

Eines Tages wartete er auf Réveillon in dem Gange, der zur Kasse führte. Der Kassier war, nachdem er sein Geschäft verrichtet, weggegangen, und der Expeditor hatte athemlos die Summe seiner Arbeit verdoppelt, ohne daß es ihm gelungen war, die Hälfte von dem zu thun, was Auger gethan hatte.

Wir sagten, Auger habe auf Réveillon gewartet. Auger richtete es aber so ein, daß Réveillon glaubte, er begegne ihm.

. Der Tapetenhändler schwamm in der Zufriedenheit und im Vergnügen; er hatte von den von uns genannten Resultaten Kenntniß genommen und rieb sich die Hände.

»Bei Gott!« sagte er zu Auger, »ich bin entzückt, daß ich Ihnen begegne, um Ihnen mein Compliment zu machen.«

»Ah! Herr,« erwiederte Auger mit tiefer Demuth, »Herr, ich bitte Sie inständig, spotten Sie nicht über mich; ich schwöre Ihnen, es ist nicht meine Schuld, wenn ich so schlecht arbeite.«

»Wie! was sagen Sie?« fragte der Fabricant, der durchaus nicht begriff.

»Herr Réveillon mißbrauchen Sie mein Unglück nicht,« fuhr Auger fort.

»Ich verstehe Sie nicht, mein Freund.«

»Ach! Herr, ich sehe wohl, wenn das so fortgeht, werde ich Ihr Haus verlassen müssen.«

»Warum dies?«

»Weil ich Sie bestehle, Herr Réveillon.«

»Wie?«

Auger wiederholte mit einem noch kläglicheren Tone, als das erste Mal:

»Weil ich Sie bestehle, sage ich.«

»Was stehlen Sie mir?«

»Ihre Zeit.«

»Ah! ah! . . . erklären Sie mir das. Auger; Sie sind im Gegentheile ein wahres Phänomen!«

»Oh! Herr!«

»Sie stehlen mir meine Zeit, sagen Sie, Sie, der Sie allein mehr Arbeit verrichten, als die zwei Anderen mit einander?«

»Dann, Herr,« fuhr Auger jämmerlich den Kopf schüttelnd fort, »dann würde ich arbeiten wie vier, hätte ich nicht das Unglück, das ich habe.«

»Welches Unglück?«

»Ah! sprechen wir nicht hiervon, und erlauben Sie vielmehr . . .«

Auger erhob die Arme zum Himmel.

»Was soll ich Ihnen erlauben? Lassen Sie hören.«

»Das ist ein sehr großes Unglück für mich, Herr: ich war in jeder Hinsicht so gut bei Ihnen!«

»Holla! sollten Sie zufällig mich zu verlassen im Sinne haben?«

 

»Ach! ich muß es wohl früher oder später.«

»Das wird, wie ich hoffe, wenigstens nicht sein, ohne daß Sie mir die Ursache Ihres Abganges sagen.«

»Herr, Herr, es ist kein Geständnis:, das ich Ihnen zu machen habe.«

»Doch, bei Gott! im Gegentheile: wenn mich die Leute verlassen, so will ich wissen, warum.«

»Ich habe es Ihnen gesagt.«

»Sie stehlen mir meine Zeit? ja, Sie haben mir das gesagt. Wie stehlen Sie mir nun meine Zeit? Erklären Sie mir das.«

»Ei! durch meine Zerstreuungen, Herr.«

»He! he!« sagte Réveillon mit einem schallenden Gelächter. »Auger hat Zerstreungen.«

Und der Tapetenfabricant war in der That erstaunt, wie ein Mensch so sehr sein Feind sein konnte, daß er sich da anklagte, wo sich jeder Andere Triumphbogen errichtet hätte.

»Gäbe es noch ein Mittel gegen mein Unglück,« fuhr Auger fort; »doch nein, es gibt keines.«

»Gegen welches Unglück denn? erklären Sie sich! Nennen Sie diese vorgeblichen Zerstreuungen ein Unglück?«

»Ein um so größeres Unglück, Herr, als sie jeden Tag zunehmen werden; hat sich einmal der Kummer in das Herz eines Menschen eingeschlichen, oh! dann ist dieser Mensch verloren, ganz und gar verloren.«

»Was fehlt Ihnen? etwa Geld?«

»Geld? mein Gott! ich wäre zu undankbar, würde ich dergleichen sagen: Sie bezahlen mir das Doppelte von dem, was ich verdiene!«

»Er ist, bei meinem Ehrenworte, reizend! . . . Sollten Sie zufällig Gewissensbisse haben?«

»Gott sei gelobt! der Friede meines Gewissens ist gemacht, und der Ihres Hauses befestigt ihn jeden Tag.«

»Dann sehe ich nicht, kann ich nicht errathen. . .«

»Herr, ich bin verliebt, ohne Hoffnung und ohne Rast . . .«

»Ah! in Ingénue vielleicht?« rief Réveillon, wie von einem Blitze getroffen.

»Sie haben es errathen, Herr.«

»Ah! Teufel!«

»Wahnsinnig verliebt in Mademoiselle Ingénue.«

»Ei! ei! ei!«

»Und das macht Sie nicht schaudern?«

»Oh! nein.«

»Sie versetzen sich nicht in Gedanken in das ganze Grauen, das ich ihr einflöße?«

»Das kann sich besänftigen, lieber Herr Auger, wenn es überhaupt nicht schon geschehen ist.«

»Ueberlegen Sie doch, Herr, Alles trennt mich von ihr.«

»Bah! bah! bah! man hat über breitere Flüsse Brücken geschlagen.«

»Wie! Herr, Sie bemerken Eines nicht, indem Sie so mit mir sprechen?«

»Was?«

»Daß Sie mir Hoffnung zu geben suchen.« »Bei Gott! ob ich suche! ja, ich suche, und es wird mir gelingen, ich zähle darauf.«

»Wie, Herr, Sie spotten meiner nicht?«

»Nicht im Geringsten.«

»Ich dürfte von Ihnen hoffen . . .?«

»Alles.«

»Oh! Herr!«

»Warum nicht? Sie sind ein geschickter Arbeiter, ein redlicher Mensch; Sie haben einen noch mittelmäßigen Gehalt, doch ich kann ihn erhöhen.«

»Oh! Herr, erhöhen Sie nichts, und machen Sie, daß mich Mademoiselle Ingénue nicht verabscheut; machen Sie, daß sie die Wünsche, die ich für ihre Wohlfahrt hege, anhören kann; machen Sie, daß sie mich nicht zurückstößt, wenn ich ihr sagen werde, wie sehr ich sie liebe, und dann, ja, dann Herr, werden Sie mehr für mein Glück gethan haben, als wenn Sie mir die Stelle des Kassiers bei Ihnen gegeben hätten . . .! Sie werden mehr gethan haben, als wenn Sie mir tausend Thaler Gehalt geben würden! und ich werde Sie sogar anflehen, beladen, erdrücken Sie mich mit Arbeit: ich werde nicht zurückweichen, ich werde mich nie beklagen, ich werde nie einen Sou Zulage fordern. Mit einem Worte, Herr Réveillon, erlangen Sie für mich die Hand von Mademoiselle Ingénue, und Sie sollen bei sich einen Mann haben, der Ihnen bis zu seinem letzten Seufzer ergeben sein wird!«

Auger verwickelte so gut Réveillon in die Fäden dieser Liebesberedtsamkeit, daß der Fabricant zugleich gerührt, entzückt und überzeugt war.

»Nun?« sagte er, »es ist also nur dieses?«

»Wie! nur dieses?«

»Ich sage, Sie wünschen nichts Anderes, als Ingénue zu heirathen?«

»Oh! Gott! ich wage es nicht einmal, an ein solches Glück zu denken.«

»Ei! wenn man Sie hört, sollte man glauben, es handle sich um eine Prinzessin von Geblüte; was ist denn im Ganzen Mademoiselle Ingénue?«

Der Fabricant fand, diese große Lobeserhebung von Mademoiselle Rétif setze die Demoiselles Réveillon ein wenig herunter.

»Was sie ist?« wiederholte Auger; »ah! Herr, es ist ein schönes, ein anbetungswürdiges Mädchen!«

»Ja, doch sie hat keine Mitgift.«

»Sie ist Millionen werth!«

»Die Sie ihr verdienen werden, mein lieber Auger.«

»Oh! ich hoffe es! oh! ich fühle hierzu die Kraft in mir, zwischen einer Liebe, wie die, welche ich für sie hege, und einem Eifer, wie der, den Sie mir für Ihre Interessen eingeflößt haben.«

»Nun wohl, mein Freund,« sprach Réveillon mit gewichtiger Miene, »vernehmen Sie, welcher Gang zu verfolgen ist.«

»Oh! ja, Herr, rathen Sie mir.«

»Einmal hat der Vater Gewalt über sein Kind, und er scheint vortrefflich für Sie gesinnt zu sein.«

»Wahrhaftig?«

»Sie müssen ihn vollends ganz auf Ihre Seite bringen.«

»Oh! das ist mein ganzes Verlangen.«

»Rétif ist empfänglich für Zuvorkommenheiten, für Aufmerksamkeiten.«

»Würde er wohl ein kleines Geschenk von mir annehmen?«

»Auf eine zarte Art gegeben, ohne Zweifel.«

»Die Liebe, die ich für seine Tochter, die Ehrfurcht, die ich für ihn hege, verleihen mir Zartheit.«

»Sie werden ihn sodann zum Essen einladen.«

»Gut!«

»Und beim Nachtische werden Sie ihm Ihr Herz eröffnen.«

»Nie werde ich das wagen.«

»Gehen Sie doch!«

»Es ist, bei meiner Ehre, wie ich sage.«

»Ta, ta, ta! . . . Endlich wenden Sie sich an Ingénue selbst, die ich günstig für Sie durch die Demoiselles Réveillon, ihre Freundinnen, stimmen werde.«

»Oh! welche Güte, Herr!« rief Auger.

Und er faltete seine Hände wie ein ganz erschütterter Mensch.

Réveillon nahm die Hände von Auger zwischen die seinigen und sprach:

»Sie verdienen diese Güte, Auger, und da Ihr Glück hiervon abhängt, so will ich, hören Sie wohl? ich will, daß Sie glücklich sein sollen!«

Auger entfernte sich voll Freude.

Réveillon hielt Wort.

Er ließ Ingénue durch seine Töchter angreifen und Rétif durch Auger.

Endlich griff er selbst an.

Die Resultate dieser so combinirten Angriffe waren, daß Rétif eine Uhr und eine Einladung zum Mittagessen von Auger annahm.

Es blieb Ingénue.

Die Demoiselles Réveillon drangen so kräftig in sie, daß Ingénue einwilligte, ihren Vater nach den Prés-Saint-Gervais zu begleiten, wo das Mahl stattfinden sollte.