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Joseph Balsamo Denkwürdigkeiten eines Arztes 1

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»Bei meiner Treue,« sagte er, »das ist eine hübsche Summe!«

»Es ist noch nicht Alles,« fuhr Nicole fort, »Man gedenkt Maison-Rouge wieder aufzubauen und Taverney zu verschönern.«

»Ich glaube es wohl.«

»Und dann bedarf das Schloß der Beaufsichtigung.«

»Ohne Zweifel.«

»Nun, das Fräulein gibt den Platz eines  . . .«

»Hausmeisters dem glücklichen Gatten von Nicole,« fuhr Gilbert mit einer Ironie fort, welche diesmal nicht genug verhehlt war, daß sich nicht das feine Ohr von Nicole darüber geärgert hätte.

Sie hielt jedoch an sich und erwiederte:

»Ist der glückliche Gatte von Nicole nicht Einer, den Sie kennen, Gilbert?«

»Wen meinen Sie denn, Nicole?«

»Hören Sie, werden Sie etwa einfältig, oder spreche ich nicht mehr Französisch?« rief das Mädchen, das nun bei diesem Spiele ungeduldig zu werden anfing.

»Ich verstehe Sie vortrefflich,« sagte Gilbert; »Sie bieten mir an, Ihr Gatte zu werden, nicht wahr, Mademoiselle Legay?«

»Ja, Herr Gilbert.«

»Und nachdem Sie reich geworden, hegen Sie solche Absichten für mich,« fügte Gilbert eiligst bei; »in der That, ich bin Ihnen sehr dankbar.«

»Wirklich?«

»Ganz gewiß.«

»Nun, so nehmen Sie dies,« sagte Nicole treuherzig.

»Ich?«

»Nicht wahr, Sie willigen ein?«

»Ich schlage es aus.«

Nicole machte einen Sprung und rief:

»Hören Sie, Sie sind ein schlimmes Herz, oder wenigstens ein schlimmer Kopf, Gilbert, und glauben Sie mir, was Sie in diesem Augenblick thun, wird Ihnen kein Glück bringen. Wenn ich Sie noch liebte und wenn ich in dem, was ich in diesem Augenblick gethan, etwas Anderes als einen Punkt der Ehre und der Rechtschaffenheit erblickte, so würden Sie mir die Seele zerreißen. Doch, Gott sei Dank, nach meinem Willen sollte man nur nicht sagen, reich geworden verachte Nicole Gilbert und gebe ihm für eine Beleidigung ein Leiden zurück. Jetzt ist Alles zwischen uns vorbei.«

Gilbert machte eine Geberde der Gleichgültigkeit.

»Was ich von Ihnen denke, können Sie wohl vermuthen,« sagte Nicole. »Ich soll mich entschließen, ich, deren Charakter Sie als eben so frei, als eben so unabhängig als den Ihrigen kennen, ich soll mich entschließen, mich hier zu begraben, während mich Paris erwartet, Paris, das meine Schaubühne sein wird, verstehen Sie? Ich soll mich entschließen, den ganzen Tag, das ganze Jahr, das ganze Leben dieses kalte, undurchdringliche Gesicht zu sehen, hinter dem sich so viele gemeine Gedanken verbergen? Das wäre ein Opfer gewesen; Sie haben es nicht begriffen, desto schlimmer für Sie. Ich sage nicht, daß Sie meinen Verlust beklagen werden, Gilbert; ich sage, daß Sie mich fürchten, daß Sie erröthen werden, mich da zu sehen, wohin mich Ihre heutige Geringschätzung geführt hat. Ich konnte wieder ehrlich werden; eine Hand fehlte mir, eine befreundete Hand, um mich am Rande eines Abgrundes zurückzuhalten, wo ich mich abwärts neige, wo ich ausgleite, wo ich zu fallen im Begriffe bin. Ich habe ausgerufen: »Helfen Sie mir! unterstützen Sie mich!« Sie haben mich zurückgestoßen, Gilbert. Ich sinke, ich falle, ich gehe unter. Gott wird Ihnen Rechenschaft für dieses Verbrechen tragen. Leben Sie wohl, Gilbert, leben Sie wohl!«

Und das stolze Mädchen wandte sich ohne Zorn, ohne Heftigkeit um, nachdem es, wie alle auserkohrene Naturen, den edlen Grund seiner Seele auf die Oberfläche hatte treten lassen.

Gilbert schloß ruhig sein Fenster und kehrte in seinen Käfig zurück, wo er die von Nicole unterbrochene Beschäftigung wieder aufnahm.

XVIII.
Abschied von Taverney

Ehe Nicole zu ihrer Gebieterin zurückkehrte, blieb sie auf der Treppe stehen, um das letzte Geschrei des Zornes, der in ihrem Innern toste, zu bewältigen.

Der Baron traf sie unbeweglich, nachdenkend, das Kinn in ihrer Hand und die Augbrauen zusammengezogen, und als er sie so schön sah, küßte er sie, so beschäftigt er auch war, wie es Herr von Richelieu in seinem dreißigsten Jahre gethan hätte.

Durch diesen Muthwillen des Barons ihrer Träumerei entzogen, ging Nicole hastig zu Andrée hinauf, die eben einen Koffer vollends schloß.

»Nun!« sagte Fräulein von Taverney, »hast Du Dir die Sache überlegt?«

»Gewiß, mein Fräulein,« antwortete Nicole mit einer sehr entschiedenen Miene.

»Du heirathest?«

»Nein, im Gegentheil.«

,Ah bah! und die große Liebe?«

»Wird nie für mich den Werth haben, den die Güte hat, mit der mich das Fräulein zu jeder Stunde überhäuft. Ich gehöre dem Fräulein und will ihm immer gehören. Ich kenne die Herrin, die ich mir gegeben, würde ich auch ebenso gut den Herrn kennen, den ich mir gäbe?«

Andrée war gerührt von dieser Offenbarung von Gefühlen, welche sie entfernt nicht bei der unbesonnenen Nicole zu finden glaubte.

Sie wußte, wie es sich von selbst versteht, nicht, daß Nicole einen »schlimmsten Fall« aus ihr machte.

Sie lächelte und war glücklich, daß sie ein menschliches Geschöpf besser fand, als sie es gehofft hatte.

»Du thust wohl daran, daß Du mir anhänglich bleibst, Nicole,« sagte sie, »ich werde es nicht vergessen. Vertraue mir Dein Schicksal, mein Kind und wenn mir irgend ein Glück zufließt, so sollst Du Deinen Theil daran haben, das verspreche ich Dir.«

»Oh! mein Fräulein, es ist entschieden, ich folge Ihnen.«

»Ohne Bedauern?«

»Blindlings.«

»Das heißt nicht antworten. Du sollst mir nicht eines Tages vorwerfen können, Du seist mir blindlings gefolgt.«

»Ich werde nur mir Vorwürfe zu machen haben, mein Fräulein.«

»Du hast Dich also mit Deinem Bräutigam verständigt?«

Nicole erröthete.

»Ich?« sagte sie.

»Ja, Du, ich habe Dich mit ihm sprechen sehen.«

Nicole biß sich auf die Lippen. Es gab ein Fenster parallel mit dem von Andrée und sie wußte wohl, daß man von diesem Fenster das von Gilbert sah.

»Es ist wahr, mein Fräulein,« antwortete Nicole.

»Und Du hast ihm gesagt? . . .«

»Ich habe ihm gesagt,« erwiederte Nicole, welche zu bemerken glaubte, daß Andrée sie ausforsche, und, durch dieses falsche Manoeuvre des Feindes zu ihrem ersten Verdacht zurückgeführt, feindlich zu antworten versuchte, »ich habe ihm gesagt, ich wolle nichts mehr von ihm.«

Es war entschieden, daß diese zwei Frauen, die eine mit der Reinheit des Diamants, die andere mit ihrer natürlichen Hinneigung zum Laster sich nie verstehen sollten.

Andrée nahm fortwährend die Bitterkeiten von Nicole für Schmeichelei.

Während dieser Zeit vervollständigte der Baron die verschiedenen Theile seines Gepäckes. Ein alter Degen, den er in Fontenoy trug, Pergamente, die sein Recht, in dem Wagen Seiner Majestät zu fahren, begründeten, eine Sammlung der Gazette und gewisse Correspondenzen bildeten den umfangreichsten Theil seiner Habe. Wie Bias trug er Alles dies unter einem Arm.

La Brie gab sich das Ansehen, als schwitzte er auf dem Wege, gebeugt unter einem beinahe leeren Koffer.

Man fand in der Allee den Herrn Gefreiten, der während aller dieser Vorbereitungen seine Flasche bis auf den letzten Tropfen geleert hatte.

Der artige Mann hatte die so feine Taille, das so runde Bein von Nicole wahrgenommen und schweifte beständig zwischen dem kleinen See und den Kastanienbäumen hin und her, um die reizende Dirne abermals zu sehen, die eben so schnell, als er sie unter dem Gebüsch erblickt, wieder verschwunden war.

Herr von Beausire, so hieß er erwähntermaßen, wurde seiner Beschauung durch den Baron entzogen, der ihn aufforderte, den Wagen zu rufen. Er sprang auf, verbeugte sich vor Herrn von Taverney, und befahl dem Kutscher mit schallender Stimme, in die Allee zu fahren.

Die Carrosse erschien. La Brie legte den Koffer mit einer unbeschreiblichen Mischung von Freude und Stolz auf die Federn.

»Ich werde also in den Carrossen des Königs fahren,« murmelte er, fortgerissen von seiner Begeisterung und im Glauben allein zu sein.

»Dahinter, mein schöner Freund,« versetzte Beausire mit einem Protectorslächeln.

»Wie! Sie nehmen La Brie mit?« sagte Andrée zu dem Baron; »und wer wird Taverney bewachen?«

»Bei Gott! dieser Taugenichts von einem Philosophen«

»Gilbert?«

»Allerdings, hat er nicht ein Gewehr?«

»Aber womit wird er sich nähren?«

»Mit seiner Flinte, und dabei wird er gut gefüttert sein, sei unbesorgt; an Drosseln und Amseln fehlt es in Taverney nicht.«

Andrée schaute Nicole an, diese lachte.

»So beklagst Du ihn, böses Herz?« sagte Andrée.

«Oh! er ist sehr geschickt, mein Fräulein,« entgegnete Nicole, »seien Sie ruhig, er wird nicht Hungers sterben.«

»Man muß ihm ein paar Louis d’or zurücklassen,« sagte Andrée zu dem Baron

»Um ihn zu verderben? Gott behüte mich, er ist schon zu lasterhaft.«

»Nein, damit er leben kann!«

»Man schickt ihm etwas, wenn er schreibt.«

»Bah!« sagte Nicole, »glauben Sie mir, er wird nicht schreiben, mein Fräulein.«

»Gleichviel,« versetzte Andrée, »laß ihm drei oder vier Pistolen zurück.«

»Er wird sie nicht annehmen.«

»Er wird sie nicht annehmen? er ist also sehr stolz, Dein Herr Gilbert?«

»Oh! mein Fräulein, es ist nicht mehr der meine, Gott sei Dank.«

»Vorwärts, vorwärts,« sagte Taverney um allen diesen Einzelheiten, deren seine Selbstsucht überdrüßig war, ein Ende zu machen, »vorwärts, vorwärts, zum Teufel mit Herrn Gilbert! der Wagen erwartet uns, steigen wir ein, meine Tochter«

Andrée erwiederte nichts, sie nahm mit dem Blicke von dem kleinen Schlosse Abschied und stieg in die schwere, plumpe Carrosse.

Herr von Taverney nahm seinen Platz neben ihr; La Brie, immer noch in seine prächtige Livree gekleidet, und Nicole, welche Gilbert nie gekannt zu haben schien, setzten sich auf den Bock. Der Kutscher nahm eines von den Pferden als Postillon zwischen die Beine.

 

»Doch wo sitzt der Herr Gefreite?« rief Taverney.

»Zu Pferde, Herr Baron, zu Pferde,« antwortete Beausire und blinzelte dabei Nicole an, welche vor Vergnügen erröthete, daß sie so schnell einen plumpen Bauern durch einen zierlichen Cavalier ersetzt hatte.

Bald wurde der Wagen unter der Anstrengung von vier kräftigen Pferden erschüttert, und die Bäume der Allee, dieser Andrée so wohlbekannten Allee, fingen an auf beiden Seiten der Carrosse hinzugleiten und einer nach dem andern zu verschwinden, traurig unter dem Ostwinde gebeugt, als wollten sie den Gebietern, die sie verließen, ein letztes Lebewohl sagen. Man gelangte zum Thore.

Gilbert hatte sich gerade, unbeweglich an dieses Thor gestellt. Den Hut in der Hand, schaute er nicht mehr und sah dennoch Andrée.

Andrée suchte, auf die andere Seite des Schlages geneigt, so lange als möglich ihr liebes Haus zu sehen.

»Haltet ein wenig,« rief Herr von Taverney dem Postillon zu. Dieser hielt seine Pferde an.

»He da, Herr Taugenichts,« sagte der Baron zu Gilbert, »Sie werden sich sehr glücklich fühlen; Sie sind nun allein, wie es ein wahrer Philosoph sein muß  . . . nichts zu thun, keinen Zank auszuhalten. Seien Sie wenigstens bemüht, daß kein Feuer entsteht, während Sie schlafen, und sorgen Sie für Mahon.«

Gilbert verbeugte sich ohne zu antworten. Es war ihm, als lastete der Blick von Nicole mit einem unerträglichen Gewichte auf ihm; er befürchtete, den triumphirenden, höhnischen Blick des Mädchens zu sehen, und er befürchtete dies, wie man nur die Verletzung eines glühenden Eisens fürchten kann.

»Vorwärts !« rief Herr von Taverney.

Nicole hatte nicht gelacht, wie es Gilbert befürchtet; es bedurfte sogar bei ihr mehr als ihrer gewöhnlichen Kraft, mehr als ihres persönlichen Muthes, um nicht laut den armen Jungen zu beklagen, den man ohne Brod, ohne Zukunft, ohne Trost zurückließ; sie mußte Herrn von Beausire anschauen, der auf seinem tänzelnden Pferde so vortrefflich aussah. Da aber Nicole Herrn von Beausire anschaute, so konnte sie nicht sehen, wie Gilbert Andrée mit den Augen verschlang.

Andrée sah nichts durch ihre von Thränen befeuchteten Augen, als das Haus, wo sie geboren und ihre Mutter gestorben war.

Der Wagen verschwand. Gilbert, einen Augenblick vorher bereits so wenig für die Reisenden, fing an gar nichts mehr für sie zu sein.

Taverney, Andrée. Nicole und La Brie traten in dem Augenblick, wo sie das Thor des Schlosses hinter sich ließen, in eine neue Welt.

Jedes hatte seinen Gedanken.

Der Baron berechnete, daß man ihm in Bar-le-Duc leicht fünf- bis sechstausend Livres auf den vergoldeten Service von Balsamo leihen würde.

Andrée sprach ganz leise ein kleines Gebet, welches sie ihre Mutter gelehrt hatte, um den Dämon des Stolzes und der Eitelkeit von ihr zu entfernen.

Nicole schloß ihr Halstuch, das der Wind zu wenig nach dem Gefallen von Herrn von Beausire in Unordnung brachte.

La Brie zählte in der Tiefe seiner Tasche die zehn Louis d’or der Königin und die zwei Louis d’or von Balsamo.

Herr von Beausire galoppirte.

Gilbert schloß das große Thor von Taverney, dessen Flügel wie gewöhnlich, in Ermanglung von Oel, ächzten.

Hierauf lief er in seine kleine Stube und zog seine eichene Commode vor, hinter der er ein Päckchen bereit fand. Er band dieses Päckchen, das in einer Serviette eingeschlossen war, an das Ende seines Stockes von Cornelkirschenholz. Dann deckte er sein Gurtbett auf, dessen Hauptbestandthell eine Heumatratze war, die er ausleerte. Seine Hände trafen bald ein zusammengefaltetes Papier, dessen er sich bemächtigte. Dieses Papier enthielt einen glatten, glänzenden Sechs-Livres-Thaler. Dies waren die Ersparnisse von Gilbert seit vielleicht drei bis vier Jahren.

Er öffnete das Papier, schaute den Thaler an, um sich zu überzeugen, daß er sich nicht verwandelt hatte, und steckte ihn, immer noch beschützt durch sein Papier, in die Hosentasche.

Mahon heulte und sprang in der ganzen Länge seiner Kette; das arme Thier stöhnte, daß es sich so nach und nach von allen seinen Freunden verlassen sehen mußte, denn mit seinem bewunderungswürdigen Instinkte errieth es, daß sich auch Gilbert von ihm trennen würde.

Es heulte also immer stärker.

»Schweig,« rief ihm Gilbert zu, »schweig, Mahon!«

Dann fügte er, wie über die Parallele lächelnd, die sich seinem Geiste bot, bei:

»Hat man mich nicht wie einen Hund verlassen? Warum sollte ich Dich nicht wie einen Menschen verlassen?«

Nach kurzem Nachdenken fuhr er fort:

»Aber man ließ mich wenigstens frei, frei, meinen Unterhalt zu suchen, wie ich es verstünde. Gut, es sei, Mahon, ich werde für dich thun, was man für mich gethan hat, nicht mehr, nicht minder.«

Und er lief nach der Nische und machte die Kette von Mahon los.

»Nun bist du frei,« sagte er, »suche deinen Unterhalt, wie du es verstehst.«

Mahon sprang gegen das Haus, dessen Thüren er verschlossen fand; dann lief er nach den Ruinen und Gilbert sah ihn, in dem Gemäuer verschwinden.

»Gut« sagte er, »nun wollen wir sehen, wer mehr Instinkt hat, der Hund oder der Mensch«

Hienach entfernte sich Gilbert durch das kleine Thor, schloß dieses doppelt und warf den Schlüssel über die Mauer bis in den kleinen See, mit der Geschicklichkeit, welche die Bauern im Schleudern der Steine besitzen.

Da indessen die Natur, eintönig in der Erzeugung der Gefühle, wechselreich in ihrer Offenbarung ist, so empfand Gilbert, als er Taverney verließ, etwas dem ähnlich, was Andrée empfunden hatte. Nur war es bei Andrée das Beweinen einer vergangenen Zeit, bei Gilbert die Hoffnung auf eine bessere Zukunft.

»Lebe wohl,« sagte er sich umwendend, um zum letzten Male das kleine Schloß zu sehen, das man verloren in dem Blätterwerk der Sycomoren und in den Blüthen der Bohnenbäume erblickte; »lebe wohl, Haus, wo ich so viel gelitten, wo mich Jeder verabscheute, wo mir Jeder das Brod mit der Behauptung, ich stehle es, zuschleuderte, lebe wohl und sei verflucht. Mein Herz hüpft vor Freude und fühlt sich frei, seitdem mich deine Mauern nicht mehr umschließen, lebe wohl, Kerker, Hölle, Tyrannennest, ich scheide für immer von dir!«

Und nach dieser Verwünschung, welche vielleicht minder poetisch sein mag, aber nicht weniger bezeichnend ist, als so viele andere, setzte Gilbert an, um dem Wagen nachzulaufen, dessen entferntes Geräusch noch in der Luft erscholl.

XIX.
Der Thaler von Gilbert

Nach einer Stunde unbändigen Laufes stieß Gilbert einen Freudenschrei aus; er hatte auf eine Viertelslieue vor sich den Wagen des Barons erblickt, der im Schritt einen Berg hinan fuhr.

Gilbert fühlte jetzt in seinem Innern eine wahre Regung des Stolzes, denn er sagte sich, einzig und allein mit dm Mitteln seiner Jugend, seiner Kraft und seines Verstandes werde er in das Gleichgewicht mit den Mitteln des Reichthums, der Macht und der Aristokratie treten.

Nun hätte Herr von Taverney Gilbert einen Philosoph nennen können, wenn er ihn auf der Straße gesehen, seinen Stock in der Hand, sein dünnleibiges Päckchen an einem Knopfloch befestigt, wie er rasch einherlief, über Gräben und Böschungen sprang, um Boden zu gewinnen, und auf jeder Steige anhielt, als wollte er verächtlich zu den Pferden sagen:

»Ihr geht mir nicht schnell genug, und ich bin genöthigt, auf euch zu warten.«

Philosoph! O ja, gewiß, er war es damals, wenn man Philosophie Verachtung jedes Genusses, jeder Behaglichkeit nennt. Sicherlich war er nicht an ein weichliches Leben gewöhnt, aber wie viele Menschen verweichlicht nicht die Liebe!

Man muß gestehen, er bot ein schönes Schauspiel, ein Schauspiel würdig Gottes, des Vaters der thatkräftigen und verständigen Geschöpfe, dieser Mensch, wie er ganz bestaubt und rothglühend ein paar Stunden einherlief , bis er den Wagen beinahe eingeholt hatte, und dann voll Lust anhielt, als die Pferde nicht mehr konnten. Gilbert hätte an diesem Tage Jedem Bewunderung einflößen müssen, der ihm, wie wir ihm folgen, mit dem Geiste zu folgen im Stande gewesen wäre; und wer weiß sogar, ob nicht die stolze Andrée, wenn sie ihn gesehen, gerührt worden wäre, und ob nicht die Geringschätzung, die sie in Beziehung auf sein träges Wesen kundgegeben, sich in Achtung vor seiner Energie verwandelt hätte?

So ging der erste Tag vorüber. Der Baron blieb eine Stunde in Bar-le-Duc, wodurch Gilbert die erforderliche Zeit gewann, um ihn nicht nur einzuholen, sondern auch, um ihm zuvorzukommen. Gilbert ging um die Stadt, denn er hatte gehört, daß man Befehl gegeben, bei einem Goldschmiede anzuhalten; als er sodann den Wagen kommen sah, warf er sich in ein Gebüsch, und sobald die Carrosse vorüber war, folgte er ihr wieder wie vorher.

Gegen Abend holte der Baron die Wagen der Dauphine in dem Dörfchen Brillou ein, dessen Bewohner, auf einem Hügel zusammengedrängt, Freudengeschrei und Glückwünsche hören ließen.

Gilbert hatte den ganzen Tag nichts, als ein wenig Brod, das er von Taverney mitgenommen, gegessen, dagegen hatte er aber nach Belieben Wasser aus einem herrlichen Bache getrunken, dessen Lauf so rein, so frisch, so mit Kresse und gelben Nympheen besetzt war, daß der Wagen auf das Verlangen von Andrée anhielt, diese selbst ausstieg und ein Glas voll von dem Wasser in der goldenen Schale, dem einzigen Stücke schöpfte, das der Baron auf die Bitte seiner Tochter behalten hatte.

Hinter einer von den Ulmen. an der Straße verborgen, hatte Gilbert Alles dies gesehen.

Sobald sich die Reisenden entfernt, kam Gilbert auf dieselbe Stelle, setzte den Fuß auf die kleine Erderhöhung, auf welche er Andrée hatte steigen sehen, und trank Wasser mit der Hand, wie Diogenes, aus denselben Wellen, aus denen Fräulein von Taverney ihren Durst gestillt hatte.

Gut gestärkt setzte er sodann seinen Marsch wieder fort.

Nur Eines beunruhigte Gilbert, er hatte um sein Leben gern gewußt, ob die Dauphine unter Wegs Nachtlager halten würde. Blieb die Dauphine über Nacht, wie sich voraussetzen ließ, denn bei der Müdigkeit, über die sie sich in Taverney beklagt hatte, bedurfte sie sicherlich der Ruhe, blieb die Dauphine über Nacht, sagen wir, so war Gilbert gerettet. Man würde ohne Zweifel in diesem Fall in Saint-Dizier anhalten. Zwei Stunden Schlaf in einer Scheune würden seinen Beinen, welche steif zu werden anfingen, genügen, um wieder Elasticität zu erlangen; nach Ablauf dieser zwei Stunden könnte er sich abermals auf den Weg begeben, und während der Nacht müßte er, mit kurzen Schritten marschirend, leicht einen Vorsprung von fünf bis sechs Lieues vor ihnen gewinnen. Man marschirt so gut mit achtzehn Jahren in einer schönen Nacht im Monat Mai!

Es kam der Abend und umhüllte den Horizont mit seinem Schatten, der sich immer mehr näherte, bis dieser Schatten den Weg erreicht hatte, auf welchem Gilbert wanderte. Bald sah er nichts mehr von dem Wagen, als die große Laterne, welche auf der linken Seite der Carrosse angebracht war, und deren Reflex auf der Straße aussah, wie ein weißes, beständig am Rande des Weges erschrocken hinlaufendes Gespenst.

Nach dem Abend kam die Nacht. Man hatte zwölf Lieues zurückgelegt und gelangte nach Combles; die Equipagen schienen einen Augenblick anzuhalten. Gilbert glaubte, der Himmel sei entschieden für ihn. Er näherte sich, um die Stimme von Andrée zu hören. Die Carrosse stand still; er schlüpfte in die Vertiefung eines großen Thores. Er sah Andrée bei dem Schimmer der Fackeln und hörte sie fragen, wie viel Uhr es sei. Eine Stimme antwortete: »Eilf Uhr.« In diesem Augenblick war Gilbert nicht feig, und er hätte mit Verachtung das Anerbieten, in einen Wagen zu steigen, zurückgewiesen.

Dies war so, weil vor den glühenden Augen seiner Einbildungskraft Versailles golden, glänzend erschien; Versailles, die Stadt der Adeligen und der Könige. Sodann jenseits Versailles Paris, schwarz, düster, ungeheuer; Paris, die Stadt des Volkes.

Und für diese Visionen, welche seinen Geist ergötzten und erquickten, hätte Gilbert nicht alles Gold von Peru genommen.

Zwei Dinge entzogen ihn seiner Strafe, das Geräusch, das die Wagen machten, als sie wieder aufbrachen, und ein heftiger Stoß, den er sich an einem auf der Straße stehen gebliebenen Pfluge gab.

Auch fing sein Magen an über Hunger zu schreien.

»Zum Glück,« sagte Gilbert zu sich selbst, »zum Glück habe ich Geld, bin ich reich.«

Man weiß, daß Gilbert einen Thaler besaß.

Die Wagen rollten bis Mitternacht fort.

Um Mitternacht kam man nach Saint-Dizier; hier, hoffte Gilbert, würde man Nachtlager halten.

Gilbert hatte sechzehn Lieues in zwölf Stunden zurückgelegt.

Er setzte sich auf den Rand des Grabens.

Doch in Saint-Dizier spannte man nur um; Gilbert hörte das Geräusch der Schellen, die sich abermals entfernten. Die erhabenen Reisenden hatten nur mitten unter Fackeln und Blumen eine kleine Erfrischung zu sich genommen.

 

Gilbert bedurfte seines ganzen Muthes.

Er machte sich wieder auf seine Beine mit einer Willensenergie, welche ihn vergessen ließ, daß eben diese Beine zehn Minuten vorher unter ihm zu brechen drohten.

»Gut!« sagte er, »immer vorwärts! doch ich wette sogleich auch in Saint-Dizier anhalten, ich kaufe mir Brod und ein Stück Speck, ich trinke ein Glas Wein, gebe dafür fünf Sous aus und habe mich dadurch besser gestärkt, als die Gebieter.«

Gilbert sprach das Wort Gebieter, das wir zu diesem Behufe unterstreichen, mit seiner gewöhnlichen Emphase.

Gilbert ging, wie er es sich gelobt, nach Saint Dizier hinein, wo man, da die Escorte durchgezogen war, die Läden und Thüren der Häuser wieder zu schließen anfing.

Unser Philosoph erblickte ein Wirthshaus von gutem Aeußerem, geputzte Mägde, Knechte in Sonntagskleidern und mit Sträußen in den Knopflöchern, obgleich es noch sehr früh am Morgen war; er gewahrte auf großen Fayenceplatten mit Blumen Geflügel, von denen die Hungerigen des Gefolges einen starken Zehnten erhoben hatten.

Er trat entschlossen in das vornehmste Wirthshaus, man legte eben die letzten Stangen an die Läden, er bückte sich, um in die Küche zu schlüpfen.

Die Wirthin war da, überwachte Alles und zählte ihre Einnahme.

»Verzeihen Sie, Madame,« sagte Gilbert, »geben Sie mir, wenn es Ihnen beliebt, ein Stück Brod und Schinken.«,

»Es gibt keinen Schinken, mein Freund,« erwiederte die Wirthin, »wollen Sie Huhn?«

»Nein; ich habe Schinken verlangt, weil ich Schinken zu speisen wünsche; ich liebe das Huhn nicht.«

»Das ist ärgerlich, mein kleiner Mann,« versetzte die Wirthin, »denn es gibt nichts Anderes, Doch glauben Sie mir,« fügte sie lächelnd bei, »das Huhn wird nicht theurer für Sie sein, als Schinken; nehmen Sie eines zur Hälfte, nehmen Sie ein ganzes für zehn Sous, dann haben Sie Ihren Mundvorrath für morgen. Wir dachten, Ihre Königliche Hoheit würde bei dem Herrn Amtmann anhalten und wir konnten unsere Mundvorräthe an ihre Equipagen verkaufen, doch sie ist nur durchgefahren, und somit sind die Speisen verloren.«

Man könnte glauben, Gilbert habe, da sich eine so schöne Gelegenheit und eine so gute Wirthin zeigte, diese einzige Gelegenheit, die sich ihm bot, ein gutes Mahl zu machen, nicht versäumen wollen, doch das hieße seinen Charakter völlig verkennen.

»Ich danke,« sagte er, »ich begnüge mich mit weniger, ich bin weder ein Prinz, noch ein Lackei.«

»Dann schenke ich es Ihnen, mein kleiner Artaban, und Gott geleite Sie!« sagte die gute Frau.

»Ich bin auch kein Bettler, gute Frau,« sprach Gilbert gedemüthigt. »Ich kaufe und bezahle.«

Und um die Wirkung mit den Worten zu verbinden, versenkte Gilbert majestätisch seine Hand in seine Hosentasche, wo auch der Arm bis zum Ellenbogen verschwand. Doch er mochte immerhin erbleichend in dieser weiten Tasche suchen und wühlen, er zog nur das Papier heraus, in welchem der Sechs-Livres-Thaler enthalten gewesen war. Hin und hergeworfen hatte der Thaler zuerst seine alte, abgenutzte Umhüllung, sodann die mürbe Leinwand der Tasche durchbrochen, war in die Hose geschlüpft und von da durch das aufgeschnallte Knieband hinausgefallen.

Gilbert hatte nämlich seine Kniebänder aufgeschnallt, um seinen Beinen Elastizität zu geben.

Der Thaler war auf der Straße, ohne Zweifel am Rande des Baches, dessen Wellen Gilbert so sehr entzückten.

Das arme Kind hatte mit sechs Franken ein Glas Wasser bezahlt, das es mit seiner hohlen Hand geschöpft. Als Diogenes über das Unnöthige der hölzernen Näpfe philosophirte, hatte er wenigstens weder Taschen zu durchlöchern, noch Sechs-Livres-Thaler zu verlieren.

Die Blässe, das Zittern der Scham von Gilbert bewegten die gute Frau. Viele hätten triumphirt, einen Stolzen bestraft sehen zu können, sie aber litt unter dem auf den verstörten Zügen des jungen Mannes so gut ausgeprägten Leiden.

»Auf, mein armes Kind,« sagte sie, »speisen Sie zu Nacht und schlafen Sie hier, morgen mögen Sie sodann, wenn Sie durchaus weiter reisen müssen, Ihren Marsch fortsetzen.«

»Oh! ja, ja, ich muß,« sagte Gilbert, »ich muß, nicht morgen, sondern auf der Stelle.«

Uno er nahm wieder sein Päckchen, ohne mehr hören zu wollen, und stürzte aus dem Hause, um in der Finsterniß seine Scham und seinen Schmerz zu verbergen.

Der Laden schloß sich wieder. Das letzte Licht erlosch in dem Städtchen, selbst die Hunde hörten, durch den Tag ermüdet, auf zu bellen.

Gilbert blieb allein, sehr allein auf der Welt; denn Niemand ist mehr vereinzelt auf der Erde, als der Mensch, der so eben sich von seinem letzten Thaler getrennt hat, besonders wenn dieser letzte Thaler der einzige war, den er je besessen! Die Nacht war dunkel um ihn her; was thun? Er zögerte. Zurückkehren, um seinen Thaler zu suchen, hieß sich vor Allem einer sehr zweifelhaften Nachforschung hingeben, und dann trennte ihn diese Nachforschung für immer, oder wenigstens für lange Zeit von den Wagen, die er nicht mehr einholen konnte. Er beschloß, seinen Lauf fortzusetzen und begab sich wieder aus den Weg; doch kaum hatte er eine Stunde zurückgelegt, als ihn der einen Augenblick durch das moralische Leiden beschwichtigte, oder vielmehr eingeschläferte Hunger auf’s Neue packte. Er erwachte schmerzlicher als je, sobald sein rascher Lauf das Blut des Unglücklichen zu peitschen wiederangefangen hatte.

Zu gleicher Zeit mit dem Hunger begann die Müdigkeit, seine Gefährtin, sich der Glieder von Gilbert zu bemächtigen. Mit einer unerhörten Anstrengung holte er noch einmal die Carrossen ein, doch es war, als fände eine Verschwörung gegen ihn statt. Die Wagen hielten nur an, um umzuspannen, und spannten so rasch um, daß der arme Reisende auf der ersten Station nur fünf Minuten Ruhe gewann.

Er setzte indessen seinen Marsch wieder fort. Der Tag fing an am Horizont hervorzubrechen. Die Sonne erschien über einem großen Streifen düsterer Dünste im ganzen Glanze und in der ganzen Majestät eines Herrschers; sie versprach einen von den glühenden Maitagen, welche dem Sommer um zwei Monate vorangehen. Wie sollte Gilbert die Hitze des Mittags ertragen können?

Gilbert hatte einen Augenblick den für seine Eitelkeit tröstlichen Gedanken, die Pferde, die Menschen und selbst Gott seien gegen ihn verbunden. Aber wie Ajax zeigte er dem Himmel die Faust, und wenn er nicht, wie er sagte: »Ich werde entkommen, trotz der Götter,« so war dies der Fall, weil er besser seinen Contrat social, als seine Odyssee kannte.

Es kam, wie Gilbert vorhergesehen, ein Augenblick, wo er die Unzulänglichkeit seiner Kräfte und die Mißlichkeit seiner Lage erkannte. Es war ein furchtbarer Augenblick, der Augenblick dieses Kampfes des Stolzes gegen die Ohnmacht; einen Moment verdoppelte sich die Energie von Gilbert durch die ganze Kraft seiner Verzweiflung. Durch einen letzten Aufschwung näherte er sich wieder den Wagen, die er aus dem Gesichte verloren hatte, und sah sie durch eine Staubwolke, der das Blut, mit dem seine Augen unterlaufen waren, eine phantastische Farbe verlieh; ihr Rollen erscholl in seinen Ohren, vermischt mit dem Klingen seiner Arterien. Den Mund offen, den Blick starr, die Haare durch den Schweiß an die Stirne geklebt, sah er aus wie ein geschickter Automat, der ungefähr die Bewegungen des Menschen macht, aber mit mehr Starrheit und Beharrlichkeit. Seit dem vorhergehenden Tage hatte er zwanzig bis zwei und zwanzig Lieues zurückgelegt; endlich kam der Augenblick, wo ihn seine gelahmten Beine länger zu tragen sich weigerten; seine Augen sahen nicht mehr, seine Ohren hörten nicht mehr; es war ihm, als würde die Erde beweglich und drehte sich um sich selbst; er wollte schreien und fand keine Stimme mehr, er wollte sich aufrecht halten, denn er fühlte, daß er zu fallen im Begriffe war, und schlug die Luft wie ein Wahnsinniger mit seinen Armen.

Endlich durchbrach die Stimme seine Kehle durch ein Wuthgeschrei, und er brüllte, sich gegen Paris wendend, oder vielmehr in der Richtung, wo er glaubte, daß Paris sein müßte, gegen die Besieger seines Muthes und seiner Kräfte eine Reihe furchtbarer Verwünschungen. Dann faßte er sich mit vollen Händen an seinen Haaren, drehte sich einige Male um sich selbst und fiel auf die Landstraße, mit dem Bewußtsein und folglich mit dem Tröste, wie ein Held des Alterthums bis zum letzten Augenblick gekämpft zu haben.