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»Was für ein sonderbarer Mann sind Sie doch, mein Herr!« rief Frau von Marande, »und wer, wird mir das Geheimniß Ihrer seltsamen Zuneigung für mich sagen?«

»Belästigt sie Sie?«« fragte Herr von Marande mit einem Lächeln, das nicht ganz von Melancholie frei war.

»Oh! Nein, Gott sei Dank! . . . nur läßt sie mich befürchten, daß . . . «

»Nun, was läßt sie Sie befürchten ?«

»Daß an einem schönen Tage . . . Doch nein, es ist unnöthig, daß ich Ihnen sage, was mir durch den Geist, oder vielmehr durch das Herz geht.«

»Reden Sie, Madame, wenn das, was Sie zu sagen haben, einem Freunde gesagt werden kann.«

»Nein« das hätte beinahe das Ansehen einer Erklärung.«

Herr von Marande schaute seine Frau fest an.

»Aber, mein Herr,« sagte sie, »ist Ihnen nicht auch manchmal Eines eingefallen?«

Herr von Marande schaute fortwährend seine Frau an.

»Was? Lassen Sie hören, Madame!»fragte er, nachdem er einen Augenblick geschwiegen hatte.

»Daß sich . . . so lächerlich das sein mag, eine Frau in ihren Mann verlieben kann.«

Eine Wolke zog rasch über das Gesicht von Herrn von Marande; er schloß die Augen, und die Dunkelheit bildete sich, so zu sagen, auf seiner Physiognomi.

Alsdann erwiderte er den Kopf schüttelnd und als erwachte er aus einem Traume:

»Ja, so lächerlich es sein mag, das kann geschehen. Bitten Sie Gott, Madame, daß ein solches Phänomen nicht zwischen uns eintrete!«

Und die Stirne faltend, fügte er mit leiser Stimme bei:

»Das wäre ein zu großes Unglück für Sie und besonders für mich!«

Dann stand er auf und mochte ein paar Gänge im Zimmer, wobei er sich bemühte, in dem Theile zu bleiben, der am Kopfe des Bettes von Frau von Marande war, und wohin ihm daher die Blicke von dieser nicht folgen konnten.

Aber, Dank sei es einem in ihrer Nähe befindlichen Spiegel, Lydie bemerkte, daß sich ihr Gatte die Stirne und vielleicht sogar die Augen mit einem Taschentuche abwischte.

Ohne Zweifel entging es Herrn von Marande nicht, seine Aufregung, was auch die Ursache davon sein mochte, verrathe ihn in den Augen seiner Frau; denn, sein Gesicht erheiternd und seine Lippen und seine Augen zum Lächeln zwingend, setzte er sich wieder in den ein paar Minuten leer gebliebenen Lehnstuhl.

Sodann, nachdem er noch einen Augenblick geschwiegen hatte, sagte er mit seiner sanftesten Stimme:

»Nun« Madame« nachdem ich die Ehre gehabt habe, Ihnen meine Meinung über Monseigneur Coletti und Herrn Jean Robert zu sagen, habe ich Sie nach um die Ihrige über Herrn Lorédan von Valgeneuse zu bitten.«

Frau von Marande schaute ihren Gatten mit einem gewissen Erstaunen an.

»Mein Herr,« antwortete sie, »meine Meinung über ihn ist die der ganzen Welt.«

»So sagen Sie mir die der ganzen Welt, Madame.«

»Herr von Valgeneuse . . . «

»Sie schwieg, verlegen, weiter zu gehen.

»Verzeihen Sie, mein Herr,« sagte sie, »Sie scheinen mir Vorurtheile gegen Herrn von Valgeneuse zu haben.«

»Vorurtheile, ich? Gott behüte mich, daß ich Vorurtheile gegen Herrn von Valgeneuse habe! Nein, ich höre nur, was man sagt . . . Sie wissen, nicht wahr, was man von Herrn von Valgeneuse sagt?«

»Er ist reich, er hat Successe, er ist bei Hof sehr wohl gelitten: das ist mehr als es braucht, daß man viel Schlimmes von ihm sagt.«

»Wissen Sie, was man von ihm Schlimmes sagt.?«

»Wie ich das Schlimme weiß, mein Herr; sehr mittelmäßig.«

»Nun, so hören Sie, was man sagt . . . Sprechen wir zuerst von seinem Reichthum.«

»Er ist unbestritten.«

»Gewiß, in her Thatsache seiner Existenz; doch bestreitbar, wie es scheint, in der Art, wie er ihn erlangt hat.«

»Hat nicht der Vater von Herrn von Valgeneuse das Vermögen eines älteren Bruders geerbt?«

»Ja; nur ist über diese Erbschaft eine düstere Geschichte im Umlaufe; es handelt sich um etwas wie um ein Testament, das beim Tode dieses älteren Bruders verschwunden wäre, der in dem Augenblicke, wo man es am wenigsten erwartete, von einem Schlage getroffen worden sein soll. Es war ein Sohn da. . . . Haben Sie hiervon sprechen hören, Madame ?«

»Unbestimmt: die Gesellschaft, die mein Vater sah, war nicht die von Herrn von Valgeneuse.«

»Ihr Vater war ein redlicher Mann, Madame, und es gibt ein Sprichwort über die Gesellschaft, die man sieht. Nun wohl, es war ein Sohn da, ein reizender junger Mann, den die Erben, die, welche man anklagt, – sage ich, welche man anklagt, so handelt es sich, wohlverstanden, nicht um eine Anklage vor dem Assisenhofe, – den die Erben, aus dem Hause seines Vaters gejagt haben; denn er war notorisch der Sohn des Marquis von Valgeneuse, der Neffe des Grafen und folglich der Vetter von Herrn Lorédan und Fräulein Susanne. An eine groß-artige Existenz gewöhnt, soll sich dieser junge Mann, der sich plötzlich von allen Mitteln entblößt sah, sodann erschossen haben.«

»Das ist in der That eine düstere Geschichte!«

»Ja, die aber, statt die Familie zu verdüstern, dieselbe sehr erfreut hat. Lebte der junge Mann, so konnte sich jeden Augenblick das Testament wiederfinden und der wahre Erbe mit diesem Testamente bewaffnet wieder erscheinen; war aber der Erbe todt, so gab es keine Chance, daß das Testament allein wiedererschien. Dies, was den Reichthum betrifft. – Was die Successe von Herrn von Valgeneuse in der Welt betrifft, so nehme ich an, Sie verstehen unter dem Worte Succeß Liebesglück.«

»Nennt man das nicht so?« sagte lächelnd Frau von Marande.

»Nun, was seine Successe betrifft, so scheint es, daß sie sich auf Frauen von der großen Welt beschränken, und daß, wenn er sich an das wendet, was man Mädchen aus dem Volke nennt, trotz des edelmüthigen Beistands, den ihm bei solchen Gelegenheiten seine Schwester Fräulein Susanne von Valgeneuse leistet, der junge Mann zuweilen genöthigt ist, Gewalt anzuwenden.«

»Ah! mein Herr, was höre ich da?«

»Etwas was Ihnen Herr Coletti wahrscheinlich besser sagen würde, als ich; denn ist Herr von Valgeneuse gut bei Hofe, so ist dies so durch die Kirche.«

»Und Sie sagen,« fragte Frau von Marande, welche ein gewisses Interesse an diesen, wahren oder falschen, Anschuldigungen nahm; »und Sie sagen, Fräulein Susanne unterstütze ihren Bruder bei seinen Liebesunternehmungen?«

»Ah! das, das ist bekannt, und wahrhaftig, die Personen, welche die leidenschaftliche Freundschaft kennen, welche Fräulein Susanne für ihren Bruder hegt, tragen ihr Rechnung dafür. Fräulein Susanne unterscheidet sich dadurch von ihrem Bruder, daß sie das Familienleben liebt, und daß sie alle Vergnügungen, beinahe alle wenigstens, in ihrem Hause sucht.«

»Ah! mein Herr, und Sie glauben an solche Verleumdungen?«

»Ich, Madame, ich glaube an nichts, außer an den Curs der Rente, und ich muß diesen noch im Moniteur gedruckt sehen. Doch das, an was ich, zum Beispiel, glaube, ah! das ist an die Geckenhaftigkeit und an die Indiskretion von Herrn von Valgeneuse. Er ist wie die Schnecke in dieser Hinsicht: er beschmutzt die Reputationem die er nicht frißt.«

»Ah! Sie lieben Herrn von Valgeneuse nicht mein Herr!« sagte Frau von Marande.

»Nein, ich gestehe es . . . Sollten Sie ihn zufällig lieben, Madame?«

»Ich! Sie fragen mich, ob ich Herrn Lorédan liebe?«

»Mein Gott! ich frage Sie das, wie ich Sie etwas Anderes fragen würde; nur habe ich mich eines schlechten Ausdruckes bedient; ich weiß wohl, daß Sie Niemand im absoluten Sinne des Wortes lieben. Ich hätte Sie fragen müssen: »»Gefällt Ihnen Herr Lorédan?«

»Er ist mir gleichgültig?«

»Wahrhaftig, Madame?«

»Oh! ich betheure es Ihnen; nur möchte ich eben so wenig ihm, als einem Andern ein Unglück widerfahren sehen, das er nicht verdient hätte.«

»Ei! wer kann solche Dinge wünschen? Ich versichere Ihnen auch, Madame« daß – wenigstens von meiner Seite, – Herrn von Valgeneuse nur verdientes Unglück widerfahren wird.«

»Welches Unglück kann denn Herr von Valgeneuse verdienen, und wie könnte ihn dieses Unglück von Ihnen aus treffen?«

»Ei! Madame, das ist ganz einfach! So, zum Beispiel, hat Ihnen heute Nacht Herr von Valgeneuse sehr beharrlich den Hof gemacht . . . «

»Mir?«

»Ihnen, ja, Madame . . . es war nichts Ungebührliches dabei, es geschah bei Ihnen, und man konnte diese Bestrebungen von Herrn von Valgeneuse, unablässig auf Ihrer Ferse zu sein, als ein . . . vielleicht übertriebenes, jedoch entschuldbares Zeichen von Höflichkeit gegen seine Wirthin betrachten. Sie gehen indessen, wie Sie wohl begreifen? noch zu andern Soiréen als den Ihrigen; Sie werden Herrn von Valgeneuse in der Welt begegnen: nun wohl, wenn er nur in acht Soiréen anderswo thut, was er hier gethan hat, so sind Sie eine kompromittierte Frau. Ei! mein Gott, ich will Sie nicht erschrecken, Madame; doch an dem Tage, wo Sie eine kompromittierte Frau sein werden, ist Herr von Valgeneuse ein todter Mann!«

Frau von Marande stieß einen Schrei aus.

»Ah! mein Herr,« sagte sie, »ein todter Mann meinetwegen! getödtet für mich! das wird der Gewissensbiß meines ganzen Lebens sein.«

»Ei! wer sagt Ihnen denn, daß ich Herrn Lorédan für Sie und Ihretwegen tödten würde?«

»Sie selbst, mein Herr.«

»Ich habe nicht ein Wort hiervon gesagt. Tödtete ich Herrn Lorédan für Sie oder Ihretwegen, so wären Sie noch vielmehr nach als vor seinem Tode kompromittiert; nein, ich würde ihn tödten wegen des Preßgesetzes oder wegen der letzten Revue der Nationalgarde, wie ich Herrn von Bedmar getödtet habe.«

»Herrn von Bedmar?« rief Lydie furchtbar erbleichend.

»Nun wohl,« fuhr Herr von Marande fort, »hat man je erfahren , daß es für Sie oder Ihretwegen geschehen ist?«

»Sie haben Herrn von Bedmar getödtet?«wiederholte Frau von Marande.

»Ja; wußten Sie denn das nicht?«

»Ah! mein Gott!«

»Ich gestehe Ihnen indessen, daß ich einen Augenblick zögerte. Sie wissen oder Sie wissen nicht, daß ich Gründe hatte, Herrn von Bedmar zu verachten; bei einem Umstande hatte ich die Ueberzeugung erlangt, sein Benehmen sei nicht das eines redlichen Mannes gewesen. Man schrieb mir, – einer meiner Correspondenten aus Italien, – am 20. November 1824 werde Herr von Bedmar in Livorno sein. Ich erinnerte mich, daß ich ein wichtiges Geschäft in Livorno hatte; ich traf am 19. November dort ein: Herr von Bedmar traf ebenfalls ein. Dann bekamen wir, ich weiß nicht, wie das zuging, im Hafen von Livorno, in dem Augenblicke, wo er hier landete. einen Streit wegen einer ganz geringfügigen Sache, wegen eines Cominissionärs: der Streit erbitterte sich; kurz ich fand mich beleidigt, und forderte von ihm Genugthuung wegen dieser Beleidigung, wobei ich ihm, wie das meine Gewohnheit ist, die Wahl der Waffen ließ: er hatte Unrecht, die Pistole zu wählen, eine ungeschlachte Waffe, welche zerreißt, zerschmettert, tödtet. Auf der Stelle gaben wir uns Rendez-vous in den Cascine von Pisa. Auf dem Kampfplatze angekommen , stellten uns unsere Zeugen zwanzig Schritte aus einander; ich warf einen Louis d’or in die Luft, um zu wissen, wer zuerst schießen sollte: das Loos fiel ihm zu; er schoß . . . ein wenig tief; die Kugel durchbohrte mir den Schenkel.«

 

»Durchbohrte Ihnen den Schenkel?« rief Frau von Marande.

»Ja, Madame, glücklicher Weise, ohne den Knochen anzugreifen.«

»Ich habe aber nie erfahren, daß Sie verwundet worden sind.«

»Wozu Sie mit einer Wunde plagen, die in vierzehn Tagen geheilt war.«

»Und verwundet, wie Sie waren, mein Herr . . . ?«

»Legte ich auf ihn an . . . In diesem Augenblicke geschah es, wie ich erwähnte, daß ich zögerte, es war ein sehr hübscher Junge, im Genre von Herrn von Valgeneuse; ich sagte mir: »»Vielleicht wird er, wie Herr von Valgeneuse, von einer Mutter, von einer Schwester geliebt?« ich zögerte . . . Hielt ich um eine Linie rechts oder links, so fehlte ich ihn, und da ich verwundet war, so endigte sich das Duell hiermit. Doch ich erinnerte mich, daß Herr von Bedmar ein junges Mädchen schändlich betrogen hattet daß er auch am Ende seiner Pistole den Vater dieses Mädchens gehabt hatte, der herbeigekommen war, um von ihm Genugthuung für diesen Schimpf zu verlangen, und daß er, der Elende! den Vater dieses Mädchens getödtet hatte. Da zielte ich gerade auf die Brust, die Kugel durchbohrte ihm das Herz, und er fiel, ohne einen Seufzer von sich zu geben.«

»Mein Herr ,« rief Frau von Marande, »mein Herr . . . Sie sagen, mein Vater . . . ?«

»Sei von Herrn von Bedmar im Duell getödtet worden; das ist die Wahrheit Sie sehen, daß ich Recht gehabt habe, ihm eben so wenig Gnade zu gewähren, als ich bei einem ähnlichen Umstande Herrn von Valgeneuse gewähren würde.«

Und seine Frau mit einem Gesichte so ruhig wie bei seinem Eintritte grüßend, ging Herr von Marande hinaus, gefolgt von dem erschrockenen Blicke von Frau von Marande.

»Ah!« murmelte Lydie, indem sie ihren Kopf wieder auf ihr Kissen fallen ließ, »Gott verzeihe mir, es gibt Augenblicke, wo ich glaube, daß dieser Mann mich liebt . . . und daß ich ihn liebe!«

Zweiter Band

I
Assisenhof der Seine
Sitzung vom 29. April
Affaire Sarranti

Der Leser, als er aus dem Munde von Salvator erfuhr, dieser begebe sich in den Justizpalast, um dort den letzten Debatten der Affaire Sarranti beizuwohnen, mußte begreifen, es brauche nicht weniger, als die absolute Nothwendigkeit, in der wir uns befinden, Herrn von Marande in das Zimmer seiner Frau zu folgen, daß wir ihn nicht auf der Stelle in den großen, erschrecklichen Saal des Justizpalastes führten, wo das Verbrechen seine Strafe holt, und leider auch zuweilen durch einen unseligen Irrtum die Unschuld ihre Verurtheilung.

Drei Statuen müßten in drei Winkel dieses großen Saales gestellt werden, in Erwartung einer vierten, welche vielleicht ewig abwesend bliebe: die von Calas, von la Barre und von Lesurques!

Gegen elf Uhr Abends, in dem Augenblicke, wo Karl X. seinen Conceil hielt, in dem Momente, wo Hunderte von Equipagen das Pflaster der Rue d’Artois erschallen machten, boten die Zugänge des Justizpalastes ein Schauspiel, welches noch viel interessanter, als das des Boulevard des Italiens.

In der That, von der Place du Chatelet, – wenn man von Norden nach Süden bis zur Place du Pont-Saint-Michel ging, – waren der Pont du Change, die Rue de la Barillerie, der Pont Saint Michel und alle benachbarte Straßen: und, – wenn man von Westen nach Osten ging, von der Place Dauphine bis zum Pont de la Cité, – die Quais de l’Horloge, Desaix, de la Cité, de l’Archevêché, des Orfévres bedeckt von einer so compacten, so gedrängten, so unruhigen Menge, daß man hätte glauben sollen, die alte Insel des Palastes schwanke, schwimmend geworden, mitten in der Seine und mache eine äußerste Anstrengung, um dem Orkane, der sie gegen das Meer treibe, zu widerstehen. Was viel dazu beitrug, dieser Menge eine große Aehnlichkeit mit einem stürmischen Ocean zu geben, das war das dumpfe, tiefe, monotone Tosen, von dem sie alle Straßen der Umgegend wiederhallen machte, und das wie eine wüthende Fluth bis zu den Gewölben des alten Palastes vom heiligen Ludwig emporstieg.

An diesem Abend oder vielmehr in dieser Nacht, denn der Abend war schon weit vorgerückt, sollten sich die Debatten des Processes Sarranti schließen, der sehr mit Recht in einem so hohen Grade die öffentliche Aufmerksamkeit seit dem Tage, wo der Moniteur die Anklageacte veröffentlicht hatte, in Anspruch nahm.

Die Leser werden sich also nicht wundern, daß ein Proceß, der in den Annalen der Criminaljustiz Epoche zu machen bestimmt war, in die Umgebung des Palastes einen so großen Volkszusammenlaus und in den Saal eine viel beträchtlichere Menge zog, als der Saal fassen konnte. Um die Verwirrung, die Unruhe und, wer weiß? die Unordnungen zu vermeiden, welche ein solcher Zustrom hätte veranlassen können, hatte es der Herr Präsident für nöthig erachtet, zum Voraus Eintrittskarten an die Personen, oder wenigstens an einen Theil der Personen, die darum nachgesucht, auszutheilen. Selbst die Advocaten hatten eine gewisse Anzahl für jeden Sitzungstag erhalten.

Es war unmöglich gewesen, den zahlreichen Gesuchen der Einen und der Andern zu entsprechen: mehr als zehntausend Bitten um Billets waren an den Herrn Präsidenten seit dem Tage, an welchem man die Anklageacte veröffentlicht hatte, gerichtet worden. Die Diplomatie, die beiden Legislaturen, der Adel, der Richterstand, die Armee und der reiche Handelstand hatten sich um diese Gunst beworben: wenige von diesen Bewerbungen waren erhört worden.

In Folge hiervon waren alle Plätze dergestalt besetzt, daß man hätte glauben sollen, die Zuschauer seien an einander gelöthet und bilden nur noch einen einzigen Körper: man hörte auch von Zeit zu Zeit vor der Thüre und in den Gängen die Stimme eines Unglücklichen, den man erstickte. Der Schweif der Zuschauer verlängerte sich nicht nur bis ans Ende der Galerie und versperrte die zahlreichen Treppen, welche nach den verschiedenen Eingangsthüren mündeten, sondern diese ungeheure Reihe von Zuschauern hatte sogar, – wie eine Riesenschlange, – ihren Schweif aus der Place du Pont-Saint-Michel und ihren Kopf aus der Place du Châtelet.

Mehrere Bänke waren speciell für die Advocatenzunft vorbehalten worden, doch bald hatte sich derselben eine große Anzahl von Damen bemächtigt, welche nicht Platz aus den Bänken hatten finden können , die für sie in der inneren Umschließung, der Advocatenbank gegenüber, bereit standen.

Die Debatten waren erst seit zwei Tagen eröffnet, und obschon man bis jetzt keinen Beweis für das Verbrechen hatte, dessen Herr Sarranti angeklagt war, sagte man doch im Justizpalaste, und man wiederholte in der Menge, der Wahrspruch sollte noch an demselben Tage gegeben werden.

Man erwartete jeden Augenblick ihn bekannt machen zu hören: wir reden wenigstens von denjenigen, welche von fern der Sitzung beiwohnten: und, obschon es elf Uhr geschlagen hatte, obschon in der Menge ein, wahres oder falsches, Gerücht im Umlaufe, nach welchem der förmliche Befehl zugeschickt worden war, daß noch im Verlaufe der Sitzung das Verbrechen abgeurtheilt und der Spruch erlassen sein müsse, kam keine Nachricht nach außen, und die Ungeduldigsten fingen an die energischen Schreie auszustoßen, welche die da und dort unter der Menge zerstreuten Gendarmen nicht ganz zurückzuhalten vermochten.

Für diejenigen, welche den Debatten beiwohnten, nahm im Gegentheile das Interesse immer mehr zu, und dreizehn Stunden Audienz an einem Tage, – die Sitzung hatte um zehn Uhr Morgens begonnen, – hatten die Aufmerksamkeit der Einen nicht vermindert, die Neugierde der Andern nicht geschwächt.

Uebrigens waren, außer der Theilnahme, die der Angeklagte im Herzen von Jedem erregte, diese schon so ergreifenden Debatten noch viel interessanter durch das merkwürdige Talent, mit welchem denselben präsidiert wurde, und zugleich durch die Energie und den guten Tact des Advocaten, der Herrn Sarranti vertheidigte, gemacht worden.

Was das Talent des Präsidenten betrifft, es war unvergleichlich. Es ließ sich unmöglich, bei so ernsten und so peinlichen Functionen, ein schärferer, präciserer Geist der Analyse, ein eleganterer und leichterer Vortrag, ein erhabeneres Gefühl für den Wohlanstand und eine ängstlichere Unparteilichkeit zur Anwendung bringen. Denn, sagen wir es beiläufig, da wir eine Gelegenheit hierzu finden, wir, die wir uns etwas auf diese ängstliche Unparteilichkeit, die wir an dem Herrn Präsidenten des Assisenhofes loben, zu Gute thun, das Talent des Präsidenten, seine Gewandtheit und seine Billigkeit üben auf den Gang der Debatten und sogar auf die Haltung des Publikums einen außerordentlichen Einfluß; man kann nicht glauben, wie sehr sie ihnen Größe und Würde einflößt und den Sitzungen der Gerichtshöfe den ihnen eigenthümlichen imposanten Charakter gibt.

Die ’Feierlichkeit dieses Abends hatte gerade zugleich den imposanten Charakter, von dem wir sprechen, und einen düsteren, traurig fantastischen Charakter, den man hinreichend begreifen wird, wenn wir mit ein paar Worten die Inscenirung dieser Sitzung gemacht haben.

Jedermann oder beinahe Jedermann kennt den Sitzungssaal des Assisenhofes von Paris. Es ist ein ungeheures Rechteck, mehr lang, als breit, düster, tief und hoch wie eine Kirche.

Wir sagen düster, obschon dieser Saal das Licht durch fünf ungeheure Fenster und zwei Glasthüren empfängt, welche alle auf einer Seite des Saales, der linken vom Eintritte aus, angebracht sind; aber, mag nun die rechte Seite, durch welche kein Licht eindringt, außer wenn sich die kleine Thüre öffnet, durch die der Angeklagte aus und eingeht, – mag nun, sagen wir, diese düstere Wand, welche vergebens Füllungen von blauem Papier aufzuhellen suchen, an die Wand, die sie anschaut, ihre Dunkelheit werfen , oder mag der Tempel der Gerechtigkeit einen Reflex von dem häßlichen Kothe bewahren, mit welchem das Verbrechen sein Pflaster befleckt hat, man wird plötzlich, in den Saal des Assisenhofes eintretend, von einer schwarzen Traurigkeit, von einem Schauer des Ekels, von einem Eindrucke ähnlich dem erfaßt, welchen man empfände, setzte man in den Wald eintretend den Fuß auf ein Schlangennest.

Doch an diesem Abend, – statt der düsteren Tinte, in die er sich gewöhnlich kleidet, – glänzte der Assisenhof von Lichtern, welche vielleicht noch trauriger als seine Dunkelheit.

Man denke sich diese ganze Menge seltsam beleuchtet durch die schwankenden Scheine von hundert Lichtern, durch den Reflex von Lampen, welche, mit Dämpfern bedeckt, den Geschworenen ein sonderbares Aussehen, eine traurige Blässe verliehen, wie sie den von den spanischen Meistern gemalten Inquisitoren eigenthümlich ist.

Trat man in den Saal ein, so wurde man durch dieses leuchtende Halbdunkel oder, besser gesagt, diese düstere Halbhelle unwillkürlich an die geheimnisvollen Sitzungen des Rathes der Zehn oder der Inquisition erinnert. Alle Geheimen und Torturen des Mittelalters fielen einem ein, und man suchte im finstersten Winkel des Saales die leichenbleiche Maske des Folterers.

In dem Augenblicke, wo wir in das Innere eindringen, schickt sich der Herr Staatsanwalt an, sein Requisitorium zu sprechen.

Er steht.

Es ist ein Mann von hoher Gestalt, bleich von Gesicht, knochig und dürr wie ein altes Pergament, ein lebendiger Leichnam, der vom Leben nur noch die Stimme und den Blick hat: denn von Geberde, von Bewegung ist keine Rede, und auch diese Stimme ist schwach wie ein Hauch: auch dieser Blick ist unbestimmt, ohne entschiedenen Ausdruck. Dieser Mensch, um Alles zu sagen, scheint die Verkörperung der Criminalprocedur zu sein: es ist ein Requisitorium in Fleisch und Knochen: in Knochen besonders!

 

Ehe wir aber die Hauptpersonen dieses Dramas hörbar machen, sagen wir, welchen Platz sie im Sitzungssaale einnahmen.

Im Fond des Saales, am Mittelpunkte des kreisförmigen Bureau, ist der Präsident, assistiert von den Richtern, welche den Hof bilden.

Zur Rechten vom Eintretenden oder zur Linken vom Präsidenten, unter zwei von den hohen Fenstern, sind die vierzehn Geschworenen. Wir sagen vierzehn statt zwölf, der Herr Staatsanwalt hat, in Betracht der muthmaßlichen Länge der Debatten, die Beifügung von zwei Supplementargeschworenen und einem Ersatzrichter verlangt.

In der kreisförmigen Einfriedung, welche das Bureau des Hofes begrenzt, ist der ehrliche Herr Gérard als Civilpartie.

Es war wohl derselbe Mann, beinahe kahl, mit grauen, kleinen, tiefliegenden, trüben Augen, mit dichten, ergrauenden Augenbrauen, aus deren Mitte, wie starre Wildschweinborsten, lange Haare hervorstanden, welche sich in der Linie einer geierschnabelartig gebogenen Nase verbindend über den Augen einen Bogen von einer übertriebenen, ganz unverhältnißmäßigen Krümmung bildeten: es war endlich diese feige, gemeine Physiognomie, welche einen so seltsamen Eindruck aus den Abbé Dominique bei seinem Eintritte in das Schlafzimmer des Sterbenden gemacht hatte.

Das Gesicht eines Mannes, der von der Gerechtigkeit verlangt, daß sie ihn an einem Mörder räche, ist in der Regel, was auch seine gewöhnliche Häßlichkeit sein mag, rührend, im höchsten Grade interessant, während das Gesicht des Angeklagten Verachtung und Ekel erregt: hier aber war es das Gegentheil, und hätte man das Publikum, das die Versammlung bildete, gefragt, so würde es, – rechts das schöne, redliche Gesicht von Herrn Sarranti und das unschuldvolle, rechtschaffene Antlitz des Abbé Dominique sehend, – das Publikum würde einstimmig gesagt haben, die Rollen seien verkehrt, der Mörder sei das Opfer, und derjenige, welcher für das Opfer gelte, sei der Mörder. Ohne einen andern Grund, ohne einen andern Beweis, als die rasche Beschauung der zwei Männer, war es unmöglich, sich hierin zu täuschen.

Haben wir noch bemerkt, daß Herr Sarranti, escortirt von zwei Gendarmen, von Zeit zu Zeit, auf das Geländer gestützt, mit seinem Sohne und seinem Advocaten sprach, so werden wir in allen ihren Details die Scenirung dieser traurigen Feierlichkeit auseinandergesetzt haben.

Wir haben gesagt, die Debatten seien seit zwei Tagen eröffnet gewesen. Die Sitzung, der wir den Leser beiwohnen lassen, war also die dritte und wahrscheinlich die letzte Sitzung.

Sagen wir rasch, was in den zwei ersten Sitzungen vorgefallen war.

Nach den präliminaren Förmlichkeiten verlas man die Anklageacte, welche wir nicht mittheilen werden, die aber Personen, die sich für dergleichen Stücke besonders interessieren, in den Journalen jener Zeit finden können.

Aus dieser Acte ging hervor, daß Herr Gaëtano Sarranti, ehemaliger Militär, geboren in Ajaccio, auf Corsica, achtundvierzig Jahre alt, Officier der Ehrenlegion, angeklagt war, am Abend des 20. August 1820 mit Einbruch eine Summe von dreimalhunderttausend Franken aus dem Secretär von Herrn Gérard gestohlen, eine Frau im Dienste von Herrn Gérard ermordet, und die zwei Neffen von Herrn Gérard entführt oder getödtet zu haben, ohne daß man je die Spur ihrer Person oder ihrer Leichname hätte ausfinden können.

Verbrechen vorhergesehen durch die Artikel 293, 296, 302, 304, 345 und 354 des Strafcodex.

Nach Verlesung der Anklageacte befragte man, in der gewöhnlichen Form, den Angeklagten: er antwortete Nein aus alle Fragen, die man an ihn machte, ohne andere Zeichen einer Gemüthsbewegung von sich zu geben als den Schmerz, den er zu fühlen schien, als er den Tod oder das Verschwinden der zwei Kinder erfuhr.

Der Advocat von Herrn Gérard glaubte Herrn Sarranti ungeheuer dadurch in Verlegenheit zu bringen, daß er ihn fragte, warum er so plötzlich das Haus verlassen habe, wo er mit so viel Wohlwollen ausgenommen worden sei: doch Herr Sarranti antwortete einfach, da die Verschwörung, deren Hauptchef er einer gewesen, der Polizei denunziert worden sei, so habe er sich nach den Instructionen des Kaisers zu Herrn Lebastard de Prémont, französischem General im Dienste von Rundschit Sing, begeben.

Dann erzählte er, wie er, um seinem Projecte Folge zu geben, in Begleitung des Generals nach Europa zurückgekehrt sei und in Genossenschaft mit ihm den König von Rom aus dem Palaste von Schönbrunn zu entführen versucht habe, ein Versuch, der, wie er seit seiner Verhaftung erfahren, zu seinem großen Bedauern, – gestand er, – gescheitert sei.

So, während er die Bezichtigung des Diebstahls und des Mordes zurückwies, nahm er die des Majestätsverbrechens in Anspruch und verwarf nur das bürgerliche Schaffot, um mit laute r Stimme das politische zu reclamiren.

Das war aber nicht die Sache derjenigen, welche ihn verurtheilen wollten. Was man in Herrn Sarranti zu finden wünschte, das war der gemeine Dieb, der abscheuliche Mörder, der sich das blutige Vermögen von zwei unglücklichen Kindern anzueignen trachtet und nicht der politische Verschwörer, der, mit Gefahr seines Lebens, eine Dynastie an die Stelle einer andern setzen und mit gewaffneter Hand die Form einer Regierung ändern will.

Der Präsident war genöthigt, Herrn Sarranti mitten unter den von ihm gegebenen Erklärungen zurückzuhalten.

Bei diesen Erklärungen durchlief das ganze Auditorium ein sympathetischer Schauer, der auch ihn, den Beamten, unwillkürlich und wie die Andern ergriff.

Dann kam die Angabe von Herrn Gérard.

Unsere Leser erinnern sich seiner vor dem Maire von Viry gemachten ersten Angabe am Tage, nachdem das Verbrechen begangen worden. Die zweite war identisch dieselbe. Es ist also unnöthig, daß wir sie hier mittheilen, da sie der Leser schon kennt.

Das Ende der ersten Sitzung nahm die Zeugenaussage ein. Diese Aussage war, ganz wider Sarranti, ein langer Panegyrims von Herrn Gérard, gegen den, wenn man den Zeugen glauben durfte, der heilige Vincenz de Paula nur ein elender Egoist war.

Diese Zeugen waren keine andere, als der Maire von Viry. Der Leser kennt schon den guten Mann. Bethört durch die Unruhe, durch die an Verwirrung grenzende Befangenheit, in der sich Herr Gérard in dem Augenblicke befand, wo er die Katastrophe dem Maire anzeigte, hatte dieser die Betäubung des Verbrechers für den Schrecken des Opfers genommen. Man hörte auch das Zeugniß von fünf bis sechs Bauern, Pächtern und Grundeigenthümern von Viry, welche, da sie zu Herrn Gérard nur in landwirthlichen Beziehungen, bei Gelegenheit von Ankäufen und Verkäufen von Gütern, gestanden hatten, erklärten, bei allen diesen Verträgen habe sich Herr Gérard als ein Mann von einer strengen Pünktlichkeit und Redlichkeit gezeigt.

Man hörte noch zwanzig bis fünfundzwanzig Zeugen von Vanvres und vom Bas-Meudon, das heißt alle diejenigen, welche von Herrn Gérard, seitdem er unter ihnen wohnte, zahlreiche Zeichen seiner Wohlthätigkeit und seines Edelmuths empfangen hatten.

Diejenigen von unseren Lesern, die sich des Kapitels betitelt: »Ein Dorfphilantrop,« erinnern, werden begreifen, welche Wirkung auf die Jury die Erzählung der guten Handlungen des redlichen Herrn Gérard und vorzüglich die Erzählung der letzten, das heißt der, welche ihm beinahe das Leben gekostet hätte, hervorbringen mußte.

Selbst über Herrn Gérard befragt, antwortete Herr Sarranti mit seiner ganz militärischen Treuherzigkeit, er halte ihn für einen vollkommen redlichen Mann, und er müsse durch sehr ernste Anscheine getäuscht worden sein, um gegen ihn, Herrn Sarranti, eine so grausame Anklage zu erheben.

Worauf ihn der Präsident fragte:

»Was sagen Sie aber zu Ihrer Rechtfertigung, und wie erklären Sie sich den Diebstahl der hunderttausend Thaler, den Tod von Madame Gérard und das Verschwinden der Kinder?«

»Die hunderttausend Thaler gehörte mir,« erwiderte Herr Sarranti, »oder, besser gesagt, es war ein Depot, das mir der Kaiser Napoleon anvertraut hatte. Sie sind mir von der Hand von Herrn Gérard selbst wiedergegeben worden. Was die Ermordung von Madame Gérard und das Verschwinden der Kinder betrifft, so kann ich nichts hierüber bemerken, da Madame Gérard vollkommen gesund war, und die Kinder in dem Augenblicke, wo ich das Schloß verließ, nämlich Nachmittags um drei Uhr, auf der Wiese spielten.«