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XLVII

Frühling, Jugendzeit des Jahres! Jugend, Frühlingszeit des Lebens!

Um vier Uhr verließ Petrus seinen Oheim und schlug den Weg nach der Straße Notre-Dame des Champs ein.



Ehe er bei sich eintrat, erhob er den Blick nach seinem armen Atelier, das in fünf Tagen so verödet sein sollte, und sah dort Licht.



»Jean Robert oder Ludovic,« murmelte er.



Und er ging an dem Concierge mit einer Verbeugung des Kopfes vorüber, welche sagen wollte: »Ich nehme den Schlüssel nicht, weil man mich erwartet.«



Der junge Mann täuschte sich nicht: es war Jean Robert, der ihn erwartete.



Kaum erschien Petrus auf der Schwelle, als Jean Robert sich in seine Arme stürzte und ausrief:



»Erfolg, mein lieber Petrus! Erfolg!«



»Was für ein Erfolg?« fragte Petrus.



»Wenn ich sage Erfolg,« fuhr Jean Robert fort, »so sollte ich eigentlich Enthusiasmus sagen.«



»Wovon sprichst Du? nun!« fragte Petrus lächelnd; »denn wenn Du einen Erfolg hattest, werde ich Dir applaudieren; wenn Enthusiasmus, so will ich ihn theilen.«



»Wie, was für Erfolg? wie, was für Enthusiasmus? Du hast wohl vergessen, daß ich diesen Morgen den Schauspielern der Porte Saint-Martin vorlas . . . «



»Ich habe es nicht vergessen, ich wußte es nicht. Also ein enthusiastischer Erfolg?«



»Ungeheuer, mein Freund! Sie sind alle wie vernarrt! Beim zweiten Acte stand Dante aus und kam auf mich zu, um mir die Hand zu drücken; beim dritten hat mich Beatrice umarmt; – Du weißt, daß die Dorval die Beatrice spielt; und als endlich die Leseprobe vorüber war, fielen mir alle, Schauspieler und Director, Regisseur, Souffleur, kurz alle Welt um den Hals.«



»Bravo, mein Herzlicher!«



»Und ich brachte Dir meinen Theil Zufriedenheit.«



»Danke, Dein Erfolg entzückt mich mehr, als er mich überrascht. Wir hatten ihn Dir vorausgesagt, Ludovic und ich.«



Und Petrus stieß einen Seufzer aus.



In sein Atelier zurückkehrend, das er nicht wieder gesehen, all’ diesen mit so viel Mühe zusammengebrachten Gegenständen der Kunst und der Phantasie gegenüberstehend, war es Petrus vor die Seele getreten, daß er das alles verlassen müsse, und diese ungemischte Freude Jean Roberts hatte seiner Brust einen Seufzer entrissen.



»Nun, nun,« sagte Jean Robert, »Du kehrst ja sehr traurig von St. Malo zurück, lieber Freund, und nun ist es an mir, Dich zu fragen: Was hast Du?«



»Und an mir ist es, Dir zu antworten: Du hast also vergessen?«



»Was?«



»Nun, wenn ich all’ diese Dinge wieder sehe, all’ dieses Gerumpel, all’ diese großen Kästen, all’ diese Meuble, die ich verlassen soll, gestehe ich Dir, daß mir der Muth fehlt und daß mein Herz blutet.«



»Du willst all’ das verlassen, sagst Du?«



»Gewiß.«



»Du willst Deine Wohnung als eingerichtetes Logis vermiethen, oder willst eine Reise machen?«



»Wie, Du weißt nicht?«



»Was?«



»Salvator hat Dir nicht gesagt?«



»Nein.«



»Nun gut, so wollen wir von Deinem Stücke sprechen.«



»Nein, bei Gott, sprechen wir von Deinem Seufzer. Man soll nicht sagen, ich sei heiter, während Du traurig bist.«



»Mein Lieber, nächsten Sonntag werde ich all’ das verkaufen lassen.«



»Wie, Du wirst das alles verkaufen lassen?«



»Ja.«



»Du verkaufst Deine Meubles?«



»Lieber, wenn das

meine

 Meubles wären, würde ich sie nicht verkaufen lassen.«



»Erkläre Dich.«



»Sie werden erst dann mir gehören, wenn ich sie bezahlt habe, und ich verkaufe sie, um sie zu bezahlen.«



»Ich begreife.«



»Nein, Du begreifst nicht.«



»So sprich.«



»Wahrhaftig, ich schäme mich, meinem besten Freunde meine Schwächen zu enthüllen.«



»Nun, nur zu!«



»Gut denn, mein Lieber, ich war ganz einfach im Zuge, meinen Vater zu ruinieren.«



»Du?«



»Ja, meinen tapferen und würdigen Vater! Ich habe noch zur rechten Zeit innegehalten, mein Freund: in einem Monate wäre es zu spät gewesen.«’



»Petrus, mein lieber Freund, ich habe in meiner Schublade drei mit

Garat

 unterzeichnete Billets, nicht blos einer der leserlichsten, sondern auch einer der schätzenswerthesten Unterschriften, die ich kenne: ich brauche nicht zu sagen, daß sie zu Deiner Verfügung stehen.«



Petrus zuckte mit den Achseln, und die Hand seines Freundes drückend, fragte er ihn:



»Und Deine Reise?«



»Erstens, lieber Petrus, würde ich zu traurig reisen, wenn ich Dich traurig wüßte; dann habe ich meine Proben, meine Aufführung.«



»Und dann noch eine andere Sache,« sagte Petrus lächelnd.



»Wie, noch eine andere Sache?« fragte Jean Robert.



»Ist es denn zu Ende, Rue Lafitte?«



»O, großer Gott, warum sollte es zu Ende sein? Es ist, als wenn ich Dich fragte: Ist es zu Ende, Boulevard des Invalides?«



»Scht! Jean!«



»Aber Du lässest mich daran denken, Du weisest meine armen dreitausend Franken zurück, weil Du nicht wüßtest, was damit anfangen.«



»Mein Lieber, es ist nicht deßhalb, obgleich Du in einem Punkte Recht haben könntest: nämlich, daß mir tausend Thaler nicht zureichen würden.«



»Nun gut, höre: befriedige immerhin mit meinen tausend Thalern die Ungeduldigsten: lasse sie auf meine Aufführung warten: am Tage nach derselben wird man Porcher aufsuchen und zehntausend Franken erheben, ja fünfzehntausend. Franken, wenn es absolut sein muß, ohne einen Sou Interesse.«



»Wer ist Porcher, mein Freund?«



»Ein einziger Mensch, die

rara aviz

 des Juvenal, der Nährvater der Schriftsteller, der wahre Minister der schönen Künste, von der Vorsehung beauftragt, dem Genie Aufmunterungen und Prämien zu Theil werden zu lassen. Willst Du, daß ich zu ihm gehe und ihm sage, Du machst ein Stück mit mir? Er wird Dir zehntausend Franken darauf leihen.«



»Du bist ein Narr! Mache ich denn Stücke?«



»Du bist nicht so dumm, ich weiß das: aber ich werde es allein schreiben.«



»Ja, und ich werde theilen.«



»Gut! Du gibst mir zurück, wenn Du kannst.«



»Dank, mein Lieber, das

wenn ich kann

 käme zu spät, wenn es je käme.«



»Ja, ich begreife, Du würdest lieber einen Juden vom Stamme Levi suchen: man hat keine Gewissensbisse, sie warten zu lassen, sie holen sich immer wieder ein.«



»Einen Juden so wenig als einen andern, mein Freund.«



»Teufel! Teufel! Teufel! Nun, da sieht man, daß die Kunst ihre Grenzen hat. Wie! man ist dramatischer Schriftsteller, man ist im Stande, Zufälle zu schaffen und sich daraus herauszuhelfen, Situationen zu verwickeln und zu entwickeln: man hat die Prätension, Comödien zu machen wie Beaumarchais, Tragödien wie Corneille, Dramen wie Shakespeare, und verwickelt sich die Füße in der Wolle seiner Schafe, wie der Rabe, der den Adler nachahmen will. Wie! man ist arme fünfundzwanzigtausend oder dreißigtausend Franken vielleicht schuldig, man hat die Mittel in den Händen oder im Kopfe oder im Herzen, sie eines Tages zu bezahlen, aber provisorisch weiß man nicht, an welchen Helden man sich wenden soll: und was thun?«



»Arbeiten,« sagte im Fond des Atelier eine sanfte und sonore Stimme.



Aus diesen einzigen Worten wird man ahnen, wer der gute Geist war, der aus solche Weise einem unentschiedenen Freunde und verlegenen dramatischen Schriftsteller zu Hilfe kam.



Es war Salvator.



Die beiden Freunde drehten den Kopf zu gleicher Zeit, Jean Robert mit einem Gefühle der Freude, Petrus mit einem Gefühle der Dankbarkeit. Beide boten dem Neuankommenden die Hand.



»Guten Abend, meine Meister,« sagte er: »es scheint, daß wir bei der großen menschlichen Frage angekommen waren: »»Ist es erlaubt zu leben, ohne zu arbeiten?««



»Ganz richtig,« sagte Petrus, »und einem erpichten Arbeiter, Jean Robert, der mit sechsundzwanzig Jahren mehr gethan, als Akademiker mit vierzig, antwortete ich: »»Nein, hundert Mal nein, lieber Freund, nein!««



»Wie, unser Poet rühmte die Trägheit? Lassen Sie sich von Careau empfangen, mein Lieber: Sie machen alle Monate, alle Vierteljahre, ja selbst alle Jahre ein Gedicht und man wird nicht mehr von Ihnen verlangen.«



»Nein: er bot mir ganz einfach seine Börse.«



»Nehmen Sie sie nicht an, Petrus: wenn Sie diesen Dienst von einem Freunde annehmen würden, hätte ich den Vorrang beansprucht.«



»Ich würde ihn von Niemand annehmen, Freund,« sagte Petrus.



»Das bin ich überzeugt,« antwortete Salvator; »das ist auch der Grund, weßhalb ich kein Anerbieten machte, ich wußte ja, daß Sie nichts annehmen würden.«



»Nun,« sagte Jean Robert, indem er sich an Salvator wandte, »Ihr Rath ist, daß wir verkaufen?«



»Ohne Zögern?« antwortete Salvator.



»Verkaufen wir denn,« sagte Petrus entschlossen.



»Verkaufen wir!« sagte Jean Robert mit einem Seufzer.



»Verkaufen wir,« sagte Salvator.



»Verkaufen wir!« sagte eine vierte Stimme, welche wie ein Echo im Hintergrunde des Ateliers erwachte.



»Ludovic!« sagten die drei Freunde.



»Wir sind also im Zuge zu verlaufen?« fragte der junge Doctor, indem er mit zwei offenen Händen und einem Lächeln auf seinen Lippen vortrat.



»Ja.«



»Und was? . . . Darf man wissen?«



»Unser Herz, Skeptiker!« sagte Jean Robert.



»Nun, meinetwegen verkauft das Eure, wenn Ihr wollt,« sagte Ludovic: »was das meine betrifft, so ziehe ich es aus dem Schaukästchen zurück: es bat seine Beschäftigung gefunden.«



Und ohne sich weiter mit dem fraglichen Kaufe zu beschäftigen, begannen die vier Freunde ein Gespräch über Kunst, Literatur und Politik, während der Kessel vor dem Feuer sang und sie selbst eine Tasse Thee bereiteten.



Der Thee ist nur gut – zeichnet euch dieses für Liebhaber wichtige Axiom auf – der Thee ist nur gut, wenn man ihn selbst bereitet.



Jeder blieb bis Mitternacht.



Aber bei dem Schlage Mitternacht erhoben sie sich wie von einem electrischen Faden berührt.

 



»Mitternacht!« sagte Jean Robert, »ich muß nach Hause gehen.«



»Mitternacht,« sagte Ludovic, »ich muß nach Hause gehen.«



»Mitternacht,« sagte Salvator, »ich muß gehen.«



»Und auch ich,« sagte Petrus.



Salvator bot ihm die Hand.



»Nur wir zwei haben die Wahrheit gesprochen, mein lieber Petrus,« sagte der Commissionär.



Jean Robert und Ludovic begannen zu lachen.



Alle vier stiegen heiter die Treppe hinab.



An der Thüre blieben sie stehen.



»Soll ich euch allen sagen,« begann Salvator, »wo ihr hingeht?«



»Ja,« antworteten die drei jungen Leute.



»Sie, Jean Robert, gehen nach der Rue Lafitte.«



Jean Robert machte einen Schritt zurück.



»Nun einem andern,« sagte er lachend.



»Sie, Ludovic, wollen Sie, daß ich Ihnen sage, wohin Sie gehen?«



»Sprechen Sie.«



»Rue d’Ulm.«



»Das ist richtig,« sagte Ludovic zurückprallend.



»Und Sie, Petrus?«



»O, ich . . . «



»Boulevard des Invalides. – Nun, Petrus, Muth!«



»Ich werde welchen haben,« sagte Petrus, indem er Salvator die Hand drückte.



»Und Sie,« sagte Jean Robert, »wo gehen Sie hin? Sie begreifen, lieber Freund, daß Sie nicht unsere drei Geheimnisse bei sich tragen können, ohne daß wir jeder ein Stück von dem Ihrigen haben.«



»Ich?« sagte Salvator mit einer ernsten Miene.



»Ja, Sie!«



»Ich will suchen, Herrn Sarranti zu retten, den man in acht Tagen hinrichtet.«



Und jeder ging seines Weges.



Aber die drei jungen Leute entfernten sich nachdenklich.



Wie viel größer war er als sie. Dieser geheimnißvolle Arbeiter, der in der Stille ein so großes Werk vollendet und, während jeder von ihnen nur eine Frau liebte, die ganze Menschheit mit seiner Liebe umfaßte.



Es ist wahr, er liebte Fragola und Fragola liebte ihn!




XLVIII

Rue Lafitte

Folgen wir jedem unserer Helden: vielleicht machen wir aus diesem Wege einige Schritte vorwärts in unserer Geschichte.



Nach der hierarchischen Ordnung wollen wir mit Jean Robert beginnen.



Es ist weit von der Rue de l’Quest nach der Rue Lafitte: Jean Robert nahm deßhalb in der Rue de Vaugirard ein Cabriolet, das ihm begegnete, als es leer nach der Barrière du Maine zurückfuhr. Gegen den Schluß des Jahres 1827 endigte Paris bei La Nouvelle Athènes und La Nouvelle Athènes begann bei der Straße Saint-Lazare.



Beim ersten Drittel der Straße ließ Jean Robert den Kutscher halten.



Der Kutscher hatte ihn unnützer Weise nach der Nummer gefragt.



»Ich werde Sie anrufen,« hatte Jean Robert geantwortet.



Es schlug aus der Kirche Notre-Dame de Lorette, die damals eben vollendet worden, ein Viertel nach Mitternacht.



Jean Robert bezahlte seinen Kutscher als zufrieden gestellter Poet und befriedigter Liebhaber: dann schlich er in seinen Mantel gehüllt an den Mauern hin. Zu jener Zeit trugen die jungen Leute wie jene Titelblattportraits von Byron, Chateaubriand und Herrn von Arlincourt noch Mäntel.



Bei Nr. 24 angekommen, blieb Jean Robert stehen.



Die Straße war leer. Er zog neben der sichtbaren Glocke einen beinahe unsichtbaren Knopf und wartete.



Der Concierge zog nicht den Cordon, sondern kam selbst, um zu öffnen.



»Nathalie,« sagte Jean Robert halblaut, indem er ein Goldstück in die Hand des aristokratischen Concierge gleiten ließ, um ihn für die nächtliche Störung zu entschädigen.



Der Concierge machte ein Zeichen des Verständnisses, kehrte mit Jean Robert in sein Stübchen zurück und öffnete eine Thüre, die aus eine Dienerschaftstreppe führte.



Jean Robert eilte hinauf.



Der Concierge schloß die Thüre hinter ihm.



Dann betrachtete er das Goldstück und sagte:



»Pest! Mademoiselle Nathalie scheint da einen hübschen Handel gemacht zu haben: jetzt wundert’s mich nicht mehr, daß sie so elegant ist.«



Jean Robert stieg die Treppe mit einer Eile hinaus, welche zugleich von seiner Kenntniß der Localitäten, wie von seinem Wunsche zeugte, möglichst rasch in den dritten Stock zu kommen, welcher das Ziel seiner nächtlichen Excursion war.



Dies war um so wahrscheinlicher, als eine halb in der Dunkelheit verlorene Gestalt seine Ankunft zu erwarten schien.«



»Bist Du es, Nathalie?« sagte der junge Mann.



»Ja, mein Herr,« antwortete eine Zofe, deren tadelloser Anzug vollkommen rechtfertigte, was der Concierge so eben gesagt.



»Deine Herrin?«



»Sie ist unterrichtet.«



»Kann sie mich empfangen?«



»Ich hoffe.«



»Melde mich, Nathalie, melde mich.«



»Will der Herr indessen in den Taubenschlag eintreten?« fragte die moderne Marlon lächelnd.



»Wo Du willst, Nathalie, wo Du willst, mein Kind, vorausgesetzt, daß, wo ich eintrete, ich nicht lange warten muß.«



»O was das betrifft, seien Sie ruhig, Sie können sich rühmen, daß man Sie liebt.«



»Wahr, Nathalie, man liebt mich?«



»Nun Sie verdienen es auch.«



»Schmeichlerin!«



»Ein Mann, von dem man in den Journalen spricht.«



»Wohl wahr, aber spricht man nicht auch von Herrn von Marande in den Journalen?«



»Ja wohl, aber das ist nicht dasselbe.«



»Gut.«



»Er ist kein Dichter.«



»Nein, dafür ist er aber Banquier. Ach, Nathalie, wenige Frauen würden, wenn sie zwischen einem Dichter und einem Banquier zu wählen hätten, den ersteren wählen . . . «



,»Aber meine Herrin . . . «



»Deine Herrin, Nathalie, ist keine Frau, das ist ein Engel.« ^ ,



»Und ich, was bin denn ich?«



»Eine abscheuliche Schwätzerin, die mich meine Zeit verlieren läßt.«



»Treten Sie ein,« sagte die Zofe, »man wird die verlorene Zeit einzuholen suchen.«



Und damit drängte sie Jean Robert in das, was der junge Mann den Taubenschlag nannte.



Es war ein reizendes kleines Zimmer, ganz persisch ausgeschlagen, wie das Toilettencabinet, das daran stieß: die Sopha’s, die Kissen, die Vorhänge, das Bett, alles war persisch. Eine Nachtlampe, welche am Plafond in einer Ampel von rothem böhmischem Glase hing, beleuchtete dieses kleine Zelt, das dem ähnlich sah, welches die Sylphen und Undinen für die Feenkönigin ausschlagen, wenn sie in ihren Staaten reist.



Und wirklich, wenn Frau von Marande Jean Robert nicht empfangen konnte, brachte sie hier eine Stunde mit ihm zu; sie hatte das kleine Zimmer selbst nach ihrem Geschmack zu diesem Zwecke und in dieser Absicht eingerichtet.



Nur weil es sich unter dem Dache befand, nannten es Jean Robert und die junge Frau den Taubenschlag.



Und das kleine Zimmer verdiente seinen Titel, nicht nur, weil es sich im dritten Stockwerk befand, sondern auch weil man sich dort zärtlich liebte.



Niemand, mit Ausnahme von Frau von Marande, Jean Robert, Nathalie und dem Tapezier, der es eingerichtet, wußte von der Existenz dieses Schmetterlingsgehäuses.



Hier in diesem Schlupfwinkel waren alle die tausend Erinnerungen, die den Reichthum wahrer Liebe bilden, eingeschlossen: die abgeschnittenen Haarlocken, die aus den Haaren gefallenen und am Herzen aufbewahrten Bänder, die welken Bouquets von Parmaveilchen, bis zu den Aderkieseln herab, welche am Meeresstrande gesammelt worden, wo die beiden Liebenden sich zum ersten Male begegnet hatten und mit einander umhergeirrt waren: hier wurden – weit das Kostbarste von Allem – die Briefe aufbewahrt, mit Hilfe derer sie seit dem ersten Tage, am dem sie sich ihre Liebe gestanden, ihren Lebenslaus Welle um Welle, Raum um Raum, Blume um Blume an ihrem Blicke vorüberziehen lassen konnten: jene Briefe, welche beinahe immer eine Katastrophe in der Liebe sind und die man sich nichtsdestoweniger schreiben muß, und die man nichtsdestoweniger nicht den Muth hat, zu verbrennen: und doch könnte man sie verbrennen und die Asche aufbewahren, aber die Asche ist das Bild des Todes, das Emblem des Nichts.



Es lag dort aus dem Kamin das kleine Portefeuille, in das beide dasselbe Datum, den 7. März, eingezeichnet: es lagen dort, zu beiden Seiten des Kaminspiegels, zwei kleine Blumenbilder, welche Frau von Marande gemalt, als sie noch ein junges Mädchen gewesen: es war dort ferner als eine seltsame Reliquie, an die Jean Robert mit dem Aberglauben der Poeten den vollkommensten Glauben hatte, über dem Kaminspiegel der elfenbeinerne Rosenkranz ausgehängt, mit dem Lydia zum ersten Male zur Communion gegangen: es war dort alles vereinigt, was in einem Zimmer, das nicht bloß zum Zusammensein und zum Glücke, sondern auch zur Erwartung und Träumerei bestimmt ist, das Warten erträglich machen, das Glück verdoppeln kann.



Uebrigens brauchen wir kaum zu sagen, daß Jean es nie war, welcher wartete.



Anfangs hatte er sich vollständig geweigert, von diesem Zimmer, das dem Hotel des Herrn von Marande entlehnt war, Gebrauch zu machen. Er hatte mit einem Zartgefühl, das gewissen auserlesenen Seelen entstammt, Lydia diesen Widerwillen ausgedrückt.



Aber Lydia hatte ihm geantwortet:



»Verlassen Sie sich deßhalb auf mich, und suchen Sie nicht zarter zu sein, als ich es bin; was ich Ihnen vorschlage, glauben Sie mir, kann ich Ihnen vorschlagen,

es ist mein Recht



Und Jean Robert wollte sich die Erklärung dieses Rechtes geben lassen; aber Lydia hatte ihm das Wort kurz abgeschnitten.



»Verlassen Sie sich auf mein Feingefühl,« hatte sie gesagt; »aber fragen Sie mich nicht weiter, denn Sie verlangen sonst, daß ich Ihnen ein Geheimniß enthüllen soll, das nicht das meine.«



Und Jean Robert, der am Ende verliebt wie ein Narr war, hatte die Augen geschlossen und sich an der Hand in den kleinen Taubenschlag der Rue Lafitte führen lassen.



Hier hatte er die süßesten Stunden seines Lebens verbracht.



Hier war, wie gesagt, alles süß, selbst das Warten.



In dieser Nacht, wie in allen anderen, war er in jener Geistes- und Gemüthsverfassung voll Reiz und voll Zärtlichkeit, als er das herrliche Geschöpf erwartete, das er anbetete. Er küßte mit der Religion des Herzens den elfenbeinernen Rosenkranz, der am Hals des Kindes Lydia geruht, als er das Rauschen eines Pudermantels und den Schritt von Jemanden hörte, der sich näherte.



Er erkannte dieses doppelte Geräusch, und ohne seine Lippen von dem Rosenkranz zu heben, begnügte er sich mit einer halben Wendung nach der Thüre.



Der auf dem Elfenbein begonnene Kuß schloß aus der schauernden Stirn der jungen Frau.



»Habe ich auf mich warten lassen?« fragte sie lächelnd.



»So lange als ein Vogel auf sich warten ließe,« sagte Jean Robert; »aber Sie wissen, liebe Lydia, der Schmerz mißt sich nicht nach seiner Dauer, sondern nach seiner Intensität.«



»Und das Glück?«



»O das Glück läßt sich gar nicht messen.«



»Das, ist der Grund, weßhalb es weniger lange dauert, als der Schmerz? Kommen Sie, mein Herr Poet, man hat Ihnen Complimente zu machen.«



»Nun, aber . . . « fragte Jean Robert, der zu Frau von Marande herabzusteigen denselben Widerwillen fühlte, den er anfangs in den Taubenschlag hinauszusteigen gezeigt, »warum nicht hier?«



»Weil ich wollte, daß der Tag für Sie endige, wie er begonnen, zwischen Ihren beiden Liebhabereien, den Blumen und dem Wohlgeruch.«



»O meine schöne Lydia!« sagte der junge Mann mit verliebten Blicken aus die junge Frau; »sind Sie nicht ein Wohlgeruch und eine Blume? Und weßhalb sollte ich, um meine beiden Liebhabereien zu finden, wie Sie sagen, nöthig haben, anders wohin zu gehen, als wo Sie sind?«



»Sie müssen mir in allen Dingen gehorchen, und diesen Abend habe ich mich dahin entschieden, daß man Sie mit Lorbeeren kröne. Kommen Sie, Dichter, oder keine Krone.«



Jean Robert machte sanft seine Hand von der Hand der schönen Zauberin los und trat ans Fenster, dessen Vorhang er leise emporhielt.



»Aber,« sagte er, »Herr von Marande ist ja zu Hause?«



»Ist er zu Hause?« sagte Lydia gleichgültig.



»Gewiß,« sagte Jean Robert.



»Ah!« sagte die junge Frau.



»Nun?«



»Nun, ich erwarte Sie . . . Ah, Sie kommen nicht wie ein Vogel und es genügt nicht, Ihnen ein Zeichen zu geben.«



»Lydia, ich schwöre Ihnen, daß Sie mich bisweilen erschrecken.«



»Warum?«



»Weil ich Sie nicht mehr verstehe.«



»Ja, nicht wahr? Und weil Sie sich sagen: Aber wahrhaftig, diese kleine Frau von Marande ist doch . . . «



»Vollenden Sie nicht, Lydia; ich weiß, daß Sie nicht bloß eine anbetungswürdige Frau, sondern auch ein ehrenwerthes Herz, eine zarte Seele sind.«



»Nur zweifeln Sie . . . Herr Jean Robert.



Wollen Sie mir, ja oder nein, in mein Zimmer folgen? Es ist mein Recht, Sie dahin zu führen.«



»Und Ihr Recht ist ein Geheimniß, das Ihnen nicht angehört?«



»Nein.«



»Glücklicher Weise ist es, wie bei jedem Geheimniß, erlaubt, es zu vermuthen.«



»Ueberzeugt, daß ich Ihnen in keiner Weise dabei helfe, ist mein Gewissen in Ruhe. Suchen Sie . . . «

 



»Ich glaube, daß ich gefunden habe, Lydia.«



»Bah!« machte die junge Frau, indem sie ihre Augen öffnete, in denen noch mehr Zweifel als Erstaunen lag.



»Ja.«



»Nun, wir wollen hören.«



»Wenn ich das Richtige getroffen, werden Sie mir sagen, das ist’s?«



»Nur weiter.«



»Gut denn, ich