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Märgi loetuks
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Sechster Band

LXXXI
Was Herr Gérard fand, oder vielmehr nicht fand, als er nach Vanvres kam

Allein und zu dem melancholischen Trott zweier kreuzlahmer Pferde verdammt, stürzte sich Herr Gérard in ein Meer von Vermuthungen.

Sein erster Gedanke war, zu Herrn Jackal zu eilen und Satisfaktion für den schlechten Spaß, den ihm sein Agent gespielt, von ihm zu fordern.

Aber Herr Jackal schlug gewöhnlich, wenn er mit dem würdigen Herrn Gérard sprach, einen ungemein spöttischen Ton an, der diesem so unbehaglich zu Muthe machte, daß die Augenblicke, die er bei dem Chef der Sicherheitspolizei zubrachte, genau genommen, die peinlichsten seines Lebens waren.

Und was für eine Rolle würde er spielen? Die eines maulenden Schulknaben, der einen seiner Kameraden bei dem Lehrer verklagt.

Denn so weit auch Herr Gérard den Titel Kameraden in Beziehung auf Gibassier von sich abwies, er mußte sich dennoch gestehen, daß je ferner und weiter er ihn von sich werfe, desto schwerer würde er, gleich dem Felsen der Sisyphus, auf ihn herabfallen.

Er war deßhalb nicht lange unentschlossen und kehrte nach Vanvres zurück.

Er hatte Herrn Jackal am Tage vorher gesehen, und der Augenblick kam immer noch bald genug, Herrn Jackal wieder zu sehen, bei dem er, woran ihn Gibassier erinnerte, sich jede Woche zweimal zu melden hatte.

Eine unbestimmte Unruhe sagte ihm ferner, daß er in Vanvres bedroht sei.

So viel Schein auch die Gründe hatten, welche Gibassier genannt, Herr Gérard konnte doch nicht glauben, daß Gibassier sich je in solchem Grade als sein Freund gefühlt, um ein ganz natürlichen Vergessen so sehr übel zu nehmen.

Etwas Besonderes blieb deßhalb im Grunde diesen Geheimnissee verborgen.

Und dann, in der Lage, in der sich Herr Gérard am Tage vor der Hinrichtung eines Mannes befand, der mit seinem Kopfe das Verbrechen bezahlte, das er, Herr Gérard, begangen, ist allen, was dunkel, auch gefährlich.«

Er wünschte deßhalb in Vanvres zurück zu sein und fürchtete sich doch zu gleicher Zeit davor.

Aber die Pferde, welche den Weg von Vanvres nach der Barrière d’Enfer in einer und einer Viertelstunde gemacht, machten natürlich jetzt ihre Ermüdung fühlbar und brauchten ein und eine halbe Stunde, um von der Barrière d’Enfer nach Vanvres zurück zu kommen.

Umsonst drohte der Sturm immer gewaltigen, umsonst drang trotz des Rollens des Wagens das Grollen des Donners bis zu Herrn Gérards Ohren, umsonst erhellten die Blitze die im Dunkel verlorene Landschaft oft plötzlich mit grellen Flammen, der Kutscher gab seinen Pferden nicht einen Peitschenhieb mehr und die Pferde gingen keinen Schritt rascher.

Im Augenblick, als es zehn Uhr schlug, stieg Herr Gérard vor seinem Hause ab und machte die Bezahlung mit dem Kutscher richtig.

Herr Gérard wartete geduldig, bis dieser seine Berechnung aufs Genaueste wiederholt, und seine Pferde endlich in der Richtung nach Paris trieb.

Erst dann wandte er sich nach seinem Hause um.

Es lag im tiefsten Dunkel da.

Obgleich kein Laden geschlossen war, sah man doch an keinem Fenster Licht.

Es war dabei nichts zu verwundern, denn es war späte die Gäste mußten das Haus verlassen haben und die Dienerschaft befand sich vermuthlich in der Offiz.

Die Offiz bildete einen Theil der Hintergebäude und ging auf den Garten hinaus.

Herr Gérard stieg die Treppe hinan, welche von der Straße zu der Hauptthüre führte.

Während er die Stufen hinaufstieg, glaubte er trotz der Dunkelheit zu sehen, das die Thüre offen stand.

Er streckte die Hand aus; die Thüre stand wirklich offen.

Es war eine große Unvorsichtigkeit von der Dienerschaft, in solcher Nacht, wo der Himmel mit der Erde einen so heftigen Kampf auszukämpfen sich rüstete, die Thüre offen zu lassen und die Läden nicht zu schließen.

Herr Gérard nahm sich vor, sie tüchtig auszuschelten.

Er trat ein, schloß die Thüre und befand sich in der tiefsten Dunkelheit.

Er näherte sich tastenden Schrittes der Loge des Portiers.

Die Thüre stand offen.

Herr Gérard rief nach dem Portier, niemand antwortete.

Herr Gérard machte einige Schritte, tastete mit dem Fuße, fand die erste Stufe der Treppe und rief, den Kopf erhebend, dem Kammerdiener.

Er erhielt keine Antwort.

»Sie essen wohl alte in der Küche,« sagte Herr Gérard laut zu sich, als wenn durch das laute Sprechen die Sache an Wahrscheinlichkeit gewänne.

In diesem Augenblicke hörte man, einen heftigen Donnerschlag, ein Blitz leuchtete und Herr Gérard sah, daß die Thüre des Perrons, welcher in den in den Garten führte, weit offen stand, wie die Straßenthüre.

»O, o!« murmelte er, »was soll das bedeuten? man sollte glauben, das ganze Haus sei verlassen und leer.«

Er gelangte tastend an das Ende des Vestibules, denn man sah nur während der kurzen Dauer der Blitze-, und von dort aus gewahrte er in der Offiz ein brennendes Licht.

»Ah!« sagte er, »ich hatte es ja gedacht, meine Leute sind da!«

Und brummend ging er nach der Küche.

Auf der Schwelle der Offiz blieb er jedoch stehen; das Tischtuch war wie zum Abendessen der Dienstleute aufgelegt, nur die Leute selbst waren verschwunden.

»O! machte Herr Gérard, »es geht hier etwas Wunderbares vor.«

Er nahm das Licht, und kehrte durch den Corridor in den Speisesaal zurück.

Der Speisesaal war leer.

Er ging durch das ganze Erdgeschoß.

Das Erdgeschoß war leer.

Von dem Erdgeschoß ging er nach dein ersten Stock; der erste Stock war leer wie das Erdgeschoß; er ging in den zweitens der zweite war leer wieder erste.

Er rief nochmals; ein unheimliches Echo war die ganze Antwort.

Als er an einem Spiegel vorüber kam, fuhr Herr Gérard vor Schrecken zurück. Er fürchtete sich vor sich selbst, so blaß war er.

Er stieg langsam die Stufen hinab, indem er sich am Geländer hielt; seine Beine wankten bei jedem Schritte. Endlich befand er sich wieder im Vestibule und trat von da auf den Perron hinaus, indem er sein Licht in die Höhe hob, um auf den Rasen hinaus zu sehen.

Aber in dein Augenblicke, als er das Licht in die Höhe hob, kam ein Windstoß, der das Licht auslöschte.

Herr Gérard befand sich wieder im Dunkeln.

Ein Schrecken, von dein er sich keine Rechenschaft geben konnte, der aber so unüberwindlich war, als wenn der stärkste Grund dazu vorhanden wäre, bemächtigte sich seiner. Er hatte einen Augenblick den Gedanken. in sein Zimmer hinauf zu gehen und sich dort zu verbarricadiren, als er plötzlich einen furchtbaren Schrei ausstieß und, wie wenn seine Füße an die Platten des Perrons angewurzelt wären, stehen blieb.

Der Himmel hatte sich aufgethan, um einem Blitze Raum zu geben und bei dem Leuchten dieses Blitzes hatte Herr Gérard gesehen, daß der Tisch umgeworfen war und das Tischtuch wie ein Leichentuch im Winde flatterte.

Wer hatte den Tisch auf dem Rasen umstürzen können?

Aber vielleicht hatte auch Herr Gérard falsch gesehen; der Blitz hatte so flüchtig geleuchtet.

Er stieg den Perron Stufe um Stufe hinab, indem er sich die Stirne trocknete, und ging auf den Tisch zu, den man kaum als eine formlose Masse in der Dunkelheit unterscheiden konnte.

In dem Augenblicke, als er die Hand ausstreckte, um den Gesichtssinn durch das Gefühl zu ersehen, war es ihm, als wenn die Erde unter ihm wiche.

Er machte einen raschen Sprung rückwärts.

Im selben Augenblick erhellte sich der Himmel und Herr Gérard sah zu seinen Füßen ein Loch, das die Gestalt einer Grube hatte.

Etwas, das wie ein Schrei klang, drang aus seiner Brust; aber es war kein menschlicher Schrei; es war zu gleicher Zeit der Ausdruck des Schrecken und etwas, was Schrecken einjagt.

»Nein, nein!« murmelte Herr Gérard, »es ist unmöglich, ich träume!«

Und da der Blitz, der ihn allein aus dieser Ungewißheit reißen konnte, immer noch säumte, aufs Neue zu leuchten, warf er sich aus die Kniee.

Es war ihm, als wenn seine Kniee in die frisch aufgeworfene Erde einsänken.

Er tastete mit der Hand.

Sein Auge hatte ihn nicht getäuscht; neben der frisch ausgeworfenen Erde befand sich ein frisch gegrabenes Loch.

Seine Zähne klapperten vor Schrecken.

»O,« sagte er, »ich bin verloren! In meiner Abwesenheit hat man die Grube entdeckt, sie aufgegraben!« . . .

Er streckte die Arme in ihrer ganzen Länge aus, ohne auf den Grund kommen zu können.

»Und man hat den Leichnam mit fortgenommen!« rief er.

Dann fuhr er zusammen und legte die Hand auf den Mund. wie um sich am Sprechen zu hindern.

Und durch seine Finger lies seine Stimme ein unheimliches Schluchzen hören.

Er richtete sich auf, indem er murmelte:

»Was thun, mein Gott? Was thun?«

Er konnte nicht umhin, laut zu sprechen.

»Fliehen, fliehen, fliehen! stotterte er.

Dann stürzte er äußerlich athemlos und von Schweiß triefend fort, ohne zu wissen wohin.

Etwas Aehnliches, wie ein Winseln lieb sich hören, Herr Gérard, der sich bereits erhoben und im Fliehen begriffen war, blieb plötzlich stehen.

Dies Winseln war das Jammern eines Menschen.

Es war also ein Mensch da, wer war es? Was that er hier?

Sobald ein Mensch da war, war es auch ein Feind.

Der erste Gedanke des Herrn Gérard war, diesen Menschen sich vom Halse zu schaffen.

Er suchte nach einer Waffe. Er hatte keine.

Der Schopf für die Gartenwerkzeuge war in der Nähe.

Herr Gérard stürzte mit einem Sprunge auf diese zu, bewaffnete sich mit einem Spaten, und kam zu dem Menschen zurück, furchtbar wie Cain, als er Abel zu tödten im Begriffe war.

»Ein Blitz führte ihn. Ganz aller Besinnung bar, hob er den Spaten.

»Recht so, mein guter Herr Gérard,« sagte eine angetrunkene Stimme; »vertreiben Sie diese verdammten Fliegen.«

 

Herr Gérard blieb augenblicklich stehen.

Die Stimme zeugte von der vollständigsten Betrunkenheit!

»O!« machte Herr Gérard, »es ist ein unglücklicher Berauschter.«

Und er ließ seinen Spaten sinken.

»Denken Sie sich diese Schufte von Türken!« sagte der Mann, indem er sich auf ein Knie erhob, und sich an die Kleider des von Kopf bis zu Fuß schauernden Herrn Gérard anklammerte; »stellen Sie sich vor, daß sie mich wegen eines elenden Burschen von zehn Jahren, den ich ermordet, und ich weiß es nicht einmal gewiß, denken Sie sich, daß sie mich lebendig verscharrt, daß sie mich mit Honig bestrichen, und nun von diesen elenden Fliegen auffressen lassen. Glücklicherweise sind Sie gekommen Herr, mein guter Herr Gérard.« fuhr der Betrunkene fort, der die Wirklichkeit mit dem Traume vermischte, »glücklicherweise sind Sie mit Ihrem Spaten gekommen und haben mich aus meiner Grube befreit. Ah!« Gott sei Dank, daß ich heraus bin; wahrhaftig, das hat Mühe gekostet, Herr Gérard, mein guter Herr Gérard, mein ehrenwerther Herr Gérard, und wenn ich hundert Jahre lebte, würde ich den Dienst nimmermehr vergessen, den Sie mir erwiesen!«

»Trotz des unaufhörlichen Hin- und Her Wankens und der angetrunkenen Stimme, erkannte Herr Gérard einen seiner Gäste.

Es war der Landwirth.

Was wußte er? Was hatte er gesehen? Wessen konnte er sich erinnern?

Das ganze Leben des Elenden beruhte darauf.

»Ei der Tausend!« fragte der Landwirth, »wo zum Teufel sind denn die Andern?«

»Das frage ich Sie?« sagte Herr Gérard.

»Nein. entschuldigen Sie,« beharrte der Landwirth, »ich bin’s, der Sie fragt. Wo sind sie?«

»Das müssen Sie wissen, suchen Sie doch Ihr Gedächtniß aufzufrischen, was haben Sie seit meinem Weggange gemacht?«

»Ich habe es Ihnen ja bereits gesagt, ehrenwerther Herr Gérard. Die Fliegen haben mich gefressen!«

»Aber ehe Sie die Fliegen fraßen, – erinnern Sie sich denn nicht mehr?«

»Ich glaube, ich habe ein Kind getödtet!«

Herr Gérard schwankte, er war nahe am Umsinken.

»Nun,« sagte der Betrunkene, »sind Sie es, oder bin ich’s, der sich nicht auf den Beinen halten kann?«

»Sie sind es,« sagte Herr Gérard: »aber seien Sie ruhig, ich werde Ihnen meinen Arm zum Fortkommen geben, wenn Sie mir zuvor erzählt, was nach meinem Weggange geschehen ist-«

»Ah, ja, das ist wahr,« sagte der Landwirth, »ich erinnere mich . . . warten Sie doch . . . Herr Jackal ließ Sie suchen, damit Sie der Hinrichtung jenes infamen Herrn Sarranti beiwohnen.«

»Schon gut,« sagte Herr Gérard, indem er einen letzten Versuch machte, um aus diesem Thier etwas herauszubringen; »aber nach meinem Weggang?«

»Noch Ihrem Weggang? warten Sie, warten«Sie, warten Sie doch . . . Ah! Da kam der junge Mann, den Sie schickten.«

»Ich,« machte Herr Gérard, sich an diesen Faden klammernd, »ich hätte einen jungen Mann geschickt.«

»Ja, einen hübschen Jungen mit schwarzen Haaren, weißer Cravatte, schwarzem Fracke, ganz wie ein Notar gekleidet, nur besser.«

»Und er war allein?« .

»Das habe ich nicht gesagt, daß er allein war; er hatte einen Hund bei sich, einen wüthenden Hund. In jenem Augenblicke rettete ich mich; aber die Erde zitterte, so scharrte der verwünschte Hund.«

»Wo das?« fragte Herr Gérard.«

»Unter dem Tische.« machte der Landwirth, »und als die Erde zitterte, fiel ich. Von da ab fraßen die Fliegen an mir.«

»Und Sie können sich auf nichts weiteres besinnen?« fragte Herr Gérard ängstlich besorgt.

»Weiteres? Sie glauben, man könne sich auf etwas besinnen, wenn die Fliegen an einem fressen. Ah! Sie haben es gut vor, Sie!«

»Nun,« sagte Herr Gérard beinahe bittend, »suchen Sie sich doch zu besinnen, mein guter Freund.«

Der Betrunkene begann zu suchen, indem er an seinen Fingern zählte.

»Nein,« sagte er, »das ist Alles: Herr Sarranti, Herr Jackal, der junge schwarzgekleidete Mann mit der weißen Cravatte und der Hund Brasil«

»Brasil! Brasil!« rief Herr Gérard und sprang dem Landwirth an die Gurgel. »Sie sagen, der Hund habe Brasil geheißen?«

»Aber geben Sie doch Acht, was Sie thun, Sie! Sie erdrosseln mich ja. Zu Hilfe! Zu Hilfe!«

»Unglücklicher! Unglücklicher!« machte Herr Gérard, indem er auf die Kniee fiel, »schreien Sie doch nicht, schreien Sie doch nicht!«

»So lassen Sie los, lassen Sie mich gehen.«

»Ja, ja, gehen Sie,« sagte Herr Gérard; »ich werde Sie führen.«

»Das laß ich mir gefallen!« sagte der Betrunkene. »Aber wie! Sie sind ja betrunken?«

»Wie das?«

»Sie können sich nicht mehr aufrecht auf den Beinen halten.«

Das war wirklich der Fall: statt den Landwirth zu stützen, hätte es Noth gethan, daß dieser Herrn Gérard geführt.

Mit unaussprechlicher Mühe und Angst gelang es Herrn Gérard den Landwirth nach der andern Seite der Straße zu ziehen; aber er war nicht ruhig, bis er ihn sich hatte entfernen sehen; der Betrunkene stolperte bei jedem Schritt, blieb jedoch auf den Beinen und stotterte bei jeder Schwankung:

»Verfluchte Fliegen!«

Als der Betrunkene sich in der Dunkelheit verloren und man seine Stimme in der Entfernung nicht mehr hören konnte, kehrte Herr Gérard wie das erste Mal nach seinem Hause zurück; er schloß die Straßenthüre hinter sich; dann gingen nach und nach abgehärtet durch die auf einander folgenden und wachsenden Aufregungen, die er seit seiner ersten Entfernung durchgemacht, nach der Grube, stieg, in einem letzten Seufzer seinen Muth zusammen nehmend, in das Loch, und tastete mit den Händen ringsumher.

Er fand das Loch bei der Untersuchung mit der Hand leer.

Ein Blitz, der vom Himmel zuckte, begleitet von einem furchtbaren Donnerschlag und große Regentropfen zeigten ihm, daß auch das Auge nichts finden konnte.

Herr Gérard hörte den Donner nicht und fühlte nichts vom Regen und sah nichts, als die offene Grube, die ihre Beute preisgegeben.«

Er setzte sich an den Rand, und ließ die Füße in die Grube hängen, wie der Todtengräber im Hamlet.

Er kreuzte die Arme, ließ den Kopf sinken und suchte seine Lage zu überdenken.

Während dieser zweistündigen Abwesenheit, welche einen. frechen Scherz zum Vorwande hatte, waren ihm die theuersten Hoffnungen der Ruhe und des Friedens geraubt worden; von allen Qualen, die er erduldet, um sein Verbrechen zu verbergen, blieb ihm nur, wir sagen nicht, die Reue, sondern die Erinnerung, daß er ein Mörder sei, und die Furcht vor dem Schaffot! Und in welchem Momente trat die Catastrophe ein?« In dem Augenblicke, als er sich auf dem Gipfel der Ehre, auf dem Punkt des Ehrgeizes angekommen glaubte. Am Morgen noch sah er sich in Gedanken auf der Abgeordnetenbank; am Abend sah er sich, die Füße in die Grube hängen lassend, um der Assissenbank, rechts und links einen Gensd’armen neben sich und des Haupt senkend, .m den höhnischen Blicken der Menge zu entgehen, die mit aller Gewalt Herrn Gérard, den Ehrenmann sehen wollte; und weiter in der Ferne, auf einem Platze, den ein Gebäude mit spitzigen Glockenthürmchen beherrscht, inmitten der Masse die beiden rothen und scheußlichen Arme der furchtbaren Maschine, welche die Mörder in ihre Träume hinein verfolgt . . .

Zum Glücke war der Philosoph von Vanvres ein abgehärteter Mann, wie man so eben gesehen, als er den Spaten gegen den Landwirth erhob: er hätte nicht zurückgescheut vor einem zweiten Mord, um sich den Folgen des ersten zu entziehen; aber es fällt uns nicht alle Tage einer zum Umbringen unter die Hände, um sich aus der Affaire zu ziehen.

Und er mußte ein neues Mittel finden, um sich ohne ein neues Verbrechen aus der Affaire zu ziehen.

Es gab nicht eines, sondern zweit.

Fliehen, fliehen in aller Eile, fliehen, ohne umzusehen, fliehen, ohne irgend Jemand Lebewohl zusagen; nicht eher, als in einer Entfernung von zwanzig Stunden, wenn das Pferd zusammen bräche, anhalten, ein anderes nehmen, bei jeder Station wechseln, die Grenze überschreiten, über das Meer schiffen und erst in Amerika anhalten.

Ja, aber wie das machen ohne Paß?

Auf der ersten Poststation würde der Postmeister das Pferd verweigern und nach der Gensd’armerie schicken.

Ein anderes war, Herrn Jackal aufzusuchen, ihm die Sache zu erzählen und ihn um seinen Rath zu bitten.

Es schlug elf Uhr. Mit einem guten Läufer, – und Herr Gérard hatte zwei gute Läufer in seinem Stalle – konnte man um elf ein halb im Hofe der Präfectur sein.

Das war entschieden das Beste.

Herr Gérard stand auf, lief nach dem Stalle, sattelte selbst das beste seiner beiden Pferde, führte es selbst zur Gesindethüre hinaus, schloß diese Thüre sorgfältig, schwang sich mit der Leichtigkeit eines jungen Mannes in den Sattel, drückte seinem Pferde die Sporen in den Leib und ritt ohne Hut und ohne sich um den Regen und Wind zu kümmern, die seinen nackten Schädel peitschten, im vollen Carrière nach Paris.

Lassen wir ihn mit seinem Pferde dahinspringen und folgen wir Salvator, der im Triumphe die Gebeine des Opfers davon trägt.

LXXXII
Die Beweismittel

»Salvator kam mit dieser traurigen Reliquien versehen, gerade indem Augenblicke bei Herrn Jackal an, als Herr Gérard seinen wilden Ritt begann.

Für Herrn Jackal, gab es, wie wir wissen, weder- Tag noch Nacht. Wann schlief er? Niemand wußte es: er schlief wie Leute, die Eile haben, essen, auf dem Daumen.

Einmal für allemal war der Befehl gegeben worden, daß Salvator, wann er auch kommen möge, vorgelassen werde.

Herr Jackal ließ sich einen Rapport erstatten, der ihm ohne Zweifel von einigem Interesse sein mochte, denn er hieß Salvator ersuchen, ihm fünf Minuten zu vergönnen.

Nach Verfluß von fünf Minuten trat Salvator gerade in dem Augenblicke in die Thüre, in welchem der Agent zur andern hinausging.

Salvator legte sein an den vier Enden zusammengebundenes Tischtuch, welches die Ueberreste des Kindes enthielt, in eine Ecke und Roland setzte sich mit einem Klagegeheul daneben.

Herr Jackal sah dem jungen Manne zu, indem er die Brille hinauf schob, fragte, Jedoch nicht, was er thue.

Salvator trat näher.«

Das Kabinet war nur von einer Lampe mit grünem Deckel beleuchtet; dieser bildete einen Lichtkreis auf dem Schreibtische des Herrn Jackal, aber der Kreis verbreitete sich nicht weiter.

Als deßhalb die beiden Männer saßen, waren ihre Kniee vollständig beleuchtet, aber die Köpfe verloren sich im Dunkel.

Ah, ah!«, sagte Herr Jackal zuerst, »Sie sind es, lieber Herr Salvator, ich wußte nicht, daß Sie in Paris seien.«

»Ich bin allerdings erst seit einigen Tagen hierher zurückgekehrt,« antwortete Salvator.

»Und welcher neuen Veranlassung danke ich das Vergnügen, Sie zu sehen?« denn man sieht, Sie Undankbaren nur, wenn Sie nicht anders können.«

Salvator lächelte.

»Man ist nicht immer Herr, um seinen Sympathien folgen zu können.« sagte er: »und dann habe ich viel zu thun.«

»Und woher kommen Sie in diesem-Augenblick?«

»Ich komme von Vanvres.«

»Ei, ei! machen Sie etwa der Geliebten des Herrn von Marande den Hof, wie Ihr Freund, Jean Robert seiner Frau? Stern armen Manne bleibt am Ende gar nichts mehr übrig.«

Und Herr Jackal schob eine ungeheure Prise Tabak in seine Nasenhöhlen.

»Nein,« sagte Salvator, »nein, ich komme von einem Ihrer Freunde.«

»Von einem meiner Freunde?« wiederholte Herr Jackal mit einer Miene, als suchte er in seinem Gedächtnisse.

»Oder von einem Ihrer Bekannten, will ich lieber sagen.«

»Sie wollen, mich in Verlegenheit setzen,« antwortete Jackal; »ich habe wenig Freunde und es wäre mir leicht gewesen, zu errathen; aber ich habe eine große Anzahl von Bekannten.«

»Ah! Ich will Sie nicht lange suchen lassen,« sagte der junge Mann in ernstem Tone; »ich komme von Herrn Gérard.«

»Herrn Gérard?« machte der Chef der Polizei, indem er seine Tabatiere öffnete und seine Finger bis auf den Bodens hineintauchte; »Herrn Gérard! Was soll das heißen? Sie täuschen sich lieber Herr Salvator, ich kenne durchaus keinen Gérard.«

»Schon recht, aber ein einziges Wort oder vielmehr eine einzige Bezeichnung »wird Sie auf die rechte Spur führen: ich meine den Mann, der das Verbrechen begangen, wegen dessen Sie morgen Herr Sarranti hinrichten lassen wollen.«

»Ah! Bah!« rief Herr Jackal, indem er mit großem Geräusche seine Prise Tabak hinaufzog, »sind Sie auch dessen ganz sicher, was Sie da sagen? Sie glauben, daß ich diesen Menschen kenne einen Mörder? Puh!«

»Herr Jackal,« sagte Salvator, »unsere Zeit ist kostbar; wir haben beide keine zu verlieren, ob wir gleich beides sehr verschieden beschäftigt sind und nach zwei entgegengesetzten Zielen hinstreben; beschäftigen wir uns daher mit Nützlichem. Hören Sie mich an, ohne mich zu unterbrechen; wir kennen uns überdieß schon zu lang, um uns gegenseitig zu betrügen; wenn Sie eine Macht, sind, so bin ich auch eine, das wissen Sie. Ich will Sie nicht daran erinnern, daß ich Ihnen das Leben gerettet, ich will Ihnen nur sagen, daß der, der die Hand an mich legt, mich nicht vier und zwanzig Stunden überleben wird.«

 

»Ich weiß es,« sagte Herr Jackal; »aber glauben Sie mir, daß ich meine Pflicht über mein Leben setze;, und daß Drohen . . . «

»Ich drohe Ihnen nicht, und zum Beweis dafür will ich statt der bestimmten Rede die fragende Form wählen. Glauben Sie, daß der, der die Hand an mich legt, mich Vier und zwanzig Stunden überleben wird?«

»Ich glaube es nicht,« sagte Herr Jackal ruhig.

»Ich wollte Ihnen nichts anderen sagen, kommen wir jetzt zur Sache: morgen wird Heer Sarranti hingerichtet.«

»Ich hatte nicht mehr daran gedacht.«

»Sie haben ein kurzes Gedächtniß; denn um fünf Uhr, noch diesen Abend, ließen Sie den Scharfrichter benachrichtigen, daß er sich für morgen bereit halten solle.«

»Aber weßhalb, zum Teufel, liegt Ihnen dieser Sarranti so sehr am Herzen?«

»Er ist der Vater meines besten Freundes, Abbé Dominique.«

»Ach ja, ich weiß es: der arme junge Mann hat sogar vom Könige einen Aufschub von drei Monaten erwirkt, denn ohne das wäre sein Vater schon seit sechs Wochen todt. Er ging, nach Rom, ich weiß nicht wozu; aber er hat ohne Zweifel nicht reussirt oder ist er unterwegs gestorben, man hat ihn nicht wieder gesehen. Das ist sehr schlimm!«

»Nicht so schlimm, als Sie glauben, Herr Jackal; denn während er nach Rom ging, ohne Zweifel um dort am Gnade zu flehen, ließ er mich hier, um die Gerechtigkeit wach zu rufen. Ich habe das Meine gethan und mit Gottes Hilfe, der die Guten niemals verläßt. ist es mir gelangen.«

»Es ist Ihnen gelungen?«

»Ja. und Ihnen zum Trotz; es ist das zweite Mal, Herr Jackal.

»Wenn war es denn das erste Mal?«

»Sie haben Mina und Justin, das junge Mädchen, vergessen, die mein Vetter, Lorédan von Valgeneuse, entführte. Ich glaube, daß ich Ihnen nichts, Neues mittheile, nicht wahr, wenn ich Ihnen sage, daß ich-Conrad bin?«

»Ich muß Ihnen gestehen, daß ich es ahnte.«

»Seit ich es Ihnen in Ihrem Wagen sagte oder andeutete, als wir von Meudon zurück kehrten, an jenem Tage, oder vielmehr in der Nacht, da wir zu spät kamen um Colombau zu retten, aber noch zeitig genug, um Carmelite zu retten, nicht wahr?«

»Ja,« sagte Herr Jackal; »ich erinnere mich dessen; und Sie sagen . . . «

»Ich sage, Sie kennen die Geschichte, die ich Ihnen erzählen will, besser, als ich; aber ich halte es für wichtig, daß Sie wissen, wie gut ich von Allem unterrichtet bin. Zwei Kinder sind aus dem Schloß von Vichy verschwunden. Man klagte Herrn Sarranti an, sie bei Seite geschafft zu haben: das war falsch! Das Eine der Kinder, der Knabe, Victor, wurde von Herrn Gérard umgebracht und im Park am Fuße einer Eiche eingescharrt; das Andere, das junge Mädchen. Leonie, hat in dem Augenblick, als es von der Concubine Orsola erwürgt werden sollte, ein solches Geschrei erhoben, daß ein Hund ihm zu Hilfe kam und die erwürgte, welche es erdrosseln wollte. Das Kind hat sich ganz bestürzt gerettet und fand auf der Landstraße nach Fontainbleau eine Zigeunerin, die es aufnahm; Sie kennen diese Zigeunerin: sie nennt sich die Brocante und wohnt Rue d’Ulm, Nro. 4. Sie waren mit Meister Gibassier am Abende vor dem Tage, an welchem Rose-de- Noël verschwand, bei ihr und Rose-de-Noël ist Niemand Anderes als die kleine Leonie. Ich war ihretwegen nicht in Unruhe, denn ich wußte, daß sie sich in Ihren Händen befindet; ich spreche mit Ihnen nur davon, um Ihr Gedächtniß aufzufrischen.«

Herr Jackal ließ ein ihm eigenthümliches Knurren hören, das dem des Thieres nicht unähnlich war, dessen Namen er trug.

»Was den am Fuße eines Baumes begrabenen Knaben betrifft, so brauche ich Ihnen nicht zu sagen, wie ich ihn mit Hilfe Brasils, der jetzt Roland heißt, aufgefunden habe, als ich etwas ganz anderes suchte. Sie wissen den Ort, nicht wahr? ich habe Sie dorthin geführt; nur war der Leichnam nicht mehr vorhanden.«

»Glauben Sie, das ich es gewesen, der ihn fortgeschafft hat?« fragte Herr Jackal, indem er eine ungeheure Prise schnupfte.

»Nicht Sie; aber Sie haben Herrn Gérard davon in Kenntniß gesetzt.«

»Ehrenwerther Gérard,« sagte Herr Jackal, »wenn Du hörtest was man von Dir sagt, wie würdest Du entrüstet sein!«

»Sie täuschen sich, er würde nicht entrüstet sein, er würde zittern.«

»Aber wer hat Sie denn auf die Vermuthung gebracht, daß Herr Gérard das Kind fortgeschafft?«

»O, es war keine Vermuthung, es war Gewißheit für mich und das auf den ersten Blick. Ich war meiner Sache so gewiß, daß ich mir sagte, Herr Gérard hat das arme Skelett, um ruhiger zu sein, nur nach seinem Hause in Vanvres bringen können. In einer schönen Nacht, wie diese, wo man weder Himmel nach Erde sah, half ich nun Roland über die Gartenmauer des Hauses springen, welches Herr Gérard in Vanvres bewohnt, sprang dann selbst nach und sagte zu dem Thier: »Suche, mein guter Hund, suche!« Roland suchte und, obgleich ich nicht die Worte des Evangeliums auf den Vierfüßer anwenden will, fand auch. Nach Verfluß von zehn Minuten scharrte er mit solcher Wuth den Rasen auf, daß ich ihn am Halsband fortreißen mußte, damit man nicht am andern Tage seine Spur finde. Wie wir gekommen, gingen wir auch wieder; nur statt daß ich früher Roland von draußen hineingeworfen, warf ich ihn jetzt von drinnen hinaus, und folgte ihm; das ist die ganze Geschichte; Sie ahnen das Uebrige, Herr Jackal, nicht wahr? Nicht Herr Sarranti, der seit sechs Monaten gefangen sitzt, nicht er hat vor drei Monaten die Leiche am, Fuße der Eiche von Viry ausgegraben, um sie nach dem Rasen des Hauses von Vanvres zu bringen; und wenn es nicht Herr Sarranti ist, so ist es Herr Gérard.«

»Hm!« machte Herr Jackal, ohne anders, als durch einen Ausruf zu antworten; »aber . . . nein . . . nichts.«

»O, vollenden Sie; Sie wollten mich fragen, warum ich, da ich doch wußte, daß die Leiche sich bei dem Hause des Herrn Gérard befinde, nicht früher gehandelt?«

»Allerdings,« sagte Herr Jackal, »ich gestehe, daß ich diese Frage an Sie richten wollte. und zwar aus reiner Neugierde, denn das, was Sie uns erzählen, gleicht weit mehr einem Roman, als einer Geschichte.«

»Und dennoch ist es eine Geschichte, lieber Herr Jackal, und eine der authentischsten sogar. Sie wollen wissen, warum ich nicht früher gehandelt; ich will es Ihnen sagen. Ich bin kein Narr; lieber Herr Jackal; ich halte den Menschen immer für besser, als er-ist. Ich bildete mir ein, Herr Gérard habe nicht den Muth, einen Unschuldigen an seiner Statt sterben zu lassen; er werde Frankreich verlassen und von Deutschland, England, oder Amerika aus alles enthüllen; aber das geschah nicht! Die gemeine Canaille hat sich nicht gesichert!«

»Pah!« machte Herr Jackal; »das ist vielleicht nicht ganz ihm in die Schuhe zu schieben und man darf ihn nicht unbedingt dafür zur Rechenschaft ziehen.«

»Ich sagte mir deßhalb diesen Abend. »Es ist Zeit.«

»Und Sie kamen, mich aufzusuchen, damit wir gemeinschaftlich an die Ausgrabung der Leiche gehen.«

»Keineswegs! o, da habe ich mich wohl gehütet: wie wir Jäger sagen, man fängt einen Fuchs nicht zweimal im nämlichen Loch. Nein, dießmal habe ich meine Sache selbst gethan.«

»Wie! Sie selbst?«

»Allerdings; hören Sie mit zwei Worten. Ich wußte, daß diesen Abend ein großes Wähler-Diner bei Herrn Gérard stattfinden würde. Ich arrangierte mir die Sache nun so, daß ich Herrn Gérard auf eine bis zwei Stunden von seinen Gästen entfernte. Dann begab ich mich an Ort und Stelle; ich nahm seinen Platz bei Tische ein, während Brasil unten scharrte; kurz, Brasil hat so gut gekratzt, daß ich nach Verfluß von einer Viertelstunde nur den Tisch auf die Seite schieben und den Gästen des Herrn Gérard die Arbeit meines Hundes zu zeigen brauchte. Es waren ihrer zehn, der elfte trank seinen Wein ich weiß nicht wo. Sie unterzeichneten ein ganz nach der Regel abgefaßtes Protokoll, denn unter den Unterzeichnern befindet sich ein Arzt, ein Notar und ein Huissier. Sehen Sie, hier ist das Protokoll und das Skelett,« fügte Salvator hinzu, indem er aufstand und das zusammengebundene Tischtuch auf dem Schreibtische des Herrn Jackal öffnete, – »das Skelett ist hier!«

So sehr Herr Jackal an die Wechselfälle der täglich sich vor ihm entfallenden Dramen gewöhnt war, so erwartete er doch so wenig diese Lösung des Dramas, daß er erblassend in sein Fauteuil zurücksank und wider seine Gewohnheit, die Bewegung, die in seinem Innern vorging, durchaus nicht zu verheimlichen suchte.«