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XCII
Einen Augenblick Politik

Unter den Personen. welche eine unglückliche Rolle in dem Drama spielten, das wir an den Augen des Lesers vorüberführten, ist eine, welche sie, wie wir hoffen, nicht ganz vergessen haben werden.

Wir wallen von dem Oberst Rappt, dem Vater und Gatten von Regina de la Mothe-Haudan, sprechen.

Es versteht sich von selbst, daß, Dank der Meister Baratteau gemachten Anleihe und dem Ersatz Gibassiers, nichts von der Geschichte mit den Briefen transportierte.

Dessen ungeachtet, damit man die nachfolgenden Scenen besser verstehe, bitten wir unsere Leser um die Erlaubnis, ihnen in einigen Worten wieder zusagen, was wir vor längerer Zeit ihnen von dem Grafen Rappt gesagt.

Petrus hatte sein physischen Portrait folgendermaßen entworfen:

»Alles ist kalt, unbeweglich wie Marmor an diesem Menschen, und scheint durch einen materiellen Trieb nach der Erde zu streben; seine Augen sind matt, wie unpolirtes Glas; seine Lippen sind dünn und aufeinander gepreßt; die Nase ist rund; der Teint hat eine Aschenfarbe; der Kopf bewegt sich, niemals die Züge. Wenn man eine Glasmaske mit frischer Haut überziehen könnte, die jedoch nicht mehr durch die Zirkulation des Blutes belebt wäre, so könnte dieses Meisterwerk der Natur eine schwache Idee von dem Gesichte dieses Menschen geben.«

Regina hatte sein moralisches oder vielmehr unmoralisches Portrait entworfen.

Sie hatte ihm am Abend ihrer Hochzeit, in der furchtbaren Scene, die wir erzählt, gesagt:

»Sie sind zu gleicher Zeit ehrgeizig und verschwenderisch; sie haben große Bedürfnisse und diese großen Bedürfnisse bringen Sie in Versuchung, große Verbrechen zu begehen. Vor diesen Verbrechen würde ein Anderer vielleicht zurückschaudern; Sie nicht! Sie heirathen Ihre Tochter um zweier Millionen willen; Sie werden Ihre Frau verkaufen, um Minister zu werden . . . «

Dann hatte sie hinzugefügte:

»Nun, mein Herr, weilen Sie meinen ganzen Gedanken wissen? wollen Sie auf einmal wissen, was im Grunde meines Herzens für Sie ruht? Gut, es ist das Gefühl, das Sie gegen alle Welt hegen. und das ich nie zuvor gekannt: der Haß. Ich hasse Ihren Ehrgeiz; ich hasse Ihren Stolz; ich hasse Ihre Freiheit. Ich hasse Sie von Kopf bis zu Fuß. Denn Sie sind von Kopf bis zu Fuße nichts als eine Lüge!.«

Der Graf Rappt hatte also vor seiner Abreise nach St. Petersburg, wohin er, wie man sich erinnert, in außerordentlicher Mission gesandt worden, physisch ein Marmorgesicht, moralisch ein Steinherz.

Wir wollen sehen, ob seine Reise nach dem Pole das eine oder andere verändert, modifiziert oder belebt hat.

Es war am Freitag, dem 16 November, das heißt am Tage vor den Wahlen, ungefähr zwei Monate nach den Ereignissen, die wir in den vorhergehenden Kapiteln erzählt.

Am 16. November war im Moniteur die Ordonnanz der Auflösung der Kammer und der Zusammenberufung der Wahlcollegien für den 27. desselben Monats erschienen.

Man gönnte also nur 10 Tage den Wählern, um sich zu versammeln, sich zu berathen und ihre Candidaten zu wählen. Diese beschleunigte Zusammenberufung würde, so dachte wenigstens Herr von Villéle, das sichere Resultat haben, die Wähler der Opposition zu zersplittern, da sie, so überrascht, die Zeit mit Disputiren verlieren würden, während die ministeriellen Wähler als eine geschlossene, vereinigte, disziplinierte und doch passive Masse, wie ein einziger Mann stimmen würden.

Aber ganz Paris witterte seit langer Zeit die Auflösung der Kammer und freute sich darauf, den Traum des Herrn von Villéle nicht zu erfüllen; denn es ist etwas schwierig, das große Paris zu blenden; es hat hundert Augen, wie Argus, und durchdringt die Finsternis; man mag es zu Boden werfen, wie Antäus, es bekommt seine Kraft wieder, sobald es die Erde berührt; man mag es wie Enkelados begraben, wenn man es todt glaubt: so oft es sich in seinem Grabe bewegt, erschüttert es die Welt.«

Ganz Paris, ohne ein Wort zu sagen – es ist seine Beredtsamkeit, zu schweigen, es ist seine Diplomatie, Stillschweigen, zu beobachten – ganz Paris, ohne ein Wort zu sagen, schweigsam, aufmerksam, mit schamrother Stirne, blutendem und gebrochenem Herzen, ganz Paris, der ganze unterdrückte, zu Boden getretene und scheinbar sclavische Paris, bereitete sich zum Kampfe vor und wählte in der Stille und mit Vorsicht seine Kämpen.

Einer der Candidaten, und es war nicht der, welcher den kleinsten Effekt auf die Bevölkerung machte, einer der Candidaten war der Oberst Graf Rappt.

Man erinnert sich, daß er ostensibler Eigenthümer eines Journals war, das die legitime Monarchie energisch, vertheidigte und daß er zu gleicher Zeit Hauptredakteur einer Revue war, welche die Regierung auf’s heftigste angriff, und gegen sie zu Gunsten des Herzogs von Orleans konspirierte.

In dem Journal hatte er das Gesetz gegen die Freiheit der Presse kräftig unterstützt, gepriesen und vertheidigt; in der, darauffolgenden Nummer der Revue hatte er die Gespräche Royer-Collards wiedergegeben, wo man unter Anderem die beredten und höhnischen Worte las:

»Der Angriff ist nicht nur gegen die Freiheit der Presse, sondern gegen jede natürliche, politische und bürgerliche Freiheit, als wesentlich schädlich und unheilvoll, gerichtet. Nach dem Grundgedanken des Gesetzes war es eine Unklugheit der Schöpfung, daß sie den Menschen frei und geistig in die Welt stellte; daher stammt alles Unglück, aller Irrthum. Eine höhere Weisheit sucht den Fehler der Vorsehung wieder gut zu machen, ihre unvorsichtige Freiheit wieder zu beschränken, und der weise verstümmelten Menschheit den Dienst zu erzeigen, sie zur glücklichen Unschuld des Thieres zu erheben.«

Handelte es sich um die Expropriation, um betrügerische, tyrannische oder Gewaltsmaßregeln, die den Ruin einer nützlichen Unternehmung zum Zweck hatten, so griff die Revue mit aller Energie den Urheber und die Immoralität dieser Maßregeln an, was das Journal seinerseits wieder auf’s heftigste verteidigte.

Mehr als einmal hatte Herr Rappt mit Stolz die Feder niedergelegt, die in dem Einen angegriffen, im Andern verteidigt hatte, und sich innerlich zu der Geschmeidigkeit des Talentes und Geistes gratuliert, die ihm erlaubten, zwei so verschiedenen Ansichten so ausgezeichnete Gründe zu leihen.

Das war der Oberst Rappt zu allen Zeiten, aber besonders am Tage vor den Wahlen.

Am-Tage seiner Ankunft noch hatte er dem Könige über das Resultat seiner Unterhandlungen Bericht erstattet, und der König, enthusiasmirt von dem Eifer und der Geschicklichkeit, mit denen er seine Mission erfüllt, hatte ihm Aussicht auf ein Ministerportefeuille eröffnen.

Graf Rappt war, entzückt von seiner Audienz in den Tuilerien, nach dem Boulevard des Invalides zurückgekehrt.

Er hatte sich sogleich daran gemacht, ein Wahlcirkulär aufzusetzen, das selbst den ältesten und erfahrensten Diplomaten in Verlegenheit gesetzt, wenn er es hätte erklären sollen.

Es gab wirklich nichts Vageres, nichts Zweideutigeres, nichts Doppelsinnigeres, als dieses Circulär. Der König mußte entzückt, die Congregainisten zufrieden und die Wähler der Opposition angenehm überrascht sein, wenn sie es zu Gesichte bekamen.

Die Leser werden übrigens das Meisterwerk von Amphibologie würdigen, wenn sie den verschiedenen Sirenen anwohnen wollen, welche dieser große Komödiant vor einigen seiner Wähler spielte.

Das Theater stellt das Arbeitskabinet des Herrn Rappt vor: in der Mitte steht ein mit grünem Teppich und Papier bedeckter Tisch, vor welchem der Oberst sitzt. Rechts beim Eingang vor dem Fenster ein anderer Tisch, vor welchem der Sekretär des künftigen Deputirten, Herr Bordier, sitzt.

Ein Wort über Herrn Bordier.

Er ist ein Mann von fünfunddreißig Jahren, mager, blaß, mit hohlem Auge, wie Basile: das ist sein Aeußeres.

In moralischer Hinsicht besitzt er die Falschheit, Schlauheit und Bosheit Tartüffes.

Herr Rappt hat lange gesucht, wie Diogenes, nicht um einen Menschen zu finden, sondern diesen Menschen zu finden.

Endlich fand er ihn: es gibt Menschen, welche Glück haben.

Es ist ungefähr drei Uhr Nachmittags in dem Augenblick da wir den Vorhang vor diesen beiden Personen aufziehen, von denen die Eine dem Leser wohl bekannt ist: wir ersuchen ihn, der Andern nicht mehr Wichtigkeit beizulegen, als sie verdient.

Mit frühem Morgen empfängt Herr Rappt Wähler um Wähler; im Jahre 1848 suchte sie der Candidat und zwanzig Jahre früher suchten sie den Candidaten.

Die Stirne des Herrn Rappt trieft von Schweiß, er hat das ermüdete Aussehen eines Schauspielers, der seine fünfzehn Tebleaux gespielt.

»Sind nach viele Leute im Vorzimmer Bordier? fragte er seinen Secretär muthlos.

»Ich weiß es nicht, Herr Graf, aber man kann nachsehen,« antwortete dieser.

Und er ging, um die Thüre zu öffnen.

»Es sind mindestens noch zwanzig Personen.« sagte er, beinahe eben so muthlos, als sein Herr.

»Ich werde die Geduld nicht mehr haben, all diese Nichtigkeiten anzuhören!« sagte der Oberst, indem er sich die Stirne trocknete; »der möchte man ja ein Narr werden! Ich habe auf Ehre Lust, Niemanden mehr zu empfangen.«

»Nun, Herr Graf,« sagte der Secretär in kraftlosem-Tone: »bedenken Sie doch, daß Wähler darunter sind, die über fünfundzwanzig, dreißig, ja vierzig Stimmen verfügen.«

»Und Sie sind überzeugt, Barbier, daß unter diesen allen keine schleichhändlerischen Wähler sind? Bedenken Sie, daß nicht ein Einziger existiert, der mir seine Stimme verspreche, ohne mir das Pistol auf die Brust zu setzen, oder deutlicher gesprochen, der nicht etwas für sich oder die Seinen verlangte!«

»Ich glaube, daß der Herr Graf nicht erst heute die Uneigennützigkeit der Menschen in ihrem ganzen Werthe kennen lernt!« sagte Bordier mit einem Ausdruck des Gesichtes. der für Laurent gegenüber von Baptiste oder für Bazin gegenüber von Aramis geeignet gewesen wäre.

 

»Nun, lassen Sie sehen, Bordier; kennen Sie diese Wähler?« sagte der Graf sich aufraffend.

»Ich kenne sie zum größten Theil, Herr Graf; jedenfalls habe ich Notizen über Alle.«

»Gut denn, so wollen nur fortfahren. Läuten Sie Baptiste.«

Bordier läutete; ein Diener erschien.

»Wie heißt der Erste, Baptiste?« fragte der Secretär.

»Herr Morin«

»Warten Sie.«

Und der Secretär las halblaut die Notizen, die er über Herrn Morin erhalten hatte.

»Herr Morin, Tuchhändler en gros. Er besitzt eine Fabrik in Louviers. Ein sehr einflußreicher Mann, welcher über achtzehn bis zwanzig Stimmen verfügt; schwachen Charakter, der von Roth zu Tricolore und von Tricolore zu Weiß übergegangen; er ist, wenn es sein Interesse gilt, alle Farben des Prismas anzunehmen gemacht. Er hat einen Sohn, mauvais sujet unwissend, unfähig, der sein ganzes väterliches Erbe vorher aufbraucht. Er schrieb vor einigen Tagen an den Herrn Grafen, um ihn zu bitten, seinen Sohn Du placiren.«

»Ist das Alles, Bordier?«

»Ja, Herr Graf.«

»Welcher von den beiden Morin ist da, Baptiste?«

»Ein junger Mann von achtundzwanzig bis dreißig Jahren.«

»Das ist der Sohn.«

»Er will eine Antwort auf den Brief seines Vaters holen,« setzte Bordier hinzu.

»Lassen Sie ihn eintreten.« sagte der Graf mild.

Baptiste öffnete die Thüre und meldete Herrn Morin.

Ein junger Mann von achtundzwanzig bis dreißig Jahren, wie der Bediente gesagt, trat mit offener Miene in das Zimmer des Grafen Rappt, als die letzte Silbe seines Namens noch auf den Lippen dessen lag, der ihn meldete.

»Mein Herr.« sagte der junge Mann, ohne abzuwarten, bis Herr von Rappt oder sein Secretär das Wert an ihn richteten, »ich bin der Sohn des Herrn Morin, Tuchhändlers, Wahlmanns und WähIers in Ihrem Bezirk. Mein Vater hat Ihnen kürzlich geschrieben, um Sie zu bitten . . . «

Herr von Rappt, der nicht vergeßlich erscheinen wollte, unterbrach ihn.

»Allerdings, mein Herr,« sagte er, »ich habe einen Brief von Ihrem Herrn Vater erhalten. Er wandte sich an mich, daß ich Ihnen eine Stelle verschaffe. Und er versprach mir, daß, wenn ich das Glück hätte, Ihnen nützlich zu sein, ich auf seine Stimme und auf die seiner Freunde zählen könnte.«

»Mein Vater ist der einflußreichste Mann der Quartiers. Er gilt im ganzen Arrondissement als der eifrigste Vertheidiger des Thrones und des Altares . . . ja, obgleich er selten zur Messe geht, seine Geschäfte halten ihn davon ab. Aber Sie wissen, die auswärtigen Kunden, dummes Zeug, nicht wahr? Uebrigens ist er außerdem die eingefleischte Ordnung. Er würde sich für den Mann seiner Wahl umbringen lassen; das heißt, wenn er Sie gewählt, Herr Graf, wird er Ihre Gegner aufs Aeußerste verfolgen.«

»Ich bin sehr glücklich, mein Herr, die gute Meinung zu kennen, welche Ihr Herr Vater von mir hat; ich wünsche sie auch zu verdienen; aber kommen wir auf Sie zurück; welche Stelle wünschen Sie, mein Herr?«

»Offen gesagt, Herr Graf,« sagte der junge Mann. verlegen mit seiner Reitpeitsche die Wade peitschend, »ich weiß nicht, was ich Ihnen antworten soll.«

»Was verstehen Sie?«

»Wahrhaftig nicht viel.«

»Sie haben Ihre Rechtsschule durchgemacht?«

»Nein, ich verabscheue die Advokaten.«

»Sie haben Medizin studiert?«

»Nein, mein Vater verabscheut die Aerzte.«

»Sie sind vielleicht Künstler?«

»Als Kind lernte ich das Flageolett spielen und Landschaften zeichnen; aber ich ließ das alles wieder liegen. Mein Vater wird mir dreißig tausend Livres Renten hinterlassen, mein Herr.«

»So beben Sie doch wenigstens, wie alle Welt, Ihre Studien gemacht?«

»Etwas weniger, als alle Welt, mein Herr.«

»Sie waren im Collège?«

»Man ist so schlecht behandelt bei diesen Suppenhändlern; meine Gesundheit litt darunter und mein Vater nahm mich zurück.«

»Aber was treiben Sie denn gegenwärtig?«

»Ich?«

»Ja, Sie, mein Herr.«

»Durchaus nichts . . . Das ist ja der Grund, weßhalb mein Vater wollte, daß ich etwas anfange.«

»So setzen Sie also Ihre Studien fort?« sagte Herr von Rappt lächelnd.

»Ah!« machte Herr Morin Sohn, indem er sich umdrehte, um nach Herzenslust zu lachen, »das Bonmot ist reizend! ja, ich setze meine Studien fort. Ah, Herr Graf, ich werde Ihr Bonmot heute Abend im Cercle wieder erzählen.«

Herr von Rappt sah den jungen Mann mit dem Ausdruck tiefer Verachtung an und begann, sich die Sache zu überlegen.

Dann sagte er nach einer Pause:

»Sind Sie ein Freund vom Reisen?«

»Das ist meine Leidenschaft.«

»So haben Sie also schon gereist?«

»Nie; sonst würde ich wohl einen Ekel am Reisen haben.«

»Gut denn, so werde ich Ihnen eine Sendung nach Thibet geben.«

»Mit einem Titel?«

»Gewiß! was ist die Stelle ohne Titel?«

»Das dachte ich auch. Und was werden Sie mit mir anfangen? wir wollen doch sehen!« sagte Herr Morin Sohn mit der Miene eines Menschen, der seinen Mitunterredner in große Verlegenheit zubringen glaubt.

»Man wird Sie zum Generalinspector der meteologischen Beobachtungen von Thibet machen. Sie wissen, daß Thibet das Land der Phänomene ist?«

»Nein. Ich kenne nur die Thibetziegen, von denen man die Caschemirs macht, und ich habe mir nicht mal die Mühe genommen, die anzusehen, welche für den Jardin des Plantes angekommen sind.«

»Gut. Sie werden sie in ihrem Vaterlande sehen, was immer interessanter ist.«

»Gewiß; schon weil man dort mehr sieht. Aber sollten Sie meinetwegen Jemand von seiner Stelle vertreiben müssen?«

»Beruhigen Sie sich, die Stelle existiert noch gar nicht.«

»Aber wenn Sie nicht existiert, mein Herr,« rief der junge Mann, der sich mystifiziert glaubte, »wir kann ich sie denn ausfüllen?«

»Man wird sie ausdrücklich für Sie schaffen,«sagte der Graf Rappt, indem er aufstand und mit dieser Bewegung Herrn Morin verabschiedete.

Der Graf hatte diese letzten Worte mit solchem Ernste gesprochen, daß der junge Mann von ihrer Wahrheit überzeugt war.

»Mein Herr,« sagte er, indem er die Hand aufs Herz legte, »seien Sie von meiner persönlichen Dankbarkeit und der noch wichtigeren Dankbarkeit meines Vaters überzeugt.«

»Auf das Vergnügen, Sie wieder zu sehen, mein Herr,« sagte der Graf Rappt, während Bordier läutete.

Der Bediente trat ein, indem er an Herr Morin Sohn vorüber ging, als dieser ausrief:

»Welch großer Mann!«

»Welcher Dummkopf!« machte Herr von Rappt; »und solchen Menschen muß ein Mann wie ich den Hof machen . . . «

»Wer ist da, Baptiste?« fragte der Secretär.

»Herr Louis Renaud, Apotheker.«

Unsere Leser erinnern sich ohne Zweifel des braven Apothekers vom Foubourg Saint Jacques, der mit so großem Eifer Salvator und Jean Robert, beisprang, um Barthélemy Lelong zur Ader zu lassen, als er in der Nacht des Aschermittwochs von einem Schlagflusse bedroht war.

Vor seinem Hofe, wenn man sich erinnert, hatten die beiden jungen Leute die sanften Violoncellaccorde gehört, welche sie zu unserem Freunde Justin geführt, den wir eines Tages an dem Zufluchtsorte, wo er mit Mina verborgen ist, wiederfinden werden.

»Wer ist Herr Louis Renaud?« fragte der Graf Rappt, während der Bediente den Apotheker herein führte.

XCIII
Ein Voltairianer

Der Secretär nahm das auf Herrn Louis Renaud bezügliche Papier und las:

»Herr Louis Renaud, Apotheker, Faubourg St. Jacques, Besitzer von zwei bis drei Immobilien, und namentlich eines Hauses in der Rue Banneau, wo er selbst als Hausbesitzer wählt und wo ein Dutzend Wähler wohnen, über deren Stimmen er verfügt; eingefleischter Bourgeois, ehemaliger Girondist, Verwünscher des Namens Napoleon, den er nie anders, als Herr von Buonaparte nennt, unfähig, einem Mitgliede der Kirche ins Gesicht zusehen, die er unter dem Collectivnamen Calotins zusammenfaßt, sparsam, classischer Voltairianer, auf alle Touquetischen Publikationen, Edition Voltaire, abonniert, und die Tabatiere beständig auf der Charte.«

»Was zum Teufel kann dieser Mensch wollen?« machte der Graf Rappt.

»Man konnte es nicht wissen,« antwortete Bordier; »aber . . . «

»Stille! da ist er,« sagte der Graf.

Der Apotheker erschien.

»Treten Sie ein, treten Sie ein, Herr Renaud,« sagte mit freundlichem Tone der künftige Deputirte, der, als er sah, daß der Apotheker voll Bescheidenheit auf der Schwelle stehen blieb, ihm entgegen ging, ihn an der Hand nahm und ihn gewissermaßen zwang, einzutreten.

Indem er ihn näher heranzog, drückte ihm der Graf Rappt lebhaft die Hand.

»Das ist zu viel Ehre, mein Herr,« murmelte der Apotheker; »wahrhaftig zu viel Ehre.«

»Wie! zu viel Ehre? Die braven Leute, wie Sie, sind eine Seltenheit, Herr Renaud, und es ist ein Vergnügen, wenn man ihnen begegnet, ihnen die Hand zu drücken. Hat nicht ein großer Dichter schon gesagt:

Die Sterblichen sind alle gleich; nicht die Geburt, Die Tugend nur macht hoch und nieder.

Sie kennen den großen Dichten nicht wahr, Herr Louis Renaud?«

»Allerdings, Herr Graf, es ist der unsterbliche Arouet de Voltaire. Aber daß ich Herrn Arouet de Voltaire kenne und bewundere, das ist kein Wunder; dagegen muß ich erstaunen, daß Sie mich kennen.«

»Ob ich Sie kenne, lieber Herr Renaud?« sagte Graf Rappt in demselben Tone, wie Don Juan sagt: »Lieber Herr Sonntag, ob ich Sie kenne, das will ich meinen, von lange her!« »Ich war entzückt, als ich erfuhr, daß Sie die Rue St. Jacques verlassen, um sich uns zu nähern, denn wenn ich mich nicht täusche, so bewohnen Sie jetzt die Rue Bannerau.«

»Allerdings, mein Herr,« sagte der Apotheker immer erstaunter.

»Und welcher Umstand verschafft mir das Vergnügen, Sie zu sehen, lieber Herr Renaud?«

»Ich habe Ihr Circulär gelesen, Herr Graf.«

Der Graf verbeugte sich.

»Ja, ich habe es gelesen und sogar zweimal gelesen, und die Stelle, wo Sie von Ungerechtigkeiten sprechen, die unter dem Mantel der Religion begangen werden, hat mich bestimmt, trotz meines Widerstrebens, aus meiner Sphäre herauszugeben – denn ich bin Philosoph, Herr Graf, – und Ihnen einen Besuch zu machen, um Ihnen einige Thatsachen zur Unterstützung Ihrer Behauptungen an die Hand zu geben.«

»Sprechen Sie, lieber Herr Renaud, und glauben Sie, daß ich Ihnen unendlich dankbar sein für die Mittheilungen, die Sie mir zu machen so gütig sein wollen. Ah! lieber Herr Renaud, wir leben in einer traurigen Zeit!«

»Ja einer Zeit der Heuchelei und Scheinheiligkeit, mein Herr,« antwortete der Apotheker halbleise, »und unter der Herrschaft von Calotins! Sie wissen, was jüngst in Saint-Acheul geschehen?«

»Ja,mein Herr, ja.«

»Man sah Beamte, Marschälle mit Kerzen der Prozession folgen.«

»Das ist bedauerlich; aber ich glaube, Sie wollten mir nicht von Saint-Acheul sprechen.«

»Nein, mein Herr, nein.«

»Nun gut, so wollen wir von unsern Privatangelegenheiten sprechen; denn Ihre Sache ist auch die meine, lieber Nachbar. Aber wir wollen uns setzen.«

»Nein, durchaus nicht, mein Herr!«

»Wie, durchaus nicht?«

»Verlangen Sie von mir, was Sie wollen, Herr Graf, aber nicht, daß ich mich nur Ihnen setzen soll; ich weiß zu gut, was ich Ihnen schuld bin.«

»Nun, ich will Sie nicht zwingen. Sagen Sie mir jetzt, was Sie zu mir führt, aber sprechen Sie offen, wie zu einem Kameraden, wie zu einem Freunde.«

»Mein Herr. ich bin Häuserbesitzer und Apotheker und fülle meine Stellung in beider Hinsicht, wie Sie zu wissen scheinen, vollständig aus.«

»Ich weiß es, in der That, ich weiß es, mein Herr.«

»Ich bin seit dreißig Jahren Apotheker.«

»Ja, ich verstehe Sie; Sie haben mit dem Letzteren begonnen, und dies führte Sie zum Anderen.«

»Man könnte nichts vor Ihnen geheim halten, mein Herr; nun gut, ich wage zu behaupten, daß man seit dreißig Jahren, obgleich wir das Consulat und das Kaiserreich des Herrn von Buonaparte erlebt, ich wage zu behaupten, daß man seit dreißig Jahren, Herr Graf, nichts Aehnliches, wie das was jetzt geschieht, gesehen hat.«

»Was wollen Sie sagen? Sie erschrecken mich, lieber Herr Renaud!«

»Der Handel geht nicht mehr; man verdient kaum so viel, um sein Leben zu fristen, mein Herr!«

»Und woher kommt eine solche Stagnation, namentlich in Ihrem Geschäfte, lieber Herr Renaud?«

»Es ist nicht mein Geschäft, Herr Graf, und daß ich ganz uninteressiert bei der Sache bin, mag, Ihnen das beweisen, daß es meines Neffen Geschäft ist; ich habe es ihm seit drei Monaten abgetreten.«

»Und zwar zu guten Bedingungen, zu väterlichen Bedingungen.«

 

»Väterlichen, das ist das Wort: denn ich habe ihm ratenweise Zahlungen eingeräumt. Nun Herr Graf. das Geschäft meines Neffen steht augenblicklich still; wenn ich sage augenblicklich, so ist das mehr eine Hoffnung, als eine Ueberzeugung, Sie können sich denken, daß man aus nichts nichts macht, Mein Herr!«

»Zum Teufel!« machte der künftige Deputirte, scheinbar bestürzt. »Wer kann dem Geschäfte Ihres Herrn Neffen Fesseln anlegen? das frage ich Sie, lieber Herr Renaud. Seine oder Ihre etwas zu schroffen politischen Ansichten – vielleicht?«

»Keineswegs. mein Herr, keineswegs; die politischen Ansichten haben nichts damit zu schaffen.«

»Ah!« versetzte der Graf mit schlauer Miene, indem er seinen Worten und seinem Accente eine gewisse vulgäre Betonung verlieh, welche freilich nicht in seinem Wesen lag, die er aber annehmen zu müssen glaubte, um sich seinem Clienten etwas zu nähern, »wir haben Apotheker, welche Taugenichtse . . . «

»Ja, Herr Gassicourts zum Beispiel, der Apotheker des sogenannten Kaisers, Herrn von Buonaparte; denn Sie müssen wissen. ich nenne ihn immer Herr von Buonaparte.«

»Das war ein Lieblingsausdruck Seiner Majestät Ludwig XVIII.«

»Ich wußte das nicht; ein philosophischer König, der, dem wir die Charte verdanken. Aber um wieder aus das Geschäft meines Neffen zurück zu kommen . . . «

»Ich hätte es nicht gewagt, Sie wieder darauf zu bringen, lieber Herr Renaud; aber da Sie selbst darauf zurückkommen, machen Sie mir ein Vergnügen.«

»Nun gut, ich sagte also, man möge Girondist oder Jakobiner, Royalist oder Empirist sein, so nenne ich nämlich die Napoleonisten, mein Herr . . . «

»Diese Bezeichnung scheint mir sehr treffend.«

»Ich sagte also, die Meinungen mischten sein, welcher Art sie wollen, es werde doch immer Brust- und Kopfrheumatismen geben.«

»Ja wohl,« mein lieber Herr Renaud, »ich begreife auch in der That nicht, was den Verkauf von Medikamenten an enthumirte Personen hindern könnte.«

»Indeß,« murmelte der Apotheke. der in tiefes Nachdenken versunken schien, halb beiseit, »indeß habe ich Ihr Circulär gelesen; ich glaube den innersten Sinn verstanden zu haben und deßhalb scheint es mir, daß wir uns auf das erste Wortverstehen sollten.«

»Ernst-treu Sie sich gefälligst, lieber Herr Renaud,« sagte Graf Rappt, der ungeduldig zu werden begann; »denn, offen gesagt, ich sehe nicht recht ein, welche Bezügniß mein Circulär mit dem Stillstand in dem Geschäfte Ihres Herrn Neffen haben soll.«

»Sie sehen das nicht?« fragte der Apotheker erstaunt.

»Wirklich, nein,« antwortete der künftige Deputirte ziemlich trocken.

»Haben Sie nicht eine leichte Anspielung auf die senden Culotins begangenen Schändlichkeiten fallen lassen. Calotins nenne ich nämlich die Geistlichen.

»Verstehen wir uns recht, mein Herr,« erwiderte Herr Rappt, der sich nicht zu weit zum Liliberalismns hinreißen lassen wollte, indem er erröthete. »Ich habe allerdings von Ungerechtigkeiten gesprochen, welche gewisse Personen unter dem Deckmantel der Religion begingen, allein ich habe mich keines so . . . strengen Ausdrucks bedient, wie der eben von Ihnen gebrauchte.«

»Verzeihen Sie mir den Ausdruck, Herr Graf, wie Voltaire sagt

»Ich nenne Katze eine Katze und Rollet einen Schuft.«

Graf Rappt war im Begriffe, dem würdigen Apotheker zu bemerken. daß sein Citat bezüglich des Autors unrichtig sei, wenn auch bezüglich der Worte getreu; aber er überlegte sich, daß es doch nicht der richtige Augenblick wäre, eine literarische Polemik zu eröffnen und schwieg.«

»Ich weiß nicht mit den Worten zu spielen,« fuhr der Arzt fort: »Ich habe keine bessere Bildung genossen, als so viel ich nöthig hatte, um meine Familie honett zu erziehen, und ich maße mir auch nicht an, wie ein Akademiker zu sprechen; aber ich komme auf Ihr Circulär zurück und behaupte noch, daß wir einverstanden sind, wenn ich die Sache richtig verstanden.«

Diese nicht ohne eine gewisse Härte ausgesprochenen Worte setzten den Candidaten einen Augenblick in Verlegenheit, und der Ansicht, daß sein Wähler ihn zu weit treiben könnte, beeilte er sich ihn durch die heuchlerischen Worte zurückzuhalten.«

»Man ist mit ehrenwerthen Leuten immer einverstanden, Herr Louis Reuaud.«

»Nun gut, da wir einverstanden sind,« sagte Louis Renaud, »so kann ich Ihnen erzählen, was vorgeht.«

»Sprechen Sie, mein Herr.«

»Ja dem Hause, welches ich bewohnte. als ich es meinem Neffen abtrat, ein Haus, von dem ich reden kann, weil ich der Besitzer bin, wohnte noch vor einigen Tagen ein armer alter Schulmeister; das heißt, ursprünglich war er nicht Schulmeister sondern Musiker.«

»Das hat nichts zu sagen.«

»Allerdings, das hat nichts zu sagen! Er hieß Müller und unterrichtete beinahe umsonst etwa zwanzig Kinder, indem er in dieser edlen und beschwerlichen Aufgabe den wirklichen Lehrer ersetzte, welcher Justin hieß und ins Ausland gegangen war, nicht wegen schlechter Geschäfte, sondern Familienangelegenheiten halber. Der würdige Herr Müller nun genoß die Achtung des ganzen Quartiers; aber die schwarzen Männer vom Mont Rouge gingen häufig an der Schule vorüber und sahen nicht ohne Aerger und Neid, daß Kinder von andern Leuten, als ihnen, unterrichtet werden. Eines Morgens kam man, um dem armen interimistischen Schulmeister zu bedeuten, daß er von dem Unterricht abstehen müsse und seit vierzehn Tagen sind es die Brüder Ignoranten, welche die Schule halten; alles im Interesse der Moral, Sie begreifen, wie das zugeht, nicht wahr?«

»Ich begreife nicht ganz,« machte Herr Rappt verlegen.

»Wie, Sie begreifen nicht ganz,« sagte Herr Reuaud und sich dem Grafen nähernd, indem er mit den Augen zwinkerte, setzte er hinzu:

»Sie kennen doch das neue Lied von Beranger?«

»Ich werde es doch kennen,« sagte Rappt, »aber man müßte mir verzeihen, wenn ich es nicht kenne denn seit zwei und einem halben Monat bin ich außerhalb Frankreichs, am Hofe des Czaren.«

»Ah! wenn Voltaire lebte, der große Philosoph würde nicht mehr, wie zu Zeiten Catharina II. sagen:

»Vom Norden kommt uns jetzt das Licht.«

»Herr Louis Renaud,« machte der Graf ungeduldig, »bitte, kommen wir wieder auf . . . «

»Aus das neue Lied von Beranger; Sie wollen, daß ich es Ihnen singe, Herr Graf? gerne.«

Und der Apotheker begann:

»Schwarze Männer, woher kommt Ihr? Wir kommen aus der Erde . . . «

»Nein,« sagte der Graf, »kommen wir wieder auf Ihren Herrn Müller zurück: Sie verlangen für ihn eine Entschädigung, nicht wahr?«

»O! dafür gibt es alle Arten von Rechten,« antwortete der Apotheker; »aber ich will Ihnen nicht von ihm allein sprechen: ich verlasse mich auf Sie, daß Sie diese Ungerechtigkeit wieder gut machen, die Sie wirklich überrascht hat, wie ich sehe; nein, ich wollte Ihnen von dem« Geschäfte meines Neffen sprechen.«

»Bemerken Sie wohl, mein lieber Herr, daß ich Sie beständig und mit aller Macht darauf hinführen wollte.«

»Nun denn, erstens ist das Geschäft meines Neffen gestört, weil die Brüder Ignoranten die Kinder den ganzen Tag singen lassen und die Kunden davon laufen, wenn sie das erzwungene Geschrei hören.«

»Ich werde auf Mittel denken, sie zur Mäßigung zu bringen, Herr Renaud.«

»Warten Sie einen Augenblick,« versetzte der Apotheker; »denn das ist noch nicht Alles; diese Brüder haben ferner Schwestern, das heißt, bei diesen Brüdern sind Schwestern, welche die Medicamente, die sie verfertigen, ächte Droguen, vierzig Prozent unter dem Preis verkaufen, so daß Tage vergehen, wo in der Apotheke nicht für einen Sou verkauft wird, und mein Neffe, der mir noch drei Zahlungen zu machen hat, sich gezwungen sieht, den Laden zu schließen, falls Sie nicht Mittel finden, dem Uebel zu steuern, das ihm die Brüder und Schwestern zufügen.«

»Was der Tausend!« rief Herr Rappt mit entrüsteter Miene, denn er sah wohl, daß er mit dem geschwätzigen Apotheker nicht zu Ende kommen würde, wenn er nicht in seiner Weise spräche, »wie! die Schwestern Ignoranten erlauben sich Medicamente zum Schaden eines der ehrenwerthesten Apotheker der Stadt Paris zu, verkaufen?«

»Ja! mein Herr,« sagte Louis Renaud, lebhaft gerührt durch das große Interesse, welches Graf Rappt an seiner Sache zu nehmen schien. »ja, mein Herr, sie haben diese Kühnheit, diese Pfäffinnen.«

»Es ist unglaublich t« rief Graf Rappt, indem er den Kopf aus die Brust und seine Hände auf die Kniee sinken ließ. »In was für einer Zeit leben wir, mein Gott! mein Gott!«