Das seltsame Leben der Scarlett Ostermann

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Eines Tages verlangte einer der Trainer (weißhaarig, braungegerbte Haut und drahtig), ich solle nicht Shorts, sondern ein hübsches, weißes Tenniskleidchen tragen, das mache auch für den Verein ein besseres Bild. Entrüstet sagte ich dem Wichtigtuer, der ständig von jüngeren Mädchen umringt war, dass ich dazu keine Lust habe und überhaupt sei der Tennisverein nur was für Spießer.

Paps war wütend, schließlich hatte er fünfhundert Mark Startkapital in meine Tenniskarriere investiert. Ich war erleichtert, nicht mehr auf den albernen Tennisplatz zu müssen. Wenn schon Sport, dann lieber Skilaufen.

Am 31. Dezember reiste ich mit einer Schülergruppe zur Skifreizeit in die Schweizer Berge. Am 2. Januar lächelte mich ein Skiläufer auf dem Weg zur Talstation an, und zwar so, wie mich noch nie ein Mann zuvor angelächelt hatte. Ich glaube, ich lächelte zurück. Etwas später standen er und ich auf dem Gipfel, vor uns die steilste Abfahrt, die ich je gesehen hatte.

Der Mann sagte: Ich heiße Richard und du?

Ich zeigte ihm den Vogel, tippte mit meinem dicken Skihandschuh gegen die Stirn und schüttelte den Kopf.

Eine Tafel warnte, dass diese Abfahrt nur für sichere Skiläufer geeignet sei. Dass der Kerl Skifahren konnte, hatte ich schon am Vortag entdeckt. Er beherrschte professionelle Schwünge, wedelte über jeden Eisbuckel, ging elastisch wie ein Tänzer in die Knie, belastete den Tal-Ski, drehte leicht in der Hüfte; er flog den Wechten entgegen und über sie hinweg. Sein Körper zeigte eine Mischung aus Eleganz und Kraft, glitt mühelos über den vereisten Hang und kurvte um sämtliche Hindernisse. Er verschwand hinter einer Wand aus Eiskristallen.

Nun standen wir also vor dem Abhang und ich musterte diesen Richard unauffällig durch meine Schneebrille. Plötzlich hörte ich ihn lachen: Auf geht’s!

Er warf sich in die Steilpiste, ich raste hinterher. Ich überstand drei Stürze, raffte mich auf und bretterte weiter; ich durfte ihn nicht aus den Augen verlieren. Im Tal angekommen, staunte er nicht schlecht. Ich war noch da. Ha, das hatte der Angeber nicht erwartet!

Ich hatte durchgehalten, auch wenn alles in mir flatterte und mich ein Wadenkrampf plagte. Ich hatte meine Skibrille verloren, die jetzt irgendwo auf der Piste lag. Er bemerkte meinen Verlust und versprach, dass er sie später finden würde. Wir warteten vor dem Schlepplift, so, als gäbe es nur ihn und mich. Hunderte Skiläufer tummelten sich um uns herum, Alkoholausdünstungen umkreisten ihre Münder, dicke Plastikanzüge in Gelb, Weiß und Rot ließen sie wie Neil Armstrong bei der ersten Mondlandung aussehen. Wie hässlich und banal sie waren. Sie grölten, waren alle nach einem Muster ausstaffiert.

Nur er nicht!

Richard hatte sich zwischen seinen Skistöcken nach vorne gebeugt, hatte sich lang ausgestreckt und geraunt: Komm doch mal her, du wilde Hexe!

Aus meiner selbstgestrickten, fusseligen Wollmütze mit Mundschutz schaute nur die Nase hervor. Wie eine Schildkröte schob ich den Kopf aus dem Panzer und blickte in himmelblaue Augen. Ich murmelte dumpf: Blauer geht’s wirklich nicht!

Er grinste wissend und ließ mich näherkommen: Zieh die Mütze aus!

Dann schmeckte ich nasse Lippen, Salz und kalte Spucke, die sich langsam erwärmte und ausbreitete.

Er küsste mich noch einmal. Er hatte Luft geholt, ganz kurz nur, hatte einen Skistock fallen gelassen und mich an sich gezogen. Schliddernd war ich zwischen seine Beine gerutscht und hing in seinen Armen. Wir legten unsere Lippen jetzt ordentlich und ganz sanft aufeinander, spürten unser Zittern. Gelächter drang zu uns, wir standen noch immer in der Warteschlange, Skiläufer drängten vorbei, riefen anzügliche Worte.

Sensationell, mein erster Kuss, eiskalt und knallhart, einfach so im Schnee, dachte ich.

Selbst in meinen verrücktesten Fantasien wäre ich darauf nicht gekommen. Später behauptete Rick, es sei nur ein ganz flüchtiger Kuss gewesen. Ich hätte ja nicht einmal meine Wollmütze ausgezogen und hätte ihn durch die Maschen geküsst. Also, das ist eine dicke Lüge. Ich weiß nicht, warum er unseren ersten Kuss so kleinreden musste. Es war ein gewaltiger Kuss gewesen.

Als mich der Schlepplift wieder aufwärts zog und ich wie Alice im Wunderland durch die Winterlandschaft flog, fühlte ich nur Glück und meine durchbluteten Lippen. Sogar die Blasen, die ich mir in den neuen Kunststoffstiefeln gescheuert hatte, taten nicht mehr weh.

Von diesem Tag an schrieben wir uns. Ich nannte ihn jetzt Rick.

Rick musste zurück an den Zürichsee und ich wieder zur Schule. Zum Abschied sagte er: Mach gefälligst dein Abitur! Und es klang so, als ob Paps es zu mir gesagt hätte. Der hatte schon vor längerer Zeit gedroht, dass ich von ihm keinen Pfennig bekäme, wenn ich das Abitur nicht bestünde.

Paps hatte gesagt: Ich bestehe darauf, dass du Pharmazie studierst. Auch wenn du nur ein Mädchen bist, aber eine gewisse Begabung für naturwissenschaftliches Denken hast du!

Alma vertrat die Ansicht, ich solle das lernen, wozu ich aus vollem Herzen Lust hätte. Ich müsse selbst entscheiden. Das sagte sie aber nur, wenn Paps nicht zuhörte.

Immer dienstags kam sein Brief. Rick schrieb an den Wochenenden, brachte den Brief Sonntagabend zum Kasten.

Alma legte das längliche Kuvert auf mein Bett und ich stürzte mich darauf, sobald ich aus der Schule kam. Kurz vor den Sommerferien erhielt ich folgende Zeilen:

Liebste Scarlett! Seit sechs Monaten – Du und ich! Keine Illusion, keine Schneeflocke, kein Traum – wir sind Wirklichkeit! Stell‘ Dir vor, ich würde Dich jetzt umarmen und an mich drücken, bis Du schreist, bis Du mich anflehst, ich möge Dich loslassen. Was denkst Du? Würde Dir das gefallen? Vielleicht werde ich Dich eines Tages wirklich nicht mehr loslassen. Was machst Du, wenn meine Arme wie Äste eines Baumes um Dich herumwachsen? Bin ich nicht ein viel zu alter Baum für Dich? Einer, der sich schon zu oft gegen die Stürme gestemmt hat und leider etwas schief in der Landschaft steht, einer, der manchmal sehr einsam und verzweifelt ist. Meinst Du, dass Du diesen verteufelt merkwürdigen Kerl akzeptieren kannst, so wie er ist? Wird das nicht zu anstrengend werden? Überlege es Dir gut.

Dein Richard, der Rick.

Ich antwortete am selben Tag:

Liebster Rick! Sorge Dich nicht, mit Bäumen kenne ich mich aus. Ich bin als Kind auf viele geklettert und habe immer die besondere Aussicht vom allerobersten Ast genossen. Wenn mich Deine Ast-Arme auffangen, sollte ich stürzen, dann wird es mir recht sein. Ich überlege gerade, was für eine Art Baum Du denn sein könntest. Vielleicht ein Ginkgo? In China und Japan ist der Ginkgo ein heiliger Baum, der als Symbol für die Vereinigung von Gegensätzen gilt. Ginkgo heißt übrigens Silberaprikose. Das willst Du bestimmt nicht sein, eine Silberaprikose, aber gegensätzlich sind wir beide doch sehr und darum finde ich den Ginkgo ganz passend. Heute habe ich meine letzte Lateinarbeit in diesem Schuljahr zurückbekommen. Leider wieder eine Fünf. Ich hab‘s ja gewusst, keine Begabung für tote Sprachen!

Liebster Rick, ich habe ein Vokabelheft angelegt, in dem schon viele Ausdrücke für Liebe stehen. Ich erfinde jeden Tag neue Liebes-Worte. Wie findest Du dieses: Liebesdiebe? Deine Scarlettina

13.55 Uhr

Rick zündet ein Zigarillo an, öffnet die Jackenknöpfe. Qualm füllt das Wageninnere. Er scheint mich vergessen zu haben. Der Verkehr fließt, die Straße wirkt aufgeräumt. Ich schaue aus dem Fenster, sehe ordentliche Reihenhäuser, die eine oder andere Kirche, unauffällige Geschäfte, Einfamilienhäuser und Gärten mit Schneeglöckchen, Saatkrähen auf Äckern und kahle Obstbäume, schmutzige Feldwege und eine Eisenbrücke, die über einen grauen, sich kräuselnden Fluss führt, ein paar Lastkähne am Ufer. Ich weiß genau, wo wir uns befinden, die Gegend kenne ich von Sonntagsausflügen mit Paps, ich will mir aber jetzt keine Mühe geben und die Dinge benennen. Stadt, Land, Fluss, ist für mich ein Spiel, mehr nicht. Heute geht es nur um ein Ziel und das heißt: Ricks Wohnung am Zürichsee! Darauf bin ich neugierig, alles andere zieht bedeutungslos an mir vorbei. Eine gewisse Unsicherheit, auch Trägheit, nach dem opulenten Mittagessen, lassen mich schweigen und mich tiefer in meinen Sitz rutschen. Rick ist nicht erreichbar. Er ist zu wie eine Auster, muss vielleicht über vieles nachdenken. Immerhin fahre ich zum ersten Mal mit ihm mit.

Wir erreichen die Grenze. Die rote Fahne mit dem weißen Kreuz, die uns vom Zollhäuschen entgegen leuchtet, schlägt sanft gegen den Fahnenmast.

Weil am Rhein, gib mal deinen Ausweis rüber, sagt Rick in die Stille.

Mir fällt ein, dass mein Pass noch zu Hause in Paps‘ Schreibtischschublade bei den Familienpapieren liegt.

Der Zollbeamte mit den feuerroten Backen schenkt mir keine Aufmerksamkeit, er winkt uns einfach durch.

Später machen wir eine Tankpause und trinken noch rasch einen Kaffee aus Pappbechern. Der Automat bietet sechs verschiedene Kaffeesorten an. Ich ziehe außerdem eine Toblerone und stopfe die Schokolade gierig in mich hinein.

Der VW springt jetzt zwar an, lässt sich aber nur noch in den dritten Gang schalten. Rick murmelt, das sei egal, es ginge auch so. Ich sage besser nichts dazu, ich habe wirklich keine Ahnung von Motoren und vom Autofahren. Den Führerschein will ich erst später machen.

Regentropfen fallen. Die Wischerblätter quietschen und putzen auf den Scheiben zwei fächerförmige Durchblicke frei. Nach beinahe drei Stunden Schweigsamkeit, langweiligen Fahrgeräuschen und abgestandener Heizungsluft, die mich in eine Art Trance versetzt haben, erreichen wir endlich Ricks Zuhause, wenige Kilometer hinter Zürich. Häuser, wie zufällig aus einer Spielzeugkiste gefallen, verteilen sich in der Landschaft; über See und Bergen liegt eine graue Decke.

 

16.50 Uhr

Wir parken unter einer Weide, die sich elegant und geheimnisvoll über den Parkplatz spannt.

Schau, wie eine Kathedrale!, flüstere ich ehrfürchtig und bin jetzt ganz wach.

Rick meint, dass wir uns hier an der bekannten Züricher Goldküste befänden und deshalb sei es nicht verwunderlich, wenn sogar ordinäre Weiden zu Kathedralen würden.

Und dann sagt er feierlich: Darf ich vorstellen, dies hier ist also die Weinbergstraße und da drüben, da wohne ich!

In unmittelbarer Nähe rattert ein Zug, Waggons pfeiffen, halten an, stehen still. Der Klang einer Schiffsglocke flattert über den See. Dichtes, blauschwarzes Buschwerk, eine Pappel, exakt geschnittene Hecken und mächtige Zäune behindern die Sicht auf Bungalows und Terrassen, die am Ufer kleben. Wir stelzen über Pfützen und springen zu einem blau gestrichenen Häuschen. In der halb geöffneten Türe, im Schutze eines Glasdaches, lehnt eine Gestalt, das Gesicht von fliederfarbenen Haarkringeln und goldenen Ohrklipsen umgeben, von rosapudrigen Runen und Falten durchzogen.

Was für Lippen, wie ausgeleierte Gummibänder! Und diese Zähne, wie eine Hexe!, denke ich.

Die Alte presst einen Pekinesen an die Brust, begrüßt Rick: Ach, der gnädige Herr ist wieder zu Hause, ich hoffte schon, er sei zur Hölle gefahren!

Lachend flüstert Rick mir zu: So ist sie, die Alte. Ein furchtbares Weib, aber wir verstehen uns gut.

Dann sagt er: Liebe Frau Saladin, darf ich vorstellen – meine Verlobte, Scarlett Ostermann!

Ich zische: Spinnst du, ich bin doch nicht deine Verlobte!

Ich strecke der Alten die Hand hin. Sie übersieht sie. Sie mustert mich argwöhnisch. Ihre knotigen Finger ordnen dem Pekinesen das Fell. Das Tier stinkt aus seinem Mäulchen, in dem das Zünglein zuckt. Frau Saladin erklärt übergangslos, dass sie in ihrer Wohnung die Heizung hochgestellt habe, obwohl man ja von offizieller Seite wegen der Ölkrise angehalten sei, Heizöl zu sparen, aber es sei unerträglich kalt heute Abend und über dem See hinge schon seit Mittag ein Sauwetter. Nicht einmal der Hund wolle da raus.

Endlich tritt sie zur Seite und gibt den Eingang frei.

Wir schütteln Regentropfen aus dem Haar, klopfen die Schuhsohlen sauber und gehen rasch in Ricks Wohnung im Souterrain. Zur Etage der Alten führt eine geschwungene mit dicken, roten Filzfliesen ausgelegte Treppe.

Rick knipst Licht an und zieht die Vorhänge zu. Ich werfe meine Handtasche in einen schrumpeligen Ledersessel und schaue mich neugierig um. Hinter dem Sessel steht ein Heizlüfter auf Rädchen, rechts davon Ricks Schreibtisch mit Schreibmaschine, über die eine Plastikhaube gestülpt ist; vor dem schwarzbraunen Möbel ein gepolsterter Bürostuhl und eine Armlänge entfernt, ein übervolles Bücherregal. Den Platz zwischen den beiden Lautsprecherboxen füllen eine Stereoanlage, ein Plattenspieler und ein Tischchen mit Schallplatten. In der Mitte des Zimmers thront eine Couch, darauf ein gemustertes Fransen-Plaid und zwei Wollkissen. Die Dielen des Holzbodens sind breit und roh, ich höre ihr Knacken unter meinem Tritt. Die Badezimmertüre, weit geöffnet, zeigt eine Badewanne mit Dackelbeinen und eine Toilette mit Holzbrille. Kein Waschbecken! Kein Spiegel! Keine Dusche! Nicht einmal ein Fenster! Ich spüre, dass ich dringend Pipi machen muss und vielleicht auch mehr.

Rick ruft mir zu: Du darfst dich am Wasserhahn in der Wanne waschen!

Ich hocke auf dem Klo und kann nicht pinkeln. Es kommt einfach nichts, obwohl ich befürchte, dass meine Blase gleich platzen wird. Ich friere an Rücken und Hintern.

Und Handtücher gibt es in dem komischen Laden auch keine, denke ich. Das käme bei Alma niemals vor.

Erleichtert stelle ich fest, dass endlich Urin läuft und mir mein vertrauter Duft in die Nase steigt. Ich spüle ab, schaue dem wütenden Strudel hinterher und entlasse mein zartgelbes Pipiwasser in ein dunkles Abflussloch. Ich ziehe das Höschen hoch. Rick läuft im Zimmer auf und ab, er kann seine Ungeduld nicht unterdrücken.

Er umschlingt mich, presst mich an sich. Seine Lippen schmecken nach nichts, erst als seine Zunge in meinem Mund herumstochert, ist da was Süßes.

Rick hat einen großen, harten Mund. Gleich werde ich darin verschwinden und erst wieder freikommen, wenn er es zulässt. Er biegt meinen Kopf nach hinten und untersucht jetzt mit seinen Lippen die Haut meines Halses. Ich hänge in seinen Armen und befürchte, dass ich gleich zu Boden stürzen werde. Aber er hält mich und gräbt sein Gesicht in den Ausschnitt meiner Jacke. Plötzlich reißt er mich hoch, gibt mir keine Chance, zu entkommen. Er stößt mich aufs Sofa.

Die Decke kratzt. Er liegt auf mir, ich umgreife mit beiden Armen seinen Nacken, wage nicht, mich unter ihm zu rühren. Wie ein Stück Holz presst sich sein Ding durch unsere Kleidung, reibt auf meinem Bauch herum.

Lieber Rick, ich werde alles dir überlassen, du allein wirst wissen, wie es weiter geht, denke ich.

Leider stelle ich fest, dass ich überhaupt nicht glücklich bin, was ich doch jetzt eigentlich sein müsste.

Und genau in diesem Augenblick richtet er sich auf, schaut mich an, stößt seinen Atem in mein Gesicht: Scarlett, wir sollten nichts überstürzen!

Ja, ja, ja, wir haben Zeit, piepse ich. Wollte dich sowieso zuvor etwas fragen.

Er rutscht vom Sofa, hockt auf dem Boden, wirkt irgendwie misstrauisch: Was willst du wissen?

Ich stottere: Ich habe noch nie …, möchte ja …, aber wir dürfen kein Kind machen. Es wäre schrecklich, wenn ich ein Kind …

Er lacht laut heraus, aber sein Lachen klingt tiefgefroren: Nein, meine Kleine, wir machen kein Kind!

Er rappelte sich hoch, stakst in die Küche, öffnet den Eisschrank: Bier oder Wein?

Ich will wissen, ob wir uns denn nicht für die Oper umziehen müssten.

Rick lacht: Kindchen, das war doch nur eine Ausrede. Hat gewirkt, oder?

Ich spüre seine Verachtung und wehre mich: Erstens, du sollst nicht Kindchen, und schon gar nicht meine Kleine, zu mir sagen, das weißt du genau, und zweitens, du hast meine Eltern belogen. Sie sind überzeugt, dass wir heute Abend in Zürich in die Oper gehen.

Er lacht noch immer: Na und? Die beiden Alten müssen sich daran gewöhnen, dass ihre Tochter jetzt flügge ist und eigene Wege geht. Außerdem, Erwachsene lügen immer. Nur Kinder lügen nicht, die wissen noch nicht, was das ist.

Ich erkläre, dass ich keine Lügnerin sein will, und er erklärt mir, ohne mit der Wimper zu zucken, dass jeder Mensch mindesten hundert Mal pro Tag lüge.

Darauf ich: Hundert Mal? Das glaube ich nicht.

Rick: Vermutlich noch mehr. Hundert Mal reicht nicht. Ich: Du auch?

Rick, gelangweilt: Natürlich, ich auch. Mal mehr, mal weniger!

Er rumort jetzt in der Küche. Ich sitze kerzengerade auf dem Sofa und schaue mir das Zimmer an, nehme Farben und Formen, Strukturen und Gerüche auf. Die Decke auf dem Sofa riecht nach getrocknetem Gras und aus der Küche fliegt plötzlich überwältigender Spiegeleiduft in meine Nase. Aus der Vase, auf dem Tischchen neben dem Sofa, kriecht Blumenverwesung, vermischt sich mit dem Aroma geschmolzener Butter. Ich zähle fünf Tulpen, die längst trocken wie Heu sind. Ich packe die Vase und gehe damit in die Küche. Rick hat sich eine Schürze umgebunden und schneidet Speck. Er legt das Messer zur Seite. Ich umarme seinen Rücken und wir bleiben eine Weile so stehen.

Du darfst jetzt den Tisch decken, sagt er.

Das kann doch nicht sein! „Du darfst den Tisch decken“, hat Alma tausend Mal zu mir gesagt und ich habe mich darüber genau so oft geärgert. Es bleibt also wieder an mir hängen. Dieses saublöde Tischdecken ist wie immer meine Sache, denke ich.

Rick toastet Brot. Ich stelle Teller auf den Küchentisch, zwei Gläser dazu, Messer und Gabeln. Es klopft.

Er schaut mich an: Mach auf, das ist das garstige Weib!

Die alte Frau umklammert den Türrahmen, ringt nach Worten. Endlich verstehe ich ihre Verzweiflung.

Ich gehe zurück in die Küche: Rick, der Pekinese, der Hund von Frau Saladin …

Und? Ist er endlich tot?, fragt er und grinst.

Ich befürchte. Sollen wir nicht danach schauen?

Rick zieht die Schürze aus. Gemeinsam steigen wir hinter der Alten die Treppen hoch. Das Tier liegt wie schlafend in einem verschlissenen Louis XV.-Sessel. Die alte Frau schluchzt aus tiefster Brust: Jetzt sterb‘ ich auch. Ohne mein Ursli mag ich nicht länger leben!

17.45 Uhr

Wir marschieren die Treppe wieder herunter und in den Garten. Die Alte trägt Ursli in einer Tüte von Migros. Dichter, dünner Regen fällt, Windböen treiben einen kleinen Plastiksack vor sich her. Der Garten ist verwildert und schmutzig. Wir tasten uns durchs Gelände, suchen im Unterholz ein Plätzchen für den toten Hund. Rick stellt demonstrativ seinen Fuß auf ein Hügelchen und zischt: Hier, bleib hier mal stehen!

Dann stapft er weg, verliert sich im Regen.

Endlich kommt er zurück, er hat einen Spaten gefunden. Rick gräbt.

Die alte Frau schreit auf, fuchtelt mit Händen und Armen. Ich frage mich, warum sie so ein Theater macht oder ob sie immer ein wenig hysterisch ist.

Sie kreischt: Bloß nicht! Bloß nicht! Dort liegt schon der Reto!

Wer ist denn der Reto?, frage ich erschrocken.

Rick antwortet hinter geschlossenen Zähnen: Keine Ahnung, vielleicht hat sie einen ihrer Liebhaber umgebracht und hier verscharrt. Schau sie doch an, sie sieht aus wie …

Das letzte Wort verstehe ich nicht, weil Rick mir den Rücken zuwendet und die Alte lauthals jammert.

Wir müssen also nach einem anderen Platz Ausschau halten, stochern hinter stacheligen Stauden und Hecken umher und entdecken endlich eine Lücke zwischen Kiefern und Rhododendren. Rick ist triefend nass. Ich stülpe mir den Plastikbeutel über den Kopf, bringe mich neben der Alten unter einem Balkonvorsprung in Sicherheit.

Wir schauen Rick zu. Was für ein Mann! Jeder Spatenstich in Vollendung! Er stellt seinen Fuß auf das Spatenblatt und schon rollt eine Welle aus Kraft und Energie über Rücken, Gesäß und Schenkel. Erdklumpen für Erdklumpen löst sich ächzend, fliegt aufs Gras, bildet einen struppigen Haufen. Das Grab erreicht rasch die passende Größe.

Rick zieht den Pekinesen aus der Tüte und lässt ihn ins Loch plumpsen.

Am ganzen Leib zitternd legt die alte Frau Urslis Hundeleine dazu und stellt einen gefüllten Fressnapf ins Grab: Hier, mein Liebster, deine letzte Mahlzeit, feine Leber mit Reis, wie du’s immer gemocht hast.

Rick wird grob: So, nun weg da!

Er schippt Dreck und wirft einen Erdhügel auf, dann tritt er die lockeren Stellen fest. Ich wickele ein Stück Blumendraht um zwei Holzstöckchen, wie ich es als Kind immer getan habe, wenn ich eine aus ihrem Nest gefallene Amsel oder einen meiner Hamster beerdigen musste und die Ruhestätte damit kenntlich gemacht habe. Ich stecke das Kreuz in Urslis Grabhügel. Die Alte ruft: Ach, wie hübsch, das ist aber lieb von Ihnen! Rick fährt mich an: Scarlett, lass gefälligst den Quatsch, ich kann‘s nicht leiden!

Er reißt das Kreuz heraus und bricht es entzwei. Es klingt wie ein Schuss. Die alte Frau stöhnt auf und greift sich ans Herz. Ihr Gesicht ist bleich, Zähne klappern aufeinander. Die Löckchen sehen aus wie gedrehte Nudeln, darunter schimmernde Haut. Ich schenke der alten Frau ein Lächeln, sie sieht an mir vorbei und schleppt sich ins Haus zurück, hat nicht einmal mehr einen Blick fürs Hundegrab.

Vielleicht ist auch sie dem Tod näher als dem Leben, denke ich. Rick dreht den Schlüssel der Gartentür und schließt ab. Neben der Tür befindet sich eine zweite Tür, die einen gewaltigen Hebel hat.

Sieht ja aus, wie der Griff zum Kühlhaus von Almas Lieblingsmetzger, denke ich.

Was für eine Tür, wohin führt sie?, frage ich.

Er schaut mich an, schaut mir direkt in die Augen. Der Regen hat sein Äußeres verändert. Sein volles Haar liegt angeklatscht auf Stirn und Hals; er hat abstehende Ohren. Die Stoffhose klebt schwarznass an seinen Beinen und die Strickjacke ist voller Dreckspritzer. Er riecht nach Gartenerde.

Ach, das ist nur ein Hochbunker, ein Schutzraum, hat in der Schweiz jedes Haus, antwortet er ruhig.

Natürlich habe ich noch nie einen Bunker gesehen und frage aufgeregt: Darf ich hinein?

Nachher, Scarlett …, nachher! Er flüstert das zweite Nachher wie ein heißes Versprechen.

 

Ich erinnere mich, wie uns auch Hausmeister Iselin einmal von einem Bunker berichtet hat. Iselins Waffenbruder Hartmut Müller hat damals den Weg in den Schutzraum nicht mehr geschafft und ist vor den Augen der Kameraden von einer Granate zerrissen worden. Iselin hat uns sogar ein Foto von seinem Freund gezeigt, einem blassen Jüngling mit dünnem Blondhaar und ängstlichem Blick.

Wäre der dumme Junge ein bisschen schneller gewesen, nur ein paar läppische Schritte, dann hätte ihn der Bunker geschützt, hat Iselin gemeint.

18.30 Uhr

Die Spiegeleier sind kalt. Die Küche auch. Wir hocken am weiß lackierten Tisch, trinken Bier aus dem Eisschrank und zerkrümeln das ausgekühlte, steife Toastbrot. Rick macht einen runden Rücken und stiert vor sich hin. Ich versuche mir vorzustellen, wie sich der Abend weiter gestalten wird und blättere im Warenkatalog meiner Fantasiewelt. Mit dieser Methode habe ich mir auch in der Schule die Zeit vertrieben. Schade, dass es fürs Träumen keine Noten gibt, ich hätte eine Eins verdient.

Ich schließe die Augen. Wie hingezaubert steht ein Schloss da, so ein herrlich kitschiges Ding à la Herrenchiemsee; ich lasse Rick auftreten, der in einem fabelhaften, von Meisterhand genähten Mantel mit Schleppe, mit einem schimmernden Turban, darauf bunte Funkelsteine und Federn, vom Schlossgarten zum See wandelt. Unter dem Mantel blitzt eine knapp sitzende Badehose aus Metallplättchen. Ricks Haut ist samtbraun, die Muskeln sanft gewölbt. Majestätisch hebt er die Füße, steigt in ein mit Rosen verziertes Boot, in dem eine Schönheit auf schimmernden Kissen ruht. Das bin natürlich ich, in ein weißes Spitzenkleid mit Rüschen und Korsage gekleidet, ich trage schwarze Seidenstrümpfe und rote Riemchenpumps aus Lackleder. Woher das Boot kommt und wohin es fährt, egal! Wir spielen ein Glamourpaar. Fotografen stehen bis zur Hüfte im Wasser; das sind Profis, die uns für ein Mode-Magazin fotografieren. Rick sieht grandios aus, er ist nahezu perfekt. Eine Assistentin schwimmt herbei, um ihn neu zu pudern, ein paar winzige Schweißperlen abzutupfen. Auch mir trägt sie Wangenrouge auf. Endlich sind wir bereit! Objektive werden wie Kanonen auf uns gerichtet, ihr Klicken und Klacken klingt mächtig aufregend.

Ferne, ganz ferne surrt eine Stimme: Weißt du, ich habe ein sehr bequemes Bett, in dem du heute Nacht schlafen wirst. Ich gebe dir recht, wir sollten unsere Gefühle füreinander noch ein wenig festigen und nichts überstürzen. Du weißt, ich habe deinem Paps versprochen, dass ich immer auf dich aufpassen werde.

Ich mag seine Lippen, die sich verführerisch öffnen, zwei Reihen elfenbeinfarbiger Zähne zeigen. Seine rotblonden Barthaare glitzern, sehen aus wie Goldstaub, verlieren sich irgendwo auf den Wangenflächen. Wir schauen uns in die Augen, ich sehe Sterne, alles andere verschwimmt. Auch Ricks Riesennase und die weiße Narbe auf der Stirn …

Die Stimme flüstert schon wieder etwas, klingt unendlich weich und liebevoll. Er nimmt meine Hand, er entfernt das Toastbrot aus meinen Fingern und haucht mir einen Kuss in die Handinnenfläche; verspielt leckt er über meine Haut. Ich schrecke auf und stoße mein Glas um. Bierschaum bedeckt den Tisch, das Toastbrot ertrinkt, weicht auf, erschlafft. Hinter mir hängt ein Handtuch. Hastig versuche ich, den Biersee aufzuwischen.

Rick tröstet mich: Lass nur, ich mach‘ das schon!

Er steht auf. Er trägt Cordhose und einen ausgeleierten Pullover, keinen Mantel mit Schleppe und keine Seidenschuhe mit Spangen. Rick ist barfuß und hat krumme Zehen.

18.40 Uhr

Ich erkläre ganz ruhig, dass ich nur diese eine Nacht bleiben kann, dass ich am nächsten Morgen den Zug nach Düsseldorf nehmen werde. Ich sage: Weißt du, ich habe einen Termin. Einen Termin? Du hast einen Termin? Seine Stimme klingt schwer wie Stein.

Ja, einen Termin.

Er faucht: Willst du mir gefälligst erklären, was du Ungeheures im Sinn hast?

Ich sage, dass ich mich vorstellen will. Darauf er: Vorstellen? Bei wem?

In einem Mode-Atelier. Wie bitte?

Ich möchte Nähen lernen und endlich professionell Modelle entwerfen. Ich möchte Modeschöpferin werden. Später nach Paris oder London gehen, dahin, wo die berühmte Haute Couture gemacht wird, erkläre ich entschlossen.

Und er: Du? Dafür hast du Abitur gemacht? Scarlett, du spinnst doch!

Ich versuche locker zu bleiben: Ja, sage ich, ja, ich weiß, aber in diesem Job kommen nur gebildete Spinner nach oben. Ich glaube, da bin ich ziemlich gut.

Grabesstimmung kriecht augenblicklich in jedes Eckchen der Küche. Er starrt mich an. Hinter seiner Stirn brodelt es, sein linker Mundwinkel zuckt. Endlich schüttelt er den Kopf, er klingt traurig: Kindchen, was willst du in dieser Halbwelt? Ich schaue ihn verwundert an: Für dich mag es eine Halbwelt sein, für mich ist es die ganz große Welt. Ich will nur das und nichts anderes. Und außerdem hast du schon wieder Kindchen gesagt. Ich sage es noch einmal, du übernimmst nicht die Rolle von Paps, auch wenn du älter bist als ich. Ab heute …

Ich kann nicht weiterreden, ich kann‘s ihm nicht erklären, er wird mich nicht verstehen, das ist mir gerade klar geworden. Ungerührt wiederholt er: Aha, ab heute? Ich höre, was ist, ab heute?

Nichts, sage ich. Ich lächele tapfer und denke: Jetzt braucht er eine lange, lange Pause, er muss nachdenken, ich fange schon mal an zu zählen …

Wenn Paps über etwas Schwerwiegendes nachdenkt, muss ich auch zählen, muss mindestens bis zehn zählen, bis eine Antwort kommt. Alma meint, das käme von der Kopfverletzung. Alma ist schneller, viel schneller. Ich glaube, ihr Herz schlägt leichter und sie begreift rascher als Paps ihr zutraut. Ich murmele „zwölf“ und bin gespannt.

Er sagt: Scarlett, ich liebe dich!

Rick, ich muss erst lernen, was Liebe ist. Verstehst du? Ich glaube, ich liebe dich auch …, vielleicht, nein, bestimmt liebe ich dich, aber es gibt viele Arten von Liebe. Auch zwischen dir und mir. Woher soll ich wissen, welche die richtige, die ganz große Liebe ist? Das will ich erst herausfinden. Und sowieso, ich brauche jetzt erst einmal meine Freiheit, muss raus aus dem scheiß Kleinstadtleben. Ich will nicht enden wie Paps und Alma, ständig verstrickt in Förmlichkeiten und dieses steife Getue, eingesperrt in Rituale. Ich weiß nicht, wie ich es erklären soll …, vielleicht bist ja du auch schon wie sie, ereifere ich mich.

Oh, verdammt, den letzten Satz hätte ich jetzt besser nicht gesagt! Gerne würde ich die Worte zurücknehmen, aber nun ist es passiert, ich fürchte mich ein wenig vor Ricks Reaktion. Da sitzt er also, sein breites Kreuz wächst wie eine geschnitzte Herrgottsfigur aus dem Küchenstuhl.

Hundert Milliarden Nervenzellen, sogar bis zu einer Billion habe ich gelernt, hat das menschliche Gehirn. Ich habe den Eindruck, dass meine sämtlichen Zellen gerade verrücktspielen. Vorhin, die abstehenden Ohren, das regennasse Haar, die klebrige, verdreckte Hose, die feuchte Wolljacke, auch das ist Rick, für den ich ein großes, warmes Gefühl hege, mit dem ich sogar in seine Wohnung gefahren bin. Vor dem ich jetzt Angst habe? Warum?

Ich rutsche auf Strümpfen ins Wohnzimmer, schaue von dort zu ihm. Noch immer hockt er da, stumm und unnahbar. Richard auf dem Küchenthron, was für eine traurige Gestalt!, denke ich enttäuscht.

19.10 Uhr

Ich setze mich an den Schreibtisch, spiele mit dem Sessel Karussell und fühle mich elend. Es ist mir plötzlich bewusst, dass mir auch das Zimmer nicht gefällt. Die Einrichtung ist zweckmäßig und langweilig. Lieblos, würde Alma sie nennen. Neben der Schreibmaschine liegt ein dickes Heft, es sieht beinahe aus wie ein Buch, hat feste Kanten und ist schwarzglänzend eingebunden. Ich blättere und lese:

1. Januar 1974: Die DDR ersetzt das bisherige D-Autoschild durch das Kennzeichen DDR.