Hopfenbitter

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»Herr Wimmer, mer könnet unmöglich mehr sagen, als Sie schon wisset«, sagte Stimpfle streng.

»Lassen Sie es gut sein, Stimpfle. Morgen steht es eh in der Zeitung«, meinte Konrad. Als alter erfahrener Ermittler legte er die Regeln der Polizeiarbeit ein wenig großzügiger aus als sein Kollege. Damit war er meist sehr gut gefahren. Er folgte oft auch Spuren, die andere Kollegen längst wegen der Beweislage als Irrwege der Ermittlung abgelegt hätten. Wenn Konrad ein unbestimmtes Gefühl hatte, eine kriminalistische Ahnung, dann verfolgte er auch solche Irrwege länger als andere. Manch ein Beweis fing dann doch an zu wackeln, und plötzlich sah das Bild neu und völlig schlüssig aus. Meist war diese Mühe vergebens, doch immer wieder – oft genug – war er aber auch erfolgreich. Konrads Bonmot »die Welt ist so kompliziert, da können auch Tatsachen täuschen!« war unter den Kriminalpolizisten in Ingolstadt inzwischen ein geflügelter Ausdruck.

»Also gut: Den Biss haben wir gestern am Nachmittag in seinem Auto gefunden. Der Wagen ist von der Straße abgekommen und in einem Gebüsch gelandet. Biss selber war tot. Offenbar hat ihn eine Kugel getroffen. Der Gerichtsmediziner meint, wenn die am Tatort gemessene Temperatur der Leiche stimmt, dass er zwischen vierzehn und fünfzehn Uhr gestorben sein muss. Um die Zeit ist ein Jagdunfall eher unwahrscheinlich. Darum behandeln wir bis auf Weiteres diesen Fall als einen Mordfall.«

7

Als die Wolnzacher Metzgersfamilie wieder auf dem Rückweg war, las Konrad das Protokoll von Anna und lächelte.

»Ist doch wieder typisch für den alten Treibauf: Nur einmal darf er mit einem echten Detektiv z’ammarbeiten, und prompt wird der dann erschossen.«

»Haltet Sie den Herrn Wimmer wirklich für unschuldig?«, fragte Stimpfle, und seine Stimme verriet ernste Zweifel.

»Na ja. Die G’schicht war schon recht schlüssig. Und des Alibi können wir ja überprüfen.«

»I moin, des isch alles ja ganz nett, aber dass er mit dem Mann z’samm was sucht, und dann findet er’s, und hernach wird der Kollege verschosse … Da is doch der Worm drin. Des stinkt doch irgendwie.«

»Irgendwas stinkt. Das riech ich auch. Das muss aber nicht der Wimmer sein.«

»Ich tät ihn am liebsten einfach amal verhaften. Und wenn’s nur isch, dass er ned wieder ermittelt.«

Natürlich waren sowohl Anna als auch Wimmer ermahnt worden, unter allen Umständen auf jegliches Ermitteln zu verzichten. Dennoch war allen, Konrad, Stimpfle und auch Daschner, klar, dass alle polizeiliche Ermahnung da kaum etwas ausrichten würde.

»Wenn überhaupt ebbes hilft, die beiden zurückzuhalten, dann isch es die Frau Kirner. Die hat Haar auf de Zähn, und wenn die garschtig wird, mecht i ned in der Näh sein«, meinte Stimpfle.

Plötzlich machte es auf beiden Rechnern leise »Ping«.

»Ah, die Gerichtsmedizin!«, riefen beide synchron.

Der tote Dirk Biss war gestern noch aus dem Autowrack befreit und nach München gefahren worden, in die Nussbaumstraße zum gerichtsmedizinischen Institut der Ludwigs-Maximilians-Universität. Dort landeten in der Regel alle oberbayerischen Toten, die obduziert werden mussten.

Noch am Unfallort hatte Dr. Stolz aus Mainburg den Tod festgestellt. Das war einfach gewesen. Ein kleines rotes Loch, etwa eine Daumenbreite rechts über dem linken Auge. Am Hinterkopf hatte das Projektil eine faustgroße Austrittswunde gerissen. Reste von Haut, Haaren und Hirn hingen in Fetzen an den Wundrändern. Diese Verwundung war sofort tödlich gewesen.

Nach telefonischer Rücksprache mit der Gerichtsmedizin hatte Dr. Stolz die Lebertemperatur gemessen. Dazu musste er sich eine Art langes elektronisches Bratenthermometer von den Beamten der Spurensicherung borgen.

Als der Tote ausgestreckt auf dem Boden lag, tastete Dr. Stolz den Oberbauch ab, setzte die Nadel des Thermometers an, holte tief Luft, schluckte und trieb dann das Instrument mit dosierter Kraft und unterdrücktem Ekel etwa fünfzehn Zentimeter nach unten.

Er fand es widerlich, den Toten noch weiter verstümmeln zu müssen. Andererseits war ihm natürlich klar, dass die Temperatur der Leber, die sich im Schutz der Leibeshöhle nur langsam und vor allem gleichmäßig abkühlte, wichtig war, um den Todeszeitpunkt zu berechnen. Was die Rechtsmedizin mit dem armen Mann noch anstellen würde, wollte sich Dr. Stolz lieber nicht ausmalen.

Heute am späten Vormittag war der tote Detektiv nun auf dem Edelstahltisch gelandet – im Autopsiesaal 2. Ein kompletter Satz von Röntgenaufnahmen begleitete inzwischen den Toten. Die Kollegen hatten dem Schädel und seiner Zertrümmerung besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Hier gab es eine ausführliche Dokumentation.

Die eigentliche Leichenöffnung mit sämtlichen Untersuchungen dauerte fast fünf Stunden, wobei alle im Team die Mittagspause ausfallen ließen. Als die E-Mail in Ingolstadt eintraf, war die Autopsie gerade eine halbe Stunde vorüber.

Es war natürlich nicht der Autopsiebericht. Der war ein hochoffizielles, gerichtsverwertbares Dokument, das fachlich und formal hohe Auflagen erfüllen musste. Die Abfassung würde wohl erst in drei Wochen vom Sekretariat erledigt werden. Damit die Polizei inzwischen aber Material für ihre Ermittlungen hatte, wohnte ein Polizist der Autopsie bei und notierte seinerseits inoffiziell alle relevanten Befunde, die später im Bericht stehen würden.

Dieser Vorabbericht war eben als E-Mail bei Konrad und Stimpfle gelandet.

»Also ein Schuss, von vorne durch die Windschutzscheibe und durch den Schädel. Große Austrittswunde hinten«, las Konrad vor und pickte sich damit die wichtigste Information heraus.

»Des deckt sich voll mit unseren Ergebnissen am Tatort. Wisset mer was vom Projektil?«

»Nur, dass es wohl ziemlich viel Energie gehabt haben muss. Das macht ein Jagdgewehr wahrscheinlich.«

»Super. Des hat hier ja praktisch jeder im Schrank hängen!«

»Ganz so schlimm ist es nicht. Aber wir haben ja immerhin einen ganzen Haufen Spuren, denen wir nachgehen können.«

Eine halbe Stunde später waren sie im Labor der Spurensicherung. Hier trafen sie auf Kriminalhauptkommissar Vinzenz Linner. Der war im Begriff, in den Feierabend zu gehen.

»Dürfen wir dich noch einen Moment aufhalten?«

»Mei, wenn’s sein muss«, raunzte der Spurenfachmann. Seine üble Laune war ein gutes Zeichen. Vinzenz Linner war als Grantler bekannt. Dabei war das zu einem guten Teil Irreführung. Je herausfordernder und spannender er seinen Fall fand, umso schlechtere Laune stellte er zur Schau, während man gleichzeitig sehen konnte, wie er sich mit Sorgfalt, Fleiß, Erfahrung und manchmal auch mit kreativer Energie an seine Arbeit machte. Sein ständiges Nörgeln und Maulen war nur eine Art Betriebsgeräusch.

»Schaut’s amal, des hab ich heut Abend noch zusammengepuzzelt. Unten in der Garage, am Auto vom Toten.« Er reichte ihnen einen Satz Fotos, die er großformatig ausgedruckt hatte.

Die Spurensicherung hatte kurzerhand den ganzen Wagen als Beweisstück beschlagnahmt, in Plastikfolie gewickelt und in die Polizeigarage nach Ingolstadt fahren lassen. Dort war er weiter untersucht worden. Die Frontscheibe des Wagens war zwar durch den Aufprall noch weiter zertrümmert worden, war aber recht sauber. An der Scheibe der Fahrertür hing jedoch jede Menge Blut, Gewebe und Hirnmasse. Offenbar war die Explosion des Hinterkopfs von der Kopfstütze zur Seite abgelenkt worden. So waren die Rückbank und die Heckscheibe nur wenig besudelt. Das Projektil hatte sie aber glatt durchschlagen. Auch sie wies ein kleines Loch vorne und ein größeres hinten auf. Danach war die Kugel weitergeflogen und hatte in die Heckscheibe ein einzelnes kleines rundes Loch geschlagen. Durch diesen Ausgang hatte sie den Wagen verlassen.

In dieses Loch der Heckscheibe hatte Linner einen quietschgelben, zweieinhalb Meter langen Stab aus Glasfiber hineingesteckt und dann in das Loch in der Kopfstütze weitergeführt. Der gelbe Stab markierte so den letzten Teil der Schussbahn des Projektils, nachdem er sein Opfer getroffen hatte. Diesen Stab hatte er dann mit einem Lasergerät dreidimensional vermessen und das Ergebnis in einer sauberen Schemazeichnung ausgedruckt. Auch die präsentierte er stolz den Ermittlern.

»Die Schussbahn war ziemlich genau waagrecht und kam nur mit einer Abweichung von zwei Komma sieben Grad nach links von vorne. In dieser Richtung – vor dem Wagen natürlich – müssen wir den Tatort suchen.«

»Des isch gut. Damit könnet mer was anfangen. Das bedeutet auch, dass der Schütze zu ebener Erde gewäh isch, ned auf einem Ansitz oder Hochstand oder wie des Zeug hoischd.«

»Genau! Der hat horizontal geschossen, vielleicht sogar ganz leicht bergab.«

»Weißt du, wo das Projektil ist, Vinzenz?«, fragte Konrad.

»Ich bin doch kein Wahrsager! Woher soll ich das wissen?«

»Was hast du noch?«

»Ich hab den Wagen ausgeräumt und auf allen Asservaten die Fingerspuren, Speichelspuren und Ähnliches gesichert. Aber auch da hab ich noch nix in den Rechner eingegeben.«

Konrad wusste, dass diese Sicherung der Spuren zeitaufwendig war und dass Linner sich nicht drängen ließ.

»Der Herr Thalmayr, isch der noch in Urlaub?«, fragte Stimpfle. »Wann kommt er denn wieder?«

»Der müsst morgen wieder da sein. Er war nur kurz weg, zu einer Beerdigung. A Tante, glaub ich, ist gestorben.«

Thalmayr war Linners Kollege, ein ruhiger Mensch, der still, aber ausdauernd arbeitete und oft neue Ansätze fand. Zusammen waren die beiden ein sehr effektives Spurenteam.

Um achtzehn Uhr dreißig war Stimpfle nach Hause gegangen, und auch Konrad befand sich auf dem Weg zu Roswitha, seiner Frau. Im Auto rief er noch Dr. Müller an, die Staatsanwältin. Er informierte sie über das Wichtigste. Dr. Müller brach den Bericht nach ein paar Sätzen ab.

 

»Herr Konrad, ich war den ganzen Tag im Gericht. Mir brummt der Schädel. Heut will ich nur noch eine Badewanne, ein großes Glas Rotwein und einen schmalzigen Liebesfilm. Ich würde sagen: Wir bilden eine SoKo, gleich morgen um neun Uhr im Konferenzraum. Da werde ich ja wohl alles Wichtige erfahren.«

7.6.1958

Es war neun Uhr, als Franziska ihr Bett in der Universitätsfrauenklinik München bezog, einen hellen Raum mit großen Fenstern, vor denen der Garten des Innenhofs lag. Sie war immer wieder zu einigen Kontrolluntersuchungen hergekommen und mochte dieses Krankenhaus in der Maistraße. Es war ruhig und lag doch nur einen kräftigen Steinwurf von der hektischen Lindwurmstraße entfernt. Mit seiner streng wirkenden Fassade in ockerfarbenem Putz wirkte das große Haus zwar ein wenig kühl, doch kaum war man durch die Tür, war alles weit weniger wuchtig und ehrfurchtgebietend als viele andere Bauten derselben Zeit. Immer wieder unterlief der Jugendstil den Ernst des Historismus mit Schwung und Eleganz. Andere Details wie die in Bauernmanier gemalten Blumen, die die Zimmernummern umrahmten, machten alles ein wenig anheimelnd und gemütlich.

Die Fragen des Baustils kümmerten Franziska aber nicht. Sie hinterfragte auch nicht, warum ihr die Klinik sympathisch war. Sie war nur zufrieden, dass sie mit ihrem Kugelbauch gut angekommen war. Erleichtert ließ sie sich in die frisch gestärkten Kissen sinken und wartete auf die nächste Wehe. Die kamen etwa alle zehn Minuten.

Es dauerte noch. Das Kind ließ sich Zeit. Gegen Mittag aber waren die Wehen regelmäßiger und kamen in etwa sechsminütigem Abstand. Man führte sie in den Kreißsaal.

Die nächsten drei Stunden löschten sich später aus Franziskas Gedächtnis, bis auf ein paar Reste. So erinnerte sie sich an die Hebamme, die sie mit Sanftheit lenkte, immer weiter hinein in die Geburt begleitete und am Ende sogar anschrie und sie so über ihre eigenen Grenzen hinaustrieb.

Am Ende aber hatte sie ihr Kind im Arm. Alle Schmerzen, alle Angst … sie waren wie weggewischt, und sie war nur mehr glücklich. Das Kind war winzig, rosig, warm und so unglaublich weich. Sie legte es an und zuckte zusammen. Das Kind saugte mit überraschender Kraft. Das fühlte sich an, als wäre ihre Brustwarze in die Steckdose geraten. Doch schon bald wurde es besser. So genoss sie diese erste, sehr sinnliche Begegnung mit ihrem Kind. Diese Momente wurden ihr Leben lang das, woran sie als Erstes dachte, wenn sie sich an die Geburt erinnerte, und sie lächelte stets.

Als sie den Kreißsaal räumte, dieses Mal in einem Rollstuhl, wurde der Junge in das Kinderzimmer gebracht, wo in fahrbaren Bettchen schon ein gutes Dutzend Säuglinge schlief. An einem kleinen Schreibtisch saß eine junge Schwester, die sie anlächelte. Franziska war beruhigt. Ihr Schatz war in guten Händen. Sie winkte ihm zu und ließ sich zu ihrem Bett schieben.

Der nächste Tag verging bei Mutter und Kind hauptsächlich mit Stillen und Schlafen. Am folgenden Tag, einem Montag, fühlte sie sich schon viel besser. Nun begann sie auch mit ihren Zimmergenossinnen zu plaudern. Es waren vier nette junge Frauen, alle frisch entbunden. Hier wurde gekichert und viel gestrickt.

Als Franziska aber erklären musste, dass es keinen Vater gab, war die Reaktion geteilt. Die zwei fensterseitigen Mamas sahen sie mit einer Mischung aus Überlegenheit und Mitleid an. Die Mutter neben dem Waschbecken war gelinde entsetzt, und die langhaarige Blonde im Bett neben ihr meinte nur: »Denk dir nix! Solche Kinder hat es immer gegeben. Wenn man sie lieb hat und z’sammhilft, werd aa a rechter Mensch draus.«

Am Abend kam Eleonore zu Besuch. Das Kind wurde ausgiebig bewundert und gelobt.

»Wie soll der Bub denn heißen, Franzi?«, fragte Eleonore.

»Ich weiß noch nicht. Werner, denk ich. Es ist vielleicht nicht der schönste Name, aber so hat mein Papa geheißen. Der Rest der Familie kann mir erst mal gestohlen bleiben.«

»Hat sich die Sache immer noch ned eingerenkt?«

»Nein. Die wollen nach wie vor nix wissen von einer ledigen Mutter.«

»Deine Mama auch nicht?«

»Mit der tät ich schon auskommen. Mit ihr bin ich im Frühjahr zweimal beim Kaffeetrinken g’wesen. Aber sie hat ja fast kein Geld und ist abhängig von der Oma. Und die ist ein garstiger Besen. Hart wie Granit! Als die spitz bekommen hat, dass Mama mich heimlich trifft, hat sie ein Riesentheater gemacht! ›Verrat‹ hat sie geplärrt und der Mama gedroht, dass sie sie rausschmeißt.«

»Ja, so a garstige Hex! Das möcht man ja ned glauben!«

»So steht’s auf einem Karterl, das sie mir geschrieben hat.«

Es ging Franziska von Tag zu Tag immer besser. Am Dienstag lief sie schon ein kleines Stückchen. Auch der Kleine gedieh gut. Am Mittwoch wagte sie einen Ausflug in den gegenüberliegenden Krankenhausflügel ins Erdgeschoss. Dort war eine Zweigstelle des Standesamtes untergebracht. Hier wurde das Kind nun ordnungsgemäß angemeldet und erhielt den Namen Werner.

Lange hatte Franziska überlegt, ob sie nicht doch den Vaternamen Konstantin wählen sollte, vielleicht auch nur als zweiten Vornamen. Doch sie entschied sich dagegen. Konstantin … er war nur ein Abenteuer gewesen. Eine wunderbare Dummheit, ein kurzer Rausch. Aber eine Beziehung hatten sie nie gehabt. Er wusste von ihr kaum etwas und sie ebenso wenig von ihm. Sie bereute die kleine Affäre nicht und auch nicht das Kind. Es war, wie es war. Aber Konstantin und sie hatten kaum eine gemeinsame Vergangenheit und sicher keine gemeinsame Zukunft. Was auch immer daraus werden würde, Konstantin würde keinen weiteren Anteil daran haben. Seine Rolle erschien Franziska zu kurz, um ihn im Namen des Kindes zu verewigen.

Am Donnerstag, der kleine Werner war inzwischen sechs Tage alt, genoss Franziska nach dem Stillen eine Stunde lang die Sommersonne im Garten des Innenhofs der Klinik. Es tat ihr gut. Es waren Momente völliger Entspannung. Als sie in ihr Zimmer zurückkehrte, wartete ihre Mutter auf dem Flur auf sie. Wie sie von der Geburt des Enkelkindes erfahren hatte, wusste niemand. Es war ein tränenreiches Wiedersehen. Auch wenn die frischgebackene Oma ihr Enkelkind bewunderte, so war sie doch machtlos, wenn es um dessen Urgroßmutter ging. Sich gegen die biestige Diktatorin der Familie aufzulehnen, gelang ihr nicht.

»Ach, Kind, wenn ich nur so könnt, wie ich möcht.«

»Ja, kommst du denn überhaupt zurecht, jetzt, wo ich nimmer da bin?«

Seit sie ausgezogen war, hatte Franziska ihre Mutter finanziell nicht mehr unterstützt. Zum einen brauchte sie das Geld für Miete und Essen nun selbst, und das Wenige, was übrig blieb, legte sie zurück. Nun, da das Kind da war, war ein solcher Notgroschen beruhigend. Sie würde ihn wohl auch bald brauchen.

»Ach, Franzi, irgendwie komm ich schon zurecht. Ich brauch ja nicht viel. Aber wie sollen wir das denn nur wieder einrenken? Man kann ja nicht so im Streit leben.«

»Wir können da nicht viel machen. Es ist nun mal, wie es ist.«

»Aber Kind, sei doch nicht so unnachgiebig und hart.«

»Mama! Ich bin doch nicht unnachgiebig. Ich bin doch nicht hart. Die Großmutter ist es. Das Erste, was Großmutter wollte, war den kleinen Werner aus der Welt zu schaffen, noch ehe er geboren war. Ich kann doch mein eigen Fleisch und Blut nicht umbringen, damit der Familiensegen nicht schief hängt!«

»Und wie soll es weitergehen?«

»Das weiß ich noch nicht. Aber irgendwie wird es schon gehen.«

Wie es weitergehen sollte, wusste Franziska tatsächlich nicht. Wäre sie frömmer gewesen, hätte sie vielleicht gesagt: mit Gottvertrauen. Doch das Vorbild ihrer bigotten Verwandtschaft sorgte dafür, dass sie niemals so dachte. Vielleicht dachte sie überhaupt nicht viel. Bisher hatte sie vor allem auf die Geburt hin gelebt und darüber hinaus nicht weitergesehen. Ihr war natürlich klar, dass sie in ihrer kleinen Kammer kein Kind aufziehen konnte. Das mochte ein paar Tage gut gehen, doch auf Dauer war es keine Lösung. Bald musste sie auch wieder arbeiten und zugleich ihr Kind versorgen. Wie das gehen sollte, wusste sie auch noch nicht, und doch war sie zuversichtlich. Sie würde es irgendwie schon schaffen. Andere Frauen hatten auch als Ledige ihre Kinder groß bekommen.

Am Abend kam Eleonore zu Besuch, brachte liebe Grüße von den Arbeitskolleginnen mit und ein Geschenk von allen, das Franziska zu Tränen rührte. Einen Kinderwagen! Der war zwar nicht neu, ein halbes Dutzend Kinder war wohl damit schon herumkutschiert worden, doch ihr Mann habe ihn frisch überholt, und er werde Franziska das Leben deutlich erleichtern.

Als sie ihrer Freundin von ihren Sorgen berichtete, meinte Eleonore, man müsse halt jemanden mit Kindern in der Nachbarschaft bitten, den kleinen Werner mitzuversorgen. Wenn man dafür etwas zu bezahlen bereit sei, finde sich sicher jemand. Sie selbst, bot sie an, könne zumindest eine Zeit lang auf den kleinen Werner achten, wenn Franziska ihn vor der Arbeit zu ihr bringe und danach abhole. Das sei sicher nicht ideal, aber eine Möglichkeit. Franziska überlegte schon, ob sie eventuell nur mehr halbtags arbeiten konnte. Doch reichte das zum Leben?

Diese Nacht schlief sie sehr unruhig und träumte schlecht. Erst als man ihr gegen drei den hungrigen Werner anlegte, beruhigte sie sich und schlief mit dem Kind im Arm ein.

Bei der Visite am späten Freitagvormittag erfuhr sie, dass sie zur Entlassung vorgesehen war, auch die meisten der Wöchnerinnen im Zimmer sollten ausziehen. Später am Nachmittag würde eine Schwesterhelferin kommen und beim Packen helfen. So war die Stimmung im Zimmer so heiter und optimistisch, dass auch Franziska davon angesteckt wurde. Bis kurz nach dem Mittagessen. Sie stillte gerade, da bekam Franziska einen letzten Besuch. Ihre Tante Iris.

In schwarzem Kleid, mit Handschuhen und Hütchen wirkte sie auf Franziska wie eine Krähe. Einen Moment erschrak die junge Mutter, dann aber sah sie auf ihr Kind und fühlte, wie Kraft in ihr wuchs. Sie fühlte sich stark wie eine Löwin. Sie lächelte die Tante an und hauchte dem Gast, um den Säugling nicht zu stören, ein stilles »Hallo« zu. Mit dem Kopf wies sie auf einen Stuhl. Iris nahm steif Platz. Ein Lächeln konnte sie dennoch nicht ganz unterdrücken.

»Das ist er also«, stellte sie fest.

»Werner«, hauchte Franziska.

»Nun, du hast deinen Willen also durchgesetzt. Das Kind ist da.«

Franziska schwieg und lächelte. Sie wollte sich nicht streiten.

»Ich soll dich grüßen. Von meiner Mutter. Und ich will dir helfen, diese ganze Sache endlich wieder einzurenken. Du hast dich da in etwas verrannt. Es ging uns immer nur darum, dir das Leben zu erleichtern. Wir wollten dir helfen. Damit du nicht deine Zukunft durch einen Moment der Schwäche kaputt machst.«

»Sag es nicht mir, sag es Werner.«

»Wieso? Welchem Werner?«

»Deinem Neffen hier. Eure Hilfe wäre sein Tod gewesen.«

Die Worte waren leise gewesen und ganz ruhig gesprochen, trafen aber Iris ins Mark. Ihre Lippen wurden blass und schmal, während ihre Wangen sich vor Scham röteten. Es dauerte ein wenig, bis sie sich gefasst hatte. Franziska beachtete sie nicht weiter. Sie drehte sich um und legte Werner an der anderen Brust an.

Iris war genötigt, zur anderen Seite des Bettes umzuziehen, um das Gespräch wieder aufzunehmen.

»Wir haben nachgedacht. Und wir haben eine Lösung gefunden. Großmutter hat dem zugestimmt und übernimmt sogar die Kosten.«

Franziska blickte auf.

»In der Schweiz sind die Ämter ja oft viel vernünftiger und geben die Kinder von ledigen Müttern auf andere Stellen, zu Familien aufs Land, wo sie gut versorgt sind. Hier macht man das wohl nicht mehr so. Aber wir haben gesucht und jetzt jemanden gefunden, eine Bauernfamilie. Bei Schwandorf. Da würd es ihm an nichts mangeln.«

Franziska schwieg.

»Das ist doch eine wunderbare Lösung. Das Kind ist versorgt, und du könntest zurück, als wäre nie etwas gewesen. Keiner ahnt etwas. Alles wäre wieder in Ordnung. Dann können wir auch sehen, dass wir dich ordentlich verheiraten. Nur vielleicht ohne Myrthenkränzchen.« Iris lächelte dünn. »Ist das nicht eine wunderbare Lösung? Die Familie ist dann wieder zusammen.«

Franziska schwieg und lächelte ihr Kind an. Dann sprach sie leise und hielt ihren Blick auf ihrem Kind.

»Werner, was denkst du? Ist das nicht schön? Die Familie ist dann wieder zusammen! Sie meinen wohl, du gehörst gar nicht dazu.«

 

»Ach, Franzi, Kind! Sei doch vernünftig! Du kannst doch nicht …«

Franziska unterbrach ihre Tante, und als sie sie nun anblickte, war ihr Blick plötzlich hart, und ihre Augen funkelten gefährlich. »Ich bin nicht mehr Kind, Iris. Ich bin nun Mutter. Und ich bin vernünftig.«

»Wir meinen es gut mit dir!«

»Nein. Ihr meint es gut mit euch, aber ihr wollt das Falsche!«, rief sie, sprach aber gleich wieder ruhig weiter. »Ich soll mein Kind weggeben, zu fremden Leuten. Das ist sicher nicht das Beste! Niemand kann meinem Kind die Liebe geben, die ich ihm geben kann! Irgendwelche Bauern, die das Kind nehmen, damit sie Geld damit verdienen, können es ganz sicher nicht. Ihr wolltet das Kind damals aus der Welt schaffen, und nun versucht ihr es schon wieder! Ihr habt nichts begriffen. Gar nichts. Euch geht es nur um scheinheilige Moral und den Anschein. Keiner merkt was? Darauf kommt es euch an? Ich kann wiederkommen, als ob nichts geschehen wäre? Wie soll das gehen?«

Sie nahm den verdutzten Werner von der Brust und hielt ihn hoch. »Es ist doch etwas geschehen. Hier! Werner ist da! Das ist Tatsache! Akzeptiert es doch endlich. Die Familienehre würde damit schon klarkommen. Auch andere Familien sind nicht makellos. Aber ihr wollt nur den perfekten Anschein und nicht die perfekte Familie. Sonst hättet ihr Mama und mich besser behandelt, sonst würdet ihr mich unterstützen und nicht nur versuchen, diese sonderbare Familienehre zu retten, indem ihr ein ungeliebtes Familienmitglied auf die eine oder andere Art um die Ecke bringt. Hauptsache weg und unsichtbar!«

»Franziska! Das meinst du doch nicht ernst?«

»Ich meine es genauso ernst, wie ihr euren Vorschlag gemeint habt! Ihr seid hartherzig und lieblos.«

»Wir wollen dir doch helfen!«

»Solch eine Hilfe brauche ich genauso nötig wie ein Loch im Kopf!«

»Kind, du versündigst dich!«

»Ich liebe mein Kind! Das kann keine Sünde sein! Aber ihr versündigt euch an Werner, schon wieder! Sieh dir deinen Neffen noch einmal an. Denn wenn es nach mir geht, dann siehst du ihn zum letzten Mal. Ich bin fertig mit euch.«

Olete lõpetanud tasuta lõigu lugemise. Kas soovite edasi lugeda?