Das E-Commerce Buch

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2012: Die Multichannel-Blase


Missverständnis Beratung

„I believe the death of the retail store has also been greatly exaggerated. The influence of the internet and online sales will continue to increase, but […] multichannel retail platforms will be the primary beneficiary of this trend.“

Bill Bishop, Brick Meets Click 31

Ein weiterer Wachstumsschub katapultiert den E-Commerce-Umsatz 2012 in den USA auf 227 Milliarden US-Dollar und in Deutschland auf 39 Milliarden Euro. Es entstehen mehr und mehr innovative Konzepte wie der Handmade-Marketplace Etsy und stark gehypte Modelle wie die Daily-Deal-Konzepte Groupon (Local Coupons) und Fab.com (Home and Living Merchandise). So wurde Groupon 2010, nur zwei Jahre nach seiner Gründung, von Forbes als „fastest growing company ever“32 gefeiert. Noch im selben Jahr lehnte Groupon Akquisitionsangebote von Yahoo (3 bis 4 Milliarden US-Dollar) und Google (5,75 Milliarden US-Dollar) ab. Nur ein Jahr später betitelte man Groupon dann als „the world’s most controversial company“, nicht zuletzt wegen seines umstrittenen Börsengangs im November 2011.33 Lokale Dienstleister, Restaurants und andere Groupon Partner bemerkten, dass das Überangebot von Coupons zu einem drastischen Preisverfall führte. Statt neue Kunden über einmalige Rabattaktionen zu gewinnen, stellte sich heraus, dass kaum Kunden bereit waren, später zum vollen Preis zu konsumieren.

Eine spannende Entwicklung zeichnet sich vor allem im deutschen E-Commerce ab. Bis etwa 2010 besteht das E-Commerce-Wachstum in Deutschland hauptsächlich aus dem Rückgang von Katalogumsätzen, also der Migration der Katalogkunden in den Online-Handel (vgl. Abbildung 1.3). Der stationäre Handel entwickelt sich also bis 2010 vom E-Commerce weitestgehend unberührt. Das Umsatzwachstum des Einzelhandels insgesamt ist inflationsbereinigt bei fast null. Erst seit 2011 legt das E-Commerce-Wachstum vom Katalogversand losgelöst zu und steigt mit erhöhter Wachstumskurve an. Ohne erkennbares Gesamtwachstum der Einzelhandelsumsätze verliert der stationäre Handel monatlich zwischen 500 Millionen und 1 Milliarde Euro an die Online-Kanäle, Tendenz steigend. Der schon vor 2010 geschwächte stationäre Handel verliert also mehr denn je an die wachsenden E-Commerce-Gewinner.

Derweilen hat Amazon den Wettbewerb eindeutig abgehängt und dominiert den Online-Handel in den USA und in Westeuropa. Weiterhin gewinnt Amazon viele Umsätze durch seine aggressive Preisführerstrategie. Die Entwicklung von Pricing Robots lässt Amazon alle Preise seiner Wettbewerber überwachen und mithilfe von Algorithmen ideal und in Echtzeit anpassen. So liefern sich 2009 Amazon und seine Rivalen Walmart und Target einen umstrittenen Preiskampf. Beispiel Bücher: Bei Bestsellern unterbieten sich alle drei Retailer Kopf an Kopf, sodass die regulär zwischen 25 und 35 Dollar kostenden Bücher jeweils für unter 9 Dollar angeboten werden; die American Bookseller Association fordert daher die US-amerikanische Justizbehörde auf, dieses „Predatory Pricing“ eingehend zu prüfen.34

Abbildung 1.3: Umsatzentwicklung Distanzhandel

Quelle: eigene Erstellung auf Basis von Excitingcommerce.de, Statistisches Bundesamt, BVH, eigene Prognosen (lineare Fortschreibung)

Im deutschen Modebereich intensiviert sich der Preiskampf durch den relativ neuen Marktteilnehmer Zalando, der ähnlich wie Amazon Preisvorteile durch Skaleneffekte erzielen will. Insgesamt scheint Amazon aber nicht mehr aufzuholen zu sein: 2012 setzt sich die dominante Marktstellung durch und die Zappos-Akquisition stärkt Amazon weiter in seiner Monopolstellung. In den USA (siehe Abbildung 1.4) wie in Europa hat sich der Wachstumskreislauf (seit 2007) stetig „weitergedreht“. Die Verkaufszahlen von Amazon heben ab 2009 nochmal richtig ab und lassen den Wettbewerb erblassen. Und das spüren nicht nur direkt konkurrierende Online-Händler, die nun ihrem eigenen Preisdruck unterliegen.

Abbildung 1.4: Amazon dominiert den Markt

Quelle: S. Banjo, P. Ziobro, The Wall Street Journal: After Decades of Toil, Web Sales Remain Small for Many Retailers. Für 2016 hat Amazon bereits einen Gesamtumsatz von 136 Milliarden US-Dollar reportet.

Im permanenten Abwärtsflug will der stationäre Handel jetzt jedoch das Steuer herumreißen – und die Lösung heißt Multichannel. Wenn offline sinkt, muss eben mehr online her. Die Kanalverknüpfung soll den Kunden entlang des Kaufprozesses immer dort erreichen, wo es ihm gerade am besten passt – in der Filiale, online oder auf dem Smartphone. Eine tolle Idee, jedoch haben es die traditionellen stationären Händler hier noch nicht geschafft, den Kunden neben Services wie „Online-Bestellung in der Filiale abholen“ (Click & Collect) oder „Retouren vor Ort zurückgeben“ einen echten Mehrwert zu bieten. Ist der Kunde gerade online auf der Suche nach einem Produkt, so zählen eben ganz andere Entscheidungskriterien. Kurzum: Ein Händler kann nur dann im jeweiligen Kanal bestehen, wenn er dem Kunden hier auch echte Mehrwerte bietet, denn die Verknüpfung verschiedener Kanäle an sich kann die Kostenproblematik der Brick-and-Mortar-Filialen nicht retten.

Insgesamt ist kundenseitig 2012 noch ein deutlicher Unterschied in den Kanalpräferenzen zu erkennen. So bevorzugen in etlichen Produktkategorien (zum Beispiel Reisen, Entertainment und Bücher) deutlich über 60 Prozent der jüngeren Kunden in Deutschland den Online-Kanal gegenüber dem stationären Handel, wobei der Gesamtdurchschnitt in den genannten Kategorien eher bei 45 Prozent liegt. Die Entwicklung hin zur Selbstberatung im Internet ist vor allem unter jüngeren Kunden und Digital Natives verbreitet und unterstützt das Umsatzwachstum komplexer und informationsintensiver Produkte über Online-Shops zunehmend. So steigern beispielsweise von 2011 auf 2012 beratungsintensive und teilweise hochpreisige Produktgruppen wie Möbel (plus 58 Prozent) und Kosmetik/Parfüm (plus 67 Prozent) ihren Umsatz deutlich – wenngleich bei geringer Basis.35 Unterstützt wird diese Entwicklung durch Kundenbewertungen, Empfehlungen der Händlershops, Produktvergleichsportale sowie ein wachsendes Informationsangebot der Hersteller. Diesen Trend verdeutlicht ebenfalls die vom ECC Köln durchgeführte Studie36 zum Online- und Offline-Kaufverhalten. Darin gaben die Befragten unter anderem an, aus welchen Gründen sie nach der Internetrecherche am Ende doch im Laden eingekauft haben. 57 Prozent der Befragten nannten fehlende Haptik, 44 Prozent nannten die sofortige Verfügbarkeit des Produktes. Lediglich 27 Prozent gaben an, aufgrund der persönlichen Beratung im Ladengeschäft stationär gekauft zu haben. Fast drei Viertel der Befragten sahen also in der persönlichen Beratung keinen wichtigen Kaufgrund für den stationären Handel. Umgekehrt wurde auch untersucht, welches die Gründe für den Online-Kauf im Vergleich zum Kauf im stationären Handel sind: 48 Prozent der Befragten nannten die schnelle und einfache Online-Bestellung, 44 Prozent gaben den günstigeren Preis als Grund an. Aus der Kombination der Faktoren gute Online-Beratung, schnelle Bestellprozesse und kompetitive Preisstrategie lässt sich also der Erfolg bestehender E-Commerce-Konzepte wie Amazon, Zalando und Ebay erklären.


Abbildung 1.5: Vertriebspräferenzen nach Altersgruppe

Quelle: Prof. Dr. Renate Köcher, ACTA 2012, (www.ifd-allensbach.de/fileadmin/ACTA/ACTA_Praesentationen/2012/ACTA2012_Koecher.pdf)

Insight


Den Kunden auf allen Kanälen zu bedienen war 2012 noch die ultimative Strategie der Handelsunternehmen mit stationärer DNA, um gegen Amazon, Wayfair, Zalando und Co. zu bestehen. Die Vermutung dahinter war, dass es eine hinreichend große Bindung zur Handelsmarke wie zum Beispiel Macy’s, Sears oder Galeria Kaufhof gibt, die Kunden vom stationären Handel auf die eigene Webseite bringt. Analog dazu funktionieren barnesandnoble.com, bestbuy.com, Karstadt.de und andere. Die vermuteten Kundenbindungseffekte wurden aber leider nicht realisiert. Im Gegenteil – es gibt ausreichend Studien und Belege dafür, dass die Kundenbindung zur Händlermarke gegen null tendiert.37

Ausblick der Marktteilnehmer 2012


Amazon dominiert und lässt die Liste der Online-Marktplätze insgesamt schrumpfen. Trotz des Verlustes kleinerer Akteure wächst das Marktsegment unaufhaltsam weiter und beeinflusst durch die Oligopolstellung der wenigen Gewinner alle weiteren Segmente.

 

Die so vielversprechend gestarteten Online-Händler verlieren zunehmend Marktanteile an Amazon und Co. Und dort, wo Marktanteile erkämpft werden, werden diese mit hohen Marketingausgaben und Margenverzicht erkauft, was den Druck insgesamt weiter steigen lässt. So wächst der deutsche Fashion-Pure-Player Zalando 2012 beispielsweise um beeindruckende 125 Prozent auf 1,159 Milliarden Euro Umsatz, fährt dabei allerdings Verluste von 90 Millionen Euro ein.38 In den USA ergeht es Pure-Playern wie Wayfair und Zulily ähnlich.


Der Großteil der Intermediäre wird 2012 von Google und einigen wenigen Branchenchampions endgültig aus dem Markt verdrängt. Eine Handvoll Gewinner bleibt bestehen (Google Shopping, Kayak.com, Booking.com etc.). Die Aussicht auf das Wachstum bestehender und das Entstehen neuer Intermediärkonzepte ist negativ.


Für das Kataloggeschäft sieht es weiterhin schwierig aus. Hat man 2007 noch Online-Wachstum verbuchen können, so flacht dieses nun ab, da die meisten Offline-Kunden bereits zum Online-Kanal migriert sind. Die Folge: Zwei der drei großen deutschen Kataloghäuser melden Insolvenz an (Quelle 2009 und Neckermann 2012). Auch in den USA sind fast alle Katalogversender verschwunden – so hatte Sears seinen Katalog bereits 1993 aufgegeben, JC Penney folgte 2009 und Eddie Bauer erlitt nach der ersten Insolvenz 2005 im Jahr 2009 seine zweite.


Der stationäre Handel blickt der Multichannel-Zukunft positiv entgegen: Home Depot und Macy’s investieren stark in Multichannel-Angebote, Media Markt eröffnet seinen Online-Shop (im zweiten Versuch), Conrad stellt in den Filialen Internet-Terminals bereit und Douglas entwickelt eine Erlebnis-App für Smartphones. Doch Insolvenzen wie jene von Sears und Karstadt warnen auch: Investitionen in Digitales sind für stationäre Händler zwar alternativlos, bieten aber keinerlei Garantie, dass der Gang in die Irrelevanz verhindert werden kann.


Für Hersteller verbessern sich endlich die Bedingungen – der E-Commerce ist auf eine professionelle Partnerschaft mit Marken ausgerichtet, und Hersteller gehen selbstbewusst in den Online-Handel. Sie verstehen es mehr und mehr, Marktplätze für sich zu nutzen und mit eigenen Markenshops Umsatz und Gewinn zu steigern. Einige Markenhersteller wie Adidas und Asics kontrollieren allerdings den Online-Vertrieb sehr streng und versuchen den Verkauf über die Marktplätze Amazon und Ebay zu verbieten.39 Somit erhoffen sich die Hersteller größere Kontrolle über das Markenimage, die Produktdarstellung und natürlich vor allem die Verkaufspreise. Kartellrechtlich ist das allerdings nicht immer einfach umzusetzen. Vor allem aber steigen Marken zunehmend in den Direktvertrieb ein und behalten so die Kontrolle, ohne Online-Umsätze zu verpassen. Diese neue Nähe zum Endkunden hilft vielen Herstellern, direktes Kundenfeedback zur Produktentwicklung zu nutzen.

2015: Der stationäre Handel leidet


Missverständnis Stationär

„I believe the rebirth of retail will come as developers, retailers and cities understand the retail paradigm of the future is based on something timeless and enduring.“

Rick Caruso, CEO Caruso Affiliated in einer Pressemitteilung 40

2015 erreicht der E-Commerce einen Rekordumsatz von 348 Milliarden Dollar in den USA sowie 57 Milliarden Euro in Deutschland. Damit übersteigt das E-Commerce-Wachstum seit Jahren das Wachstum des Einzelhandels insgesamt. In den USA beispielsweise wächst der E-Commerce 2015 je nach Quellen um etwa 11 bis 15 Prozent, wobei der Einzelhandel nur um 3,7 Prozent ansteigt. Der Trend hält an: 2018 beträgt der Anteil von E-Commerce am US-Einzelhandel insgesamt erstmals 10 Prozent.41 In Deutschland legt der Online-Handel ebenfalls weiterhin kräftig zu, während stationäre Händler in die Röhre schauen: Im Vergleich zum Vorjahr halbiert sich das Wachstum für Letztere auf 1,8 Prozent, was inflationsbereinigt einer Nullrunde gleichkommt. Im selben Zeitraum macht der E-Commerce ein Plus von 10 Prozent und setzt gute 60 Milliarden Euro um.42

Die Marktverschiebung hin zum E-Commerce ab 2015 zeigt sich außerdem im immer schneller sinkenden Foot Traffic, den der Einzelhandel bereits seit Jahren verzeichnet. In den USA sehen beispielsweise die stationären Einzelhändler allein in den letzten vier Quartalen bis 2015 einen Rückgang an Ladenbesuchern von 6,5 Prozent (siehe Abbildung 1.8). In Deutschland kommt der Trend etwas verspätet, aber mit ähnlicher Wucht an, als 2019 klar wird, dass es Einzelhändler hierzulande mit einem Rückgang von 4,5 Prozent in nur zwei Jahren zu tun haben.43 Es häufen sich die Sparrunden und Insolvenzen: Gerry Weber, Esprit, Bree. Aus purer Verzweiflung fusionieren die zwei größten (und als einzige noch vorhandenen) Kaufhausketten Karstadt und Galeria Kaufhof.


Abbildung 1.6: Jährliche E-Commerce-Umsätze, USA

Quelle: US Department of Commerce, eMarketer, Internet Retailer, Statista Market Outlook de.statista.com/outlook/243/ecommerce


Abbildung 1.7: Jährlicher E-Commerce-Umsatz, Deutschland

Quelle: BEVH, Statista Market Outlook de.statista.com/outlook/243/ecommerce

Abbildung 1.8: Veränderung der Kundenfrequenz der Laufkundschaft in den USA im Verlauf des Jahres (im Quartal)

Quelle: S. Banjo, The Internet Can’t Save Retail, www.bloomberg.com

Dabei wird ab 2015 deutlicher denn je, wie sehr der Online-Riese Amazon den Retail-Wandel dominiert. So berichtet beispielsweise Channeladvisor, dass Amazon zwischen 40 und 60 Prozent der US-amerikanischen Online-Umsätze verbucht.44 In Deutschland kommen die Berechnungen auf 30 bis 50 Prozent.45 Das Umsatzvolumen der 20 nächstgroßen Online-Retailer ist in Summe immer noch geringer als der Umsatz Amazons.46 Die Entwicklungen hat Amazon zum großen Teil einem neuen Kundenverhalten zu verdanken, das wir im Folgenden „Amazon Commerce“ nennen. Das Phänomen wird stark von Amazon forciert und beschreibt ein komplett neues Kaufverhalten, das sich nicht mehr an Anbietern oder konkreten Produkten orientiert, sondern allein am Zweck (oder auch Nutzen), den das gewünschte Produkt erfüllen soll. So ein Kunde ist beispielsweise einer der über 50 Millionen Prime-Kunden, die bei zweckgetriebenen Einkäufen direkt über Amazon bestellen, oftmals ohne Preise oder Serviceangebote anderer Anbieter zu vergleichen. Vor allem in wenig emotionalen Produktkategorien wie Technik oder Gebrauchsgegenständen ist dieses Verhalten zu beobachten.

Amazon scheint heute nicht mehr aufzuhalten zu sein, und entsprechend reagiert auch die Börse, die den Online-Retailer seit Juli 2015 höher bewertet als den Retail-Giganten Walmart. 2018 überschreitet die Amazon-Aktie die magische Grenze von 2000 US-Dollar. Nicht nur Walmart spürt die Folgen – sowohl offline als auch online geraten Retailer zunehmend in Bedrängnis. Beispielsweise verliert BestBuy 2015 weiterhin Umsätze,47 Radioshack geht in die Insolvenz48 und die wenige Jahre früher als Einhorn mit über 1 Milliarde Dollar bewertete Gilt Groupe geht 2016 für 250 Millionen an die Hudson Bay Company. Der einst als möglicher Amazon-Herausforderer gehandelte Jet sucht im selben Jahr Unterschlupf – und findet ihn bei Walmart, der alles versucht, online verlorenes Terrain zurückzugewinnen.


Abbildung 1.9: Kaufprozess im Vergleich – Stationär und E-Commerce und Amazon

Quelle: Eigene Darstellung in Bezug auf B. Schäfers, Social Shopping für Mode, Wohnen und Lifestyle am Beispiel Smatch.com in Web-Exzellenz im E-Commerce, Gabler, S. 313

Einige weitere Entwicklungen, die der nun 20-jährige E-Commerce mit sich bringt, werden ab 2015 ebenfalls besonders deutlich:

Der zunehmende Preisdruck, den der Online-Handel auf die Marktteilnehmer ausübt, lässt auch dieses Jahr die Margen weiter sinken. Dabei verliert vor allem der stationäre Handel preissensible Kundengruppen. Schon 2014 glauben 71 Prozent der Kunden, online bessere Preise zu bekommen.49

Eine wichtige Entwicklung ist der zunehmende Direktvertrieb von Markenherstellern. Immer mehr Hersteller überwinden bisherige Hürden in der Unternehmens- und Distributionsstruktur und nutzen den E-Commerce in eigenen Online-Shops. Der Direktvertrieb im Internet zeigt sich neben dem Verkauf über Drittplattformen als eine hervorragende Möglichkeit, den Kunden ein positives Markenerlebnis zu bieten und höhere Margen zu erzielen. Bis 2015 haben sich etliche Online-Markenauftritte von Informationsseiten zu sehr guten Online-Shops gemausert, wie beispielsweise der Schweizer Möbelhersteller Vitra oder die Luxusmarke Burberry. Kundenseitig sind vor allem die Informationstiefe sowie eine große Auswahl der Markenprodukte für den Kauf im Online-Shop eines Herstellers ausschlaggebend.

Das rapide Wachstum mobiler Umsätze wird weiterhin oft unterschätzt. Studien ergeben, dass bereits 2015 bis zu 45 Prozent aller digitalen Umsätze über Smartphones und Tablets getätigt werden.50 Viele Online-Retailer investieren in die Verbesserung der mobilen User Experience und 2017/2018 überschreitet für die meisten großen Händler der Anteil an mobilen Transaktionen deutlich die 50-Prozent-Marke.

Insight


Die Brisanz der Situation rückt spätestens nach 2015 ins Bewusstsein fast aller Marktteilnehmer, weil viele Handelsunternehmen keine stabilen Strategien mehr entwickeln können. Während sich das Wachstum im E-Commerce auf hoher Basis beschleunigt, stehen Marktteilnehmer wie der deutsche Buchhändler Thalia oder sein amerikanisches Gegenüber Barnes & Noble planlos daneben. Insbesondere die fehlenden Zukunftsvisionen erschweren dringend notwendige Investments. Zudem ist es bei vielen Handelsunternehmen fast zu spät, um Innovationsstrukturen aufzubauen, die permanent neue Geschäftsmodelle produzieren können. Führend in dem Bereich in Deutschland ist die Otto Group mit den Vehikeln und Investitionen in Project A (Inkubator), e.ventures (Venture Capital) und Liquid Labs (Accelerator/Inhouse BD).51

 

Ausblick der Marktteilnehmer 2015


Die großen Marktplätze Amazon und Alibaba stehen 2015 so gut da wie nie und verdrängen langsam sogar nationale Champions wie Rakuten in Japan. Ausnahme in diesem Segment ist allerdings der Marktplatz Ebay, der sich schwer tut, Kunden und Merchants zu behalten, und beide zunehmend an Amazon verliert. Grund ist unter anderem, dass Produkte schwer zu finden sind und die Produktlistungsgebühren nicht mehr einfach hingenommen werden wie zu Ebays Anfängen. Außerdem können die meisten Verkäufer auf Amazon mehr Umsätze erzielen und gleichzeitig Logistikkosten senken.52 Letztgenannter erreicht 2015 einen Umsatz von 107 Milliarden US-Dollar, 2018 dann 232 Milliarden. Daneben verblasst die stetige Frage, wie und wann Amazon den Kurs hin zur Profitabilität einschlägt. Weiterhin steckt Amazon potenzielle Gewinne größtenteils ins Wachstum.


Für Online-Händler ist die Situation seit 2012 kaum verändert; neben steigenden Ausgaben für das Online-Marketing und den hohen Retourenkosten senkt der gnadenlose Preiswettbewerb weiterhin die Margen und immer mehr Pure-Player sind in der Euphorie erst einmal gedämpft. Einstige Category-Killer wie etwa Windeln.de bekommen es zum ersten Mal mit ernsthaftem Gegenwind zu tun. Trotz dieser Entwicklungen erleben allerdings einige spannende Nischenshops großes Wachstum und schaffen es mit innovativen Konzepten zur Profitabilität.


Viele Intermediäre sind bereits vom Markt verschwunden, der nun sehr von Google dominiert wird. Beispielsweise hat der deutsche Preisvergleichsservice guenstiger.de das niedrigste Besucheraufkommen (all time traffic low) seit 2003. Nur die großen Reise- und Finanzportale bleiben, lassen aber wohl keinen Platz für neue Marktteilnehmer.


Die Kataloghändler sind bis 2015 größtenteils aus dem Rennen ausgeschieden. In den USA fokussieren sich die traditionellen Katalogversender schon seit Jahren entweder auf stationäres Geschäft oder E-Commerce, aber kaum noch auf das Kataloggeschäft. Der wohl größte traditionelle Händler in diesem Segment, Sears, fünftgrößter Online-Retailer in den USA, macht 2015 gerade einmal 18 Prozent seiner Umsätze online, verliert auch offline stark an Umsätzen und versucht, sich gesund zu schrumpfen53. Auch die überlebenden Kataloghäuser in Deutschland wie Bon Prix und Otto sind bereits 2015 praktisch keine Kataloghändler mehr, weil große Teile des Umsatzes online erwirtschaftet werden und sie somit zu Online-Händlern mutiert sind. Ab 2015 versucht Otto sogar, einen Evolutionsschritt weiterzugehen und Marktplatz zu werden. In den USA lässt sich allerdings gerade im Tiefpunktjahr 2015 die spannende Beobachtung machen, dass einige traditionelle Kataloghändler wie J. Crew, Bloomingdales und Williams-Sonoma neu in Kataloge investieren. Auch einige digitale Retailer wie Bonobos ziehen mit. Diese Druckwerke sind allerdings vielmehr als Lifestyle-Magazine und Werbemittel zu verstehen denn als Bestellkataloge.54


Rücklaufende Umsätze und entschleunigtes Wachstum zeichnen sich bei vielen stationären Händlern ab (zum Beispiel Nordstrom, Sears, JC Penney, Kaufhof, Esprit), selbst bei denjenigen, die wie beim amerikanischen Macy’s55 und deutschen Thalia intensiv in die Kanalverknüpfung investiert haben.56 Auch an Insolvenzen mangelt es nicht (Eddie Bauer, Radioshack, Karstadt, Praktiker, Schlecker). Somit blickt der stationäre Handel verständlicherweise zunehmend negativ auf die Entwicklungen. Lichtblicke: einige bisher sehr erfolgreiche Online-Konzepte wie Bonobos, Warby Parker und Home Depot.


Zu den Gewinnern seit 2015 gehören die Hersteller, die durch eigenes Know-how und selbst aufgebaute E-Commerce-Teams endlich gewappnet sind für den E-Commerce. Um der Preisschlacht zu entgehen, nimmt Hugo Boss sein Sortiment beispielsweise 2013 vom Marktplatz Zalando und konzentriert sich auf den eigenen Webshop sowie auf Online-Händler im Premiumbereich. Eine Herausforderung für Hersteller, die wie Adidas und Asics versuchen, den Online-Vertrieb streng zu kontrollieren (vgl. 2012), besteht in den Entscheidungen des Bundeskartellamtes.57 So gibt Adidas Mitte 2014 dem Druck des Kartellamtes nach und lockert seine Vertriebsbeschränkungen bei Marktplätzen wie Amazon. Allerdings bleibt Händlern durch selektiven Vertrieb die Möglichkeit offen, den direkten Verkauf einzuschränken. 2017 macht etwa Birkenstock öffentlichkeitswirksam davon Gebrauch und schließt Amazon aus.58 Doch mit den richtigen Maßnahmen können Hersteller auch den Vertrieb über Marktplätze selbst in die Hand nehmen.59


Abbildung 1.10: Internationaler Vergleich der Schlüsselmarkt-Statistiken

Quelle: Statista Market Outlook, de.statista.com/outlook/243/ecommerce