Das E-Commerce Buch

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Glieder in der Kette – oder zu einem Ring verschmolzen?

Generell lässt sich die Wertschöpfungskette im E-Commerce zwar in die genannten Glieder unterteilen, diese lassen sich jedoch nicht fein säuberlich trennen – noch weniger als die Stufen der Wertschöpfung im stationären Einzelhandel, die ebenfalls teilweise ineinander übergehen. Wo gute Produktpräsentation aufhört und Vermarktung beginnt, ist im Netz mehr denn je Ansichtssache.

Zudem überlagern einige Prozesse die gesamte Wertschöpfungskette: Den Disziplinen der Web-Analytics und der Business-Intelligence kommt über alle Stufen hinweg eine derart große Bedeutung zu, dass sie eher als Leitfaden der Wertschöpfungskette denn als deren Glieder zu verstehen sind. Auch ist die Architektur der E-Commerce-Plattform beziehungsweise E-Commerce-Infrastruktur eine übergreifende Größe. Denn unter „Plattform“ versteht man nicht allein das Shopsystem, sondern zudem die vielen Komponenten wie Recommendation-Engines und Suchanbieter, die zusammen einen erfolgreichen Online-Shop bilden, sowie die Schnittstellen, über die diese aneinander gekoppelt sind: beispielsweise das Warenwirtschaftssystem und die Zahlungsabwicklung oder die Logistikanbindung. Abbildung 2.1 visualisiert die aufeinanderfolgenden Glieder sowie die begleitenden und unterstützenden Aktivitäten.

Im vorliegenden Kapitel betrachten wir gemeinsam die E-Commerce-Wertschöpfungskette, angefangen bei der Beschaffung bis zum Kundenservice. Dabei greifen wir häufig auf die „digitale Einkaufsstraße“ als Handlungsort zurück, um Parallelen, Schnittstellen und Unterschiede zu den Modellen des stationären Einzelhandels und des traditionellen Versandhandels zu unterstreichen. Sind Sie ein E-Commerce-Einsteiger? Begeben Sie sich gern mit uns auf einen Bummel durch die Stufen der Wertschöpfung im E-Commerce. Kennen Sie sich in der digitalen Einkaufsstraße schon etwas besser aus? Dann dürfen Sie gern etwas zügiger durchschreiten und sich einzelne Definitionen oder Fallbeispiele näher anschauen.

2.1Beschaffung
Einführung

Die Auswirkung des E-Commerce auf die Beschaffung von Produkten ist grundlegend und lässt sich in drei Bereiche gliedern: Spezifizierung des Angebots, Kundenorientierung und kontinuierliche Optimierung des Sortiments. Denn: Der Zeitraum, in dem manche Bestände abverkauft werden, ändert sich dramatisch, die Beschaffung muss mehr denn je an den Kundenwünschen orientiert und das Sortiment muss schneller und kontinuierlicher optimiert werden als je zuvor.

Die Herausforderung

Diese Entwicklungen speisen sich aus der Einstellung des typischen Kunden im Netz:

„Ich will alles, und zwar sofort, und das immer und überall!“ 1

Die Posten „sofort“ und „überall“ haben mehr mit Logistik und Vertriebskanälen zu tun, aber bei den Stichwörtern „alles“ und „immer“ müssen Beschaffer hellhörig werden. Erfolgreicher Einkauf im E-Commerce ist eben nicht nur – wie in so vielen Bereichen des klassischen Handels – die schnelle Beschaffung und der umso rapidere Abverkauf von möglichst vielen Exemplaren einiger weniger Verkaufsschlager. Vielmehr geht es darum, eine breite Palette von attraktiven, teilweise sehr spezifischen Produkten anzubieten, damit jeder das findet, was er gerade sucht, und nicht zum nächsten, besser ausgestatteten Konkurrenten weiterzieht – der sich bekanntermaßen immer nur einen Klick entfernt befindet.

Die Lösung

Erfreulicherweise liefert der Online-Handel auch gleich die Voraussetzungen für die immer vielfältigere Produktpalette, die er heraufbeschwört. Wer im stationären Handel ab sofort doppelt so viele Produkte in seinem Geschäft anbieten möchte, muss hoffen, dass sein Nachbar in den kommenden Tagen seine Verkaufsfläche räumt. Im Online-Handel reicht es, die neuen Produkte in den Shop zu stellen und etwas mehr Lagerfläche in Anspruch zu nehmen. Und nie war es einfacher, seine Einkaufspolitik an den Wünschen und Bedürfnissen der Kunden auszurichten und fortlaufend zu verbessern. Schließlich werfen Webshops nicht nur aufgeschlüsselte Verkaufsdaten, sondern auch exakte Suchanfragen beinahe in Echtzeit ab. Der Kunde wird transparenter, wenn man nur hinschaut.

Händler müssen sich also im E-Commerce grundlegende Gedanken zu ihrer Einkaufspolitik machen, haben aber Aussicht auf eine Beschaffung, die präziser und deswegen effizienter ausfällt als je zuvor. Im Folgenden schildern wir die theoretischen Grundlagen zur Spezifizierung, Kundenorientierung und Optimierung der Beschaffung im Online-Handel.

2.1.1Spezifizierung des Angebots
Von Shorttail zu Longtail

Auch wenn Sie bislang wenig bis gar nichts mit E-Commerce am Hut hatten, werden Sie das Wort „Longtail“ („langer Schwanz“) bestimmt schon einmal gehört haben: Seit dem Erscheinen des Buches The Long Tail von WIRED-Chefredakteur Chris Anderson im Jahr 2006 ist dieser Begriff geläufig. Allerdings wird die revolutionäre Kraft des Konzepts auch ein gutes Jahrzehnt nach seiner Prägung immer noch unterschätzt – vielleicht deswegen, weil viele den Begriff kennen, ohne ihn wirklich zu verstehen. In seinem Kern beschreibt das Wort Longtail einen einzelnen, sehr wesentlichen Effekt:

Auch Kleinvieh macht Mist.

In der Theorie des klassischen Handels wird ein Produkt auf den Markt gebracht und erreicht gleich danach seinen Verkaufshöhepunkt. Danach nimmt der Absatz drastisch ab, und bald verkauft sich das Produkt nur noch schleppend. Es wird zum Ladenhüter. Da aber der Platz in einem Laden begrenzt ist, muss ein Ladenhüter aus dem Sortiment entfernt werden, damit er dem nächsten Verkaufsschlager keine Regalfläche wegnimmt. Das ist ein Shorttail-Ansatz.

Der Longtail-Ansatz interessiert sich dafür, was nach dem Verkaufshöhepunkt passiert – und erst recht dafür, was passiert, wenn es nie einen nennenswerten Verkaufshöhepunkt gab. In dieser Sortimentsstrategie geht es darum, nicht nur Kassenschlager, sondern auch Nischenprodukte, Liebhaberstücke und nicht unbedingt mehrheitsfähige Artikel anzubieten – und zwar in einer solchen Breite, Tiefe und Vielfalt, dass sie zusammengenommen mindestens genauso viel Umsatz bringen wie potente Verkaufshits.

Wenn also Produkte ins Sortiment aufgenommen werden, die für den Einzelhandel wegen kleiner Stückzahlen oder begrenztem Nischeninteresse auf den ersten Blick uninteressant sind – oder wenn auch Produkte mit abnehmenden Verkaufszahlen nicht aus dem Sortiment entfernt, sondern weiterhin angeboten werden –, sammelt sich schnell ein Katalog aus „Ladenhütern“ an, die aber dennoch über einen längeren Zeitraum den Laden verlassen und dabei für Umsatz sorgen. Je größer diese Palette an weniger nachgefragten Produkten wird, desto höher ist der Umsatzanteil, den sie generiert. Und im Online-Handel fallen typische Platzbegrenzungen wie Regalmeter und Ladengröße weg: Zwar dürfen die Kosten für die digitale Produktdatenerstellung und Artikeldarstellung (siehe 2.2 Produktpräsentation) ebenso wenig vernachlässigt werden wie die Kapitalbindung für die gelagerten Güter. Diese Kosten liegen aber in der Regel niedriger als im klassischen Einzelhandel mit seinen hohen Kosten für Verkaufsfläche und Ladenpersonal oder sie können sogar durch neue Geschäftsmodelle gänzlich an Dritte ausgelagert werden (siehe unten). Im besten Fall handelt es sich gleich um virtuelle Güter wie MP3-Lieder oder E-Books, die quasi unendlich digital gelagert und angeboten werden können.

Fallbeispiel: Musik im stationären Handel und im Netz

Als erstes ließ sich der Longtail-Effekt im Musikmarkt dokumentieren – und dort ist er immer noch am einschlägigsten zu beobachten. Im Folgenden blicken wir auf die spezifischen Verkaufszahlen, die schon früh im neuen Jahrtausend aus gegensätzlichen Long- und Shorttail-Ansätzen im Musikvertrieb generiert wurden und analysieren die Rechnung, die aus ihnen hervorgeht.

2006 stellte Chris Anderson zur Veranschaulichung die Verkaufsmodelle von Walmart und Rhapsody gegenüber: Der Verbrauchermarkt-Gigant Walmart war damals der größte Verkäufer von Musik in den USA – in der Form von CDs. Rhapsody war der führende legale Anbieter von Musik über das Internet, sowohl bei MP3-Downloads als auch über Streaming.

In Walmart-Märkten war eine bestimmte Verkaufsfläche für Musik ausgewiesen. Sobald sich eine Platte nicht schnell genug verkaufte, wurde sie zugunsten eines sich flinker absetzenden Albums aussortiert. So bot Walmart rund 4.500 CD-Titel mit circa 25.000 einzelnen Liedern an. Davon lieferten die 200 Top-Kassenschlager ungefähr 90 Prozent des Umsatzes.

Beim Portal Rhapsody waren damals über 4,5 Millionen einzelne Lieder verfügbar: So war das Inventar 180-mal größer als bei Walmart. Davon machten zwar ebenfalls die beliebtesten Lieder einen Großteil des Umsatzes aus. Aber interessanterweise trugen Titel, die nie Verkaufsschlager gewesen waren, signifikante Erlöse bei. Einen nicht zu vernachlässigenden Beitrag lieferten ebenfalls die Tracks, die nach einer Zeit als Kassenschlager in den Download-Rankings relativ weit nach hinten gerutscht waren. Beispielsweise kamen mehr als 15 Prozent des Gesamtumsatzes über Songs, die zwischen Rang 100.000 und 800.000 platziert waren.

 

Abbildung 2.2: Rangfolge der Download-Zahlen einzelner Songs auf Rhapsody

Quelle: in Anlehnung an Chris Anderson, The Long Tail, DTV, 2009, S. 19

Das muss man sich vor Augen führen: Bei Walmart waren grob gerechnet die Lieder, die nicht zu den „ersten 25.000“ gehörten, nicht verfügbar. Rhapsody machte aber mit Liedern Geld, die sich unter dieser Beliebtheitsschwelle angesiedelt hatten, überdies noch mit Tracks, die viermal so unbeliebt waren – und sogar mit welchen, die sich sechzehnmal schlechter verkauften!

Die vielen Produkte, die in einem Popularitätsranking ganz hinten rangierten, machten soviel Umsatz wie die wenigen Produkte, die ganz vorne waren.

Das ist die wesentliche Erkenntnis aus der Gegenüberstellung vom Walmart und Rhapsody. Der Longtail des Rankings hatte es also genauso in sich, weil sich dort extrem viele (sich vergleichsweise schlecht verkaufende) Produkte befanden. Wenn sich 1.000 Produkte jeweils 100.000 Mal verkaufen, kommen dabei 100.000.000 (einhundert Millionen) Verkäufe zustande. Wenn sich 100.000 Produkte jeweils nur 1.000 Mal verkaufen, werden aber genauso viele Verkäufe abgeschlossen.

Wenn diese Rechnung so einfach ist, warum ist diese Idee dann so neu?

E-Commerce: Der Longtail wird länger denn je

Die Antwort ist: Die Idee ist vielleicht nicht so ganz neu, aber die Umsetzung in diesen Größen war vor E-Commerce nie möglich. Denn der Longtail-Absatz ist auch in der Musikbranche schon lange praktiziert worden: Während Walmart als nicht-spezialisierter Anbieter knallhart die Musik aussortierte, die sich nicht in der limitierten Verkaufsfläche rentierte, gab es natürlich auf dem US-Markt zahlreiche Läden, die sich auf Musik konzentrierten und Kunden anlockten, die auf der Suche nach älteren oder weniger beliebten Stücken waren. Das Spektrum an solchen Händlern reichte in den 1980er- und 1990er-Jahren von enzyklopädisch sortierten Tower-Records-Stores bis hin zu den kleinen inhabergeführten Läden in den Stadtvierteln, die sich auf bestimmte Musikrichtungen oder Lokales und Unkommerzielles spezialisiert hatten. Gerade solche Läden machten viel Umsatz jenseits des Shorttails.

Nur war ihr „langer Schwanz“ bestenfalls mittellang. Die Begrenzungen, die zu einer Verkürzung des Sortiments führten, waren zahlreich: Allen voran beschnitt natürlich die Wirtschaftlichkeit der Verkaufsfläche das Angebot. Schallplatten, Kassetten, CDs: Musik auf einem Tonträger nimmt Regalmeter ein, und selbst bei der größten Händlerkette sind weder der in Einkaufspassagen verfügbare Platz noch die finanziellen Mittel für Ladenmiete unbegrenzt. Auch schlug eine hohe Kapitalbindung für vom Händler vorfinanzierte Produkte zu Buche. Vor allem Kettenhändler im Musiksegment hatten zudem hohe Personalkosten und oft besonders teure Verkaufsflächen, die sich rentieren mussten.

Kleinere Händler abseits der Einkaufszentren hatten zwar geringere Kosten für Mitarbeiter sowie mietengünstigere Randlagen, stießen aber irgendwann ebenfalls an eine Profitabilitätsgrenze. Was sie allerdings als Ass im Ärmel hatten: Musik, die woanders nicht verfügbar war. Mixtapes von Musikern, die sich unterhalb des kommerziellen Radars bewegten, wurden in den 80ern und 90ern über solche Inhaberläden bezogen. Diese Exklusivität und Rarität hatte aber ebenfalls seine Beschränkungen: Die Künstler mussten über die Mittel verfügen, Ihre Musik aufzunehmen und zu vervielfältigen – sei es auch nur in kleinem Umfang –, und überdies die Ladenbesitzer davon überzeugen, Platz dafür in den Regalen freizuhalten.

Abgesehen von der Breite und Tiefe des Angebots waren sowohl Musikketten als auch lokale Händler räumlich begrenzt: Das letzte Exemplar einer Schallplatte einer vergessenen Rockband aus den 70ern, die in einem Laden in Boston schlummerte, nutzte dem besessenen Fan, der verzweifelt in Seattle nach ihr suchte, reichlich wenig. Und bis dieser Fan es nach Boston schaffte, war die Platte dem Händler ebenfalls ein Klotz am Bein.

Angebot und Nachfrage waren nicht optimal verknüpft. Der Longtail war beschnitten.

Dann kam das Internet – und mit ihm Portale wie Rhapsody, Itunes und Amazon, die Musik verkauften. Plötzlich wurden teure Regalmeter durch günstige Serverkapazität ersetzt, was es den Händlern wiederum erlaubte, alles ins Programm aufzunehmen. Sogar Musiker, die vorher nie eine Möglichkeit hatten, ihre Erzeugnisse auf den Markt zu bringen, konnten ihre Lieder anbieten, und weder Plattenfirmen noch Ladeninhaber konnten sie mehr abweisen. Und in den virtuellen Läden konnte jeder Musikfan jederzeit vorbeischauen, ob aus Boston oder aus Seattle, der Heimatstadt von Rhapsody.

Insofern ist die Erzählung, wie Rhapsody vom Longtail profitiert hat, Teil einer übergeordneten Geschichte: Der große Wandel – vor allem im Bereich der Medieninhalte – von begrenzten, bewachten Produktions- und Verkaufsmöglichkeiten hin zu demokratischen Strukturen, in denen jeder Produzent und Händler werden kann. Für den E-Commerce ist diese Entwicklung entscheidend, denn wer es vielen Erzeugern ermöglicht, ihre Produkte an die Kunden zu bringen, und es vielen Kunden ermöglicht, das zu finden, wonach sie suchen, kann im Promillebereich des Longtails Geld verdienen.

Die Longtail-Entwicklung wurde mit Musikanbieter Rhapsody dokumentiert und bleibt am sichtbarsten im Bereich der medialen Erzeugnisse. Amazon, Itunes oder Netflix haben alle Geschäftsmodelle, die nicht ohne den schleppenden, aber andauernden Verkauf von Millionen nischenspezifischer oder älterer Bücher, Songs und Filme – vor allem in elektronischer Form – auskommen. Ein Großteil dieser Anbieter hat zwischenzeitlich das Geschäftsmodell von Verkaufs- und Handelsmargen allerdings zu nutzungsabhängiger Bezahlung umgestellt, bei denen eine monatliche Gebühr fällig wird. Auch hier profitiert das Modell aber von einem großen Long-Tail-Angebot, das für jeden Geschmack etwas bietet. Das Prinzip ist auch in anderen Produktsegmenten anwendbar, wenn auch nicht in derselben Größenordnung, denn Kleidung oder Einrichtungsgegenstände sind nun einmal Waren, die auch in günstigen Lagerhallen abseits der Großstädte Platz einnehmen und Kapital binden. Zudem prägen in vielen Segmenten immer kürzere Produktlebenszyklen die Sortimente, zum Beispiel im Bereich Home Electronics, in dem auf jede Neuerung dicht die nächste folgt und das Vorgängermodell auf die Resterampe, schlimmstenfalls auf die Müllhalde verbannt. Ungeachtet dessen gilt in allen Bereichen des E-Commerce: Der Verkaufsschlager ist keineswegs tot, aber er ist angeschlagen.

Abbildung 2.3: Umsätze und Gewinne von Stationär-Händlern und Longtail-Händlern im Vergleich

Quelle: in Anlehnung an Chris Anderson, The Long Tail, DTV, 2009, S. 132

Nicht nur Kühe, sondern Kleinvieh: Longtail-Beschaffung

Die Verschiebung der Gewichte durch den Longtail wird besonders deutlich, wenn man ihn neben einem klassischen Geschäftsmodell aus dem stationären Handel aufstellt und in drei Stufen unterteilt: Angebot, Umsatz, Gewinn. Mit anderen Worten: Aus der bekannten 80:20-Faustregel wird ein Drei-Drittel-Prinzip.2 Setzen wir einmal voraus, dass im stationären Handel 20 Prozent der angebotenen Artikel 80 Prozent der Verkaufserlöse ausmachen. 80 Prozent der Artikel werfen demnach nur 20 Prozent des Umsatzes ab. Nach Abzug von sämtlichen mit dem Unterhalt einer Verkaufsfläche einhergehenden Kosten steuern diese 80 Prozent sogar zum Gewinn überhaupt nichts bei: Dieser kommt zu 100 Prozent von den 20 Prozent der Artikel, die 80 Prozent der Verkaufserlöse ausmachen. Ein Longtail-Geschäftsmodell im Internet kann komplett anders aussehen:

Das Angebot an Produkten ist zehnmal so groß. Die Verkaufsschlager machen also nicht mehr 20 Prozent, sondern nur noch 2 Prozent des Inventars aus.

Die 80 Prozent der Produkte, die sich weniger gut verkaufen, stellen folglich nur noch 8 Prozent dar.

90 Prozent der Produkte befinden sich im Longtail. Diese steuern ein Viertel des Umsatzes bei.

Ein weiteres Viertel des Umsatzes kommt von der 8-Prozent-Tranche des Angebots.

Eine Hälfte des Umsatzes wird durch die 2 Prozent der Verkaufsschlager generiert.

Der Gewinn speist sich aber jeweils zu einem Drittel aus jedem der Angebotssegmente.

Interessante Aspekte lassen sich aus diesen Modellrechnungen herleiten. Erstens: In einem Laden in einer durchschnittlichen Einkaufsstraße werden gut vier Fünftel des Angebots nicht gewinnbringend verkauft. Zugleich ist ihre Anwesenheit notwendig, damit Kunden vom Angebot angesprochen werden und ins Geschäft kommen – um dann bei dem Fünftel der Produkte zuzugreifen, die Gewinn abwerfen.

Bemerkenswert ist aber, dass der Kassenschlager im Longtail-Modell für den Umsatz noch wichtiger ist: Aus den oberen 2 Prozent wird eine volle Hälfte der Verkaufserlöse generiert. Erst in der dritten Stufe, beim Gewinn, relativiert sich diese Verschiebung wieder: Hier trägt jedes Angebotssegment ein Drittel der Gewinne bei. Im Umkehrschluss muss dieser Unterschied an den Kosten liegen. In einem Inventar, das nur aus virtuellen Produkten besteht – wie etwa bei einem Musikdownload-Anbieter –, liegen die Lagerungskosten pro Produkt unterhalb der Wahrnehmbarkeitsschwelle. Ladenmiete wird durch günstigen Speicherplatz ersetzt. Personalkosten sind eine zu vernachlässigende Größe. Insofern ist es unwesentlich, welches Produkt zu welcher Marge genau verkauft wird. Da ist es sogar akzeptabel, wenn die verkaufsträchtigen Produkte, die 50 Prozent der Umsätze beisteuern, stark rabattiert sind und letztendlich nur 33 Prozent des Gewinns verantworten. Man kann Kühe melken und die Milch zu Kampfpreisen verschleudern, solange genügend Kleinvieh noch Mist macht.

Damit diese Longtail-Rechnung aufgeht, müssen also so viele Produkte wie möglich angeboten und den Kunden zugänglich gemacht werden – unterstützt durch einfache Filtermöglichkeiten, damit die große Auswahl nicht zum „Paradox of Choice“ führt.

Das Prinzip heißt: Make everything available – alles zur Verfügung stellen. Die Beschaffung ist also oberste Pflicht. Wer beim Einkauf noch das Wort „oder“ benutzt, hat dieses Prinzip nicht verstanden, denn „oder“ gehört durch „und“ ersetzt. Selbst im kostengünstigen E-Commerce-Umfeld kann aber eine immer breitere Produktauswahl in der Beschaffung teuer werden. Damit Longtail aufgeht, muss der Bestand kostengünstig gelagert werden können. Hier reicht die Skala von elektronischen Musikarchiven, für die nur Kosten für Speicherplatz anfällt, bis zu Rasenmähern mit Benzinmotor, die mehrere Kubikmeter einnehmen und deren Zustand sich allmählich verschlechtert. Das Prinzip bei allem ist aber: Das Inventar muss entweder mehr oder weniger zum Nulltarif selbst gepflegt werden können – oder kostengünstig ausgelagert werden.

Hier macht es Amazon vor: Im Vergleich zu klassischen Longtail-Händlern wie Itunes oder Rhapsody, die nur Digitales verkaufen, will Amazon bekanntermaßen jedem im Netz wirklich alles anbieten – und braucht dafür in der physischen Welt eben viel Lagerraum. Dieser wird abseits der Großstädte in wirtschaftlich schwächeren Gebieten angesiedelt, wo die Mieten günstig sind, wo sich Bürgermeister über den Neuankömmling freuen und Genehmigungsverfahren wohlwollend begleiten und wo sich Arbeitskräfte finden, die bereit sind, am unteren Ende der Gehaltsskala zu arbeiten.

 

Allerdings lassen sich auch durch abseitige Standorte und schwache Arbeitsmärkte nur bis zu einer gewissen Grenze Kosten einsparen; vor allem in Deutschland, wo Amazon durch auf breiten gesellschaftlichen Konsens treffende Streiks lernen musste, dass das Wort „sozial“ nicht gänzlich aus dem Begriff „Marktwirtschaft“ verschwunden ist. Amazon kann es sich aber schon leisten, seiner Belegschaft höhere Löhne zu bezahlen und sie weniger zu drangsalieren und gleichzeitig sein Sortiment immer breiter und immer tiefer aufzustellen.

Denn neben den Produkten, mit denen Amazon selbst handelt, werden auch Waren dritter Händler über den Amazon-Marktplatz vermittelt. So zementiert Amazon seine Stellung als Laden, der ohne Ausnahme jedem alles anbietet: Auch Produkte, die man selbst nicht vorfinanziert und auf Lager hat, können im Online-Shop gesucht, gefunden und gekauft werden. Dafür kassiert Amazon eine Provision von bis zu 20 Prozent – und lagert die Probleme der Kapitalbindung und des Lagerns an die Händler aus.

Andere Online-Händler haben ebenfalls diesen Kniff zur kostenfreien Sortimentserweiterung entdeckt. Beim Otto-Versand zum Beispiel liegt nicht jedes Produkt, das auf otto.de zu finden und zu kaufen ist, beim Verkäufer Otto auf Lager. Über das sogenannte Dropshipping wird die abgegebene Bestellung direkt an den Hersteller oder Distributor des gekauften Artikels weitergeleitet. Dieser beliefert den Kunden dann direkt: Otto nimmt seine Marge und spart Lagerkosten. Je nach Vertrag mit dem individuellen Produkthersteller oder Distributor entstehen für den Versand auch keine Kapitalbindungskosten: Hier können nur Anbieter von bewährten Verkaufsschlagern den Online-Händler zur Vorfinanzierung zwingen. Doch die gesteigerte Auswahl auf Marktplätzen wie Amazon und Otto stellt auch hohe Anforderungen an die Filtermöglichkeiten. So ist es mit zunehmender Sortimentstiefe umso wichtiger, Kunden einen effizienten Weg zu den für sie relevanten Produkten zu bieten. Hier stoßen die „althergebrachten“ Filter inzwischen an ihre Grenzen: Das Verhältnis zwischen relevanten und nicht relevanten Ergebnissen gerät in Schieflage.