Durchschlag am Gotthard

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Tunnelbrandplanungen und Frischluftstollen

Abgesehen von einem Brand im Hollandtunnel in New York gab es kaum Erfahrungen mit Brandkatastrophen in Tunneln. Im Mai 1965 fanden Brandversuche im aufgegebenen Ofenegg-Bahntunnel am Walensee statt. Unterschiedliche Mengen Benzin wurden angezündet. Im Tunnel waren alte Personenwagen abgestellt, in die Holzproben, Stoffe, Haare und Fleisch gelegt worden waren. Das Resultat: Wenige Sekunden nach Brandbeginn verschlechterte sich die Sicht. Die Temperatur- und Abgaswerte lagen weit über jenen Werten, bei denen ein Überleben möglich war. Bis zu einer Entfernung von fünfzig Metern vom Brandherd herrschte grösste Lebensgefahr.19 Angesichts der bis zu zwölf Minuten langen Anfahrt zum Brandherd, der Hitze, des Rauchs und des Sauerstoffmangels im künftigen Gotthard-Strassentunnel würde die Arbeit der Feuerwehr also sehr schwierig oder unmöglich.20 So wurden im Gotthard-Strassentunnel alle 250 Meter Schutzräume geplant.21

Die Automobilverbände Automobil Club Schweiz und Touring Club Schweiz (TCS) richteten sich an die Bundesverwaltung; sie forderten Akteneinsicht und Aussprachen. «Der TCS vertritt die Automobilisten, die den Gotthard-Strassentunnel bezahlen, und es ist seine Pflicht, an die Sicherheit eines derartigen Verkehrsweges höchste Anforderungen zu stellen. Ein unabhängig vom Strassen-Tunnel geführter Seitenstollen hat diesbezüglich sehr grosse Vorteile. Bei Brand- oder Explosionskatastrophen können Evakuations- und Rettungsfahrzeuge unberührt vom übrigen Verkehr zur Unglücksstelle fahren. Personen, die sich vor einem Brand in Sicherheit begeben wollen, würden sich in den alle 250 m angeordneten Querschlägen zum Haupttunnel aufhalten und auf keinen Fall den Separatstollen verstopfen.»22 Der TCS befürwortete das 4-Schacht-Projekt und forderte zusätzlich einen Fluchtstollen. Die NZZ schilderte das Für und Wider, begleitet von eindrücklichen Fotografien, die bei Tunnelbränden entstanden waren. Vertreter der beiden Ingenieurgemeinschaften beharkten das Bundeshaus mit Briefen. Giovanni Lombardi verteidigte sein 4-Schacht-Projekt und wehrte sich gegen Presseartikel, «die in emotioneller Weise zu Gunsten des anderen Projektes Stellung nehmen, offenbar mit der Absicht, die Behörden bei der Wahl der Projekte zu beeinflussen».23

Im Mai 1969 entschied die Baukommission den Streit. Der Frischluftstollen werde im Katastrophenfall nicht begehbar sein, weil die Lüftung dann auf Volllast laufen werde. Dann werde im Stollen ein Sturm mit 100 Kilometer pro Stunde Windgeschwindigkeit herrschen.24 So schied die 2-Schächte-Variante mit dem Frischluftstollen aus. Und das 4-Schacht-Projekt wurde nachträglich überraschend mit einem Sicherheitsstollen ergänzt.

Rekordofferten

Im definitiven Verzeichnis der Anbieter scheinen 36 Schweizer Firmen auf, acht aus Italien und einige wenige aus Frankreich, Deutschland und Österreich. Die vier schweizerischen Unternehmergruppen lagen bei allen Varianten auf den ersten vier Rängen. Das EDI hatte in seinem Vorprojekt noch Vortriebsleistungen angenommen, die auf Offerten für den San-Bernardino-Tunnel und auf Erfahrungen, die beim Bau des Mont-Blanc-Tunnels gemacht wurden, beruhten: In den «einfachen» Felsklassen eins bis drei rechnete das Bauprogramm mit 4 bis 8 Metern pro Tag, in den «schweren» Felsklassen vier bis sechs mit 0,5 bis 2,2 Metern pro Tag.25 Doch die von den Gotthardkonsortien gebotenen Vortriebsleistungen waren bis zu zwei Mal höher.

Die Losinger + Co AG hatte zwar bei der Ausschreibung zum Gotthard-Strassentunnel mit acht Partnerfirmen mitgeboten. Doch die von ihr offerierten Preise waren deutlich höher als jene, zu denen die Baulose letztendlich vergeben wurden. Duri Prader von den Losinger-Unternehmungen schlug am 14. Januar 1969 in einem Brief an das EASF Alarm.26 Nach der Mitarbeit bei den Vorprojekten sowie als Experte beim Projektwettbewerb fühle er sich diesem markantesten Einzelobjekt des Nationalstrassenbaus besonders verbunden. Seit einigen Jahren werde der Konkurrenzkampf im schweizerischen Tunnel- und Stollenbau aufs Schärfste geführt. Prader verglich Erfahrungszahlen vom Bau der Tunnels am Lopper und vor allem am San Bernardino mit jenen Zahlen, die in den Offerten – seiner Ansicht nach wider besseres Wissen – angeboten worden waren. So seien beim Felsausbruch am San Bernardino 1,7 Arbeitsstunden pro Kubikmeter aufgewendet worden. Am Gotthard wurde mit einer Stunde gerechnet. Bei den Leistungsangaben zu Materialtransport und Vortriebsleistung hätten die Konkurrenten auf reine Hoffnungen und Experimente gesetzt, schrieb Prader an das EASF. Die unwahrscheinlichen Erwartungen ohne soliden Rückhalt in der Praxis könnten zu Rückschlägen führen, schrieb Prader in einem zweiten Brief.27

Übertriebene Versprechungen waren damals im Schweizer Strassentunnelbau häufig. Eine minuziöse Aufstellung von Tunnelprojekten aus den Jahren 1959 bis 1968 zeigte, dass die bei Schweizer Strassentunnelbauwerken offerierten Vortriebsleistungen in drei von vier Fällen doppelt so hoch waren wie die effektiv erbrachten.28 Beim Gotthard-Strassentunnel waren die höchsten Offerten durchwegs ein Drittel oder gar um die Hälfte teurer als die günstigsten – üblich waren im Baugewerbe Preisunterschiede von fünf oder zehn Prozent. Auch die gebotenen Kubikmeterleistungen waren so unterschiedlich, dass Fragen hätten aufkommen müssen.

Mit beachtlichem Aufwand versuchte die Baukommission die Zahlen der offerierenden Firmen zu verifizieren. Auf einer Informationsreise liess sich eine Delegation in Schweden neuste Atlas-Copco-Geräte vorführen.29 Mit eigenen Feldversuchen im Stollen des Zementwerks in Balerna und im Tunnel Arisdorf ermittelte die Bauleitung zudem die Effizienz von Pneuschaufelbaggern.30 Am 22. Mai 1969 erstattete sie Bericht, und in ihrem Antrag für den Zuschlag der Bauarbeiten versuchte sie sich noch einmal abzusichern. «Generell ist festzustellen, dass alle Submittenten ihren Angeboten sehr hohe Vortriebsleistungen zugrunde gelegt haben. Diese optimistischen Annahmen haben sich in verhältnismässig niedrigen Ausbruchpreisen ausgewirkt.»31 Die Baulose im Norden und im Süden sollten an zwei verschiedene Unternehmensgruppen vergeben werden.

Am 2. Juni 1969 folgte der Antrag des EDI an den Bundesrat und dieser bestätigte ihn am 16. Juni: Es solle das Strassentunnelprojekt der Ingenieurgemeinschaft Lombardi, Gellera und Elektrowatt mit vier Lüftungsschächten gebaut werden, und es solle zusätzlich ein Sicherheitsstollen erstellt werden.32 Der Bundesrat beschloss einen Rahmenkredit von insgesamt 306 Millionen Franken. Das 6807 Meter lange Baulos Nord vergab er zum Offertpreis von 75,4 Millionen Franken an die Arbeitsgemeinschaft Gotthard Nord; das war das Konsortium mit der federführenden Conrad Zschokke AG in Zürich. Das Baulos Süd mit seinen 9515 Metern Länge vergab der Bundesrat für 95,9 Millionen Franken an das Consorzio Gottardo Sud mit der Zürcher Walo Bertschinger AG an der Spitze.

Letzte Mahnungen

Bald sollten die Bauarbeiten beginnen. Der 1925 geborene und 1995 verstorbene Rudolf Amberg führte ein Planungsbüro für Untertagebau, er war beim Bau des Strassentunnels der ständige Experte der Eidgenössischen Finanzkontrolle. Zuhanden der Gotthardbaukommission verfasste das Ingenieurbüro Amberg im August 1969 einen Bericht, in dem die Ursachen der später eintretenden Krisen weitsichtig vorhergesagt wurden. «Das Bauprogramm für einen Tunnelbau wird massgebend durch die kalkulierte durchschnittliche Vortriebsleistung bestimmt. Alle übrigen Arbeiten, wie das Einziehen der Betonverkleidung, Abdichtungen, Montagen usw. folgen dem Vortrieb in einem bestimmten Abstand und können leistungsmässig je nach Bedarf ohne grössere Schwierigkeiten forciert werden. Sie lassen sich der Vortriebsleistung anpassen. Entscheidend bleibt somit letztere, und auf ihr basiert so betrachtet grösstenteils auch die Kostenkalkulation.»33 In der Vergangenheit sei diesem Sachverhalt wenig Beachtung geschenkt worden. Die gewählten Baumethoden und die Art und Weise, wie das Bauprogramm und die Kosten eingehalten werden könnten, sei Sache des Unternehmers gewesen. Sehr oft seien trotzdem Nachforderungen erhoben worden.

«Die scharfe Konkurrenzsituation im Bereich des schweizerischen Tunnelbaus, sowie das Prestige der schweizerischen Unternehmer in einer Submission unter Teilnahme ausländischer Firmen haben dazu geführt, dass mit hohen absoluten und spezifischen Leistungen kalkuliert werden musste. Dementsprechend wurden durchwegs hohe Vortriebsleistungen angenommen, wie sie bis heute in der Schweiz noch nicht erreicht worden sind. Da, wie eingangs erwähnt worden ist, Programm und Kostenentwicklung weitgehend von der Einhaltung der kalkulierten Vortriebsleistung abhängen und diese wesentlich über dem bisher Erreichten angenommen wurde, ist eine kritische Beurteilung der von den Unternehmern zur Erreichung dieser Leistungen vorgesehenen Installationen und Geräte notwendig.»34 Bis ins Detail befasste sich der Bericht mit Arbeitsabläufen, Transportfragen und Sprengschemas. Amberg warnte zum Beispiel vor grobstückigem Sprengschutt, bei dessen Zerkleinerung und Abtransport Mehrkosten drohten. Auch hier hatten die Konsortien Rekordleistungen versprochen. Deshalb müsse die Bauleitung ein verstärktes Mitspracherecht bei Installationen und Baumethoden haben, monierte der Autor, sie müsse sich im Gegensatz zur bisherigen Praxis intensiv mit der Durchführung der Vortriebsarbeiten beschäftigen.

Die Konfliktlinien waren so vorprogrammiert. Die Konsortien standen unter Druck, sie hatten Höchstleistungen, wie sie im Schweizer Tunnelbau noch nie erreicht worden waren, versprochen. Zugleich sollte die Baukommission bis ins Detail in die Bauausführung hineinwirken, wobei die Unternehmen die Folgen zu tragen hatten.

 

IV
Arbeitsgemeinschaft Gotthard-Strassentunnel Nord

Das Baulos Nord wurde für 75,4 Millionen Franken an die Arbeitsgemeinschaft Gotthard-Strassentunnel Nord (AGN) vergeben: Es umfasste den Bau von 6807 Metern des Strassentunnels sowie den Bau des Sicherheitsstollens, den 513 Meter langen Schrägschacht Bäzberg und den 303 Meter tiefen Vertikalschacht Hospental. Dazu kamen Lüftungszentralen am Fuss der Schächte und beim Tunnelportal in Göschenen. In der AGN hatte die Conrad Zschokke AG die Federführung inne, weitere Partnerfirmen waren die Heinrich Hatt-Haller AG, die Schafir & Mugglin AG, die Ed. Züblin & Cie. AG, die Subalpina SA, die Bau AG sowie die Valentin Sicher AG. Die meisten dieser Firmen gibt es heute nicht mehr. Hatt-Haller und Zschokke wurden zwischenzeitlich Teile der Zschokke Holding, die ihrerseits schliesslich im Baukonzern Implenia aufgegangen ist.

Im April 1970 versandte das Dipartimento delle pubbliche costruzioni in Bellinzona Einladungen zum Spatenstich. Die Teilnehmer besammelten sich am 5. Mai 1970 in Göschenen. Die Tradition wollte es zwar, dass der Beginn der Bauarbeiten mit einer schlichten Feier begangen werden sollte. Doch der Anlass im Mai war viel mehr als das. Bundespräsident Hans Peter Tschudi nahm teil, die Studiengruppe und die Baukommission waren ebenso vertreten wie die Kantone Tessin und Uri, Gemeinden, Korporationen, Konsulate, das Militär, die Geistlichkeit, Bauleitungen, Ingenieure, Unternehmen und eine Delegation der eidgenössischen Parlamentarier. Medienvertreter aus allen Nachbarstaaten waren eingeladen, fast vierzig Schweizer Redaktionen sandten Vertreter ins Urnerland. Bei prächtigem Frühlingswetter wurden sechs Reden gehalten. Übersichtskarten und eine Sondernummer der Rivista tecnica della Svizzera italiana wurden ausgehändigt. Das Tessin werde aus seiner Isolation befreit, erklärte der Tessiner Staatsrat Argante Righetti. Ein Ereignis von kontinentaler Bedeutung sei es, titelte das Giornale del Popolo.1

Mario Sintzel ist Bauingenieur. Er arbeitete zwölf Jahre lang auf Baustellen der Firma Conrad Zschokke AG, war von Januar 1970 bis August 1976 Chef des Technischen Büros im Gotthardbaulos Nord. Es folgten drei Jahre bei der Bauunternehmung Frutiger AG und ab 1979 zehn Jahre als Offertingenieur bei Motor Columbus. Von 1981 an wirkte er parallel dazu als Assistent mit Baupraxis am Institut für Bauplanung und Baubetrieb der ETH und von 1989 bis 2002 als wissenschaftlicher Adjunkt und Dozent. Sintzel erinnert sich an den Fehlstart, als Hans Örtli, der Baustellenchef der AGN, mit dem Urner Kantonsingenieur August Knobel zusammenstiess. Das Ereignis habe die Zusammenarbeit zwischen Unternehmung und Bauleitung von Anfang an belastet. Knobel war von 1950 bis 1978 Chef des Bauamts Uri und Kantonsingenieur. Er war gelernter Kulturingenieur, Örtli ein erfahrener Bauingenieur und Tunnelbauer. Zwei völlig unterschiedliche Persönlichkeiten, die sich nicht leiden konnten, seien da zusammengetroffen.2

Geplant war, den Tunnel in den Ausbruchklassen I bis IV im sogenannten Vollausbruch aufzufahren. Dabei wäre der gesamte Tunnelquerschnitt in einem Arbeitsgang ausgebrochen worden. Je nach Standfestigkeit des Gebirges war die Felssicherung mehr oder weniger aufwendig. Die Ausbruchklassen V und VI sahen einen Teilausbruch in mehreren Schritten vor. Dabei gab es weniger Platz für Maschinen und Menschen, und die Koordination der Arbeiten in den Teilquerschnitten wurde anspruchsvoll.

Der 1945 geborene, gelernte Maschinenbauer Willi Gmür hatte in seinem Berufsleben fast fünfzig Jahre lang mit dem Gotthard zu tun. Von 1970 bis 1997 war er in der Zschokke-Gruppe tätig. Er baute Tunnels, aber auch Hochbauten und Brücken, er sass in Baukommissionen und war Gesamtprojektleiter. Danach leitete er die Rowa Tunnelling, eine Tunnelbau-Logistikfirma, und begleitete zuletzt als selbstständiger Baumanagementberater bedeutende Projekte. Von 1971 bis 1977 war er im Baulos Nord verantwortlich für die Beschaffung von Baumaschinen, Verbrauchs- und Ersatzmaterial, für die Ausbildung, den Betrieb, den Unterhalt, die Schlosserei, die Zimmerei und die Nachkalkulation. Gmür lebte in Airolo und bekam mit, wie respektvoll dort der Umgang zwischen Bauleitung und Unternehmern war. «Das Klima war völlig anders. Die waren geschickter. Die lösten Probleme und wir stritten. Uns lief die Zeit davon. Ich kam mir vor wie ein Depp. Die anderen arbeiteten zusammen. Wir brachten das nicht fertig.»3

Erst als Hans Örtli durch den Baustellenchef Walter Habermacher abgelöst wurde, verbesserte sich das Klima allmählich. Habermacher war ein erfahrener, ganzheitlich denkender Chef, der sich für den Tunnel aufopferte und dabei wohl auch seine Gesundheit verschliss. Auch er litt unter dem Misstrauen: «Ein so grosses Werk erfordert eine echte und offene Zusammenarbeit aller Beteiligten, ein gegenseitiges Verständnis für die Probleme der Unternehmung, der Bauleitung und der Bauherrschaft. Diese gute Partnerschaft vermisse ich leider am Gotthard.»4

Vom ersten Tag an Schwierigkeiten

Am 21. August 1969 – also lange vor der feierlichen Eröffnung der Baustelle – begann im Baulos Nord der Bau des Sicherheitsstollens, und von Anfang an gerieten die Arbeiten in Verzug. Die Tunnelstrecke führte durch eine Schuttdeponie, die vom Bau des Eisenbahntunnels von 1882 herrührte. Die Strecke war nicht wie ursprünglich beschrieben 100 Meter lang, sondern 150. Und da war nicht Schutt, sondern grobe Felsblöcke, durchsetzt mit grossen Hohlräumen. Der geologische Schlussbericht aus dem Jahr 1987 schildert die Schwierigkeiten im Blockschutt: «Unglücklicherweise fiel der Vortrieb im Blockschutt mit der Schneeschmelze zusammen, so dass in den unteren Sohlstollen ein ausserordentlich hoher temporärer Wasseranfall herrschte. Das ständig aus der Brust fliessende Wasser behinderte die Vortriebsarbeiten stark. Zweitens waren die Blöcke schwer abbaubar. Sie mussten meistens gesprengt werden. Im Bereich der Brust resp. der Kalotte bestand zudem immer die Gefahr eines Hineinrollens von massigen Blöcken resp. des Niederdrückens der Einbaubogen.»5 Die «Tunnelbrust» und die «Kalotte» sind Begriffe aus der Bergmannssprache: Die Brust liegt ganz vorne in der Tunnelbaustelle, dort, wo der Fels Sprengung für Sprengung, «Abschlag» für «Abschlag» also, abgetragen wird. Die Kalotte entsteht beim sogenannten Teilausbruch und entspricht dem oberen Drittel der künftigen Tunnelröhre. Etwa fünfzig Tunnelmeter hinter der Kalotte wird der restliche Tunnelteil, die «Strosse» oder der «Kern», ausgebrochen.

Nach dem Blockschutt kamen die Mineure erstmals in festen, guten Aaregranit. Der Strassentunnel durchquert auf rund zwölf Kilometern Länge das Gotthardmassiv und auf rund vier Kilometern das Aarmassiv. Hier herrscht der Aaregranit vor und hier folgte die nächste Überraschung. Der Strassentunnel unterquert den Bahntunnel in spitzem Winkel nur 5,2 Meter unter dem Schienenweg, auf dem 230 Züge pro Tag verkehrten. Erst nachträglich wurde bekannt, dass die Verkleidung des Bahntunnels in schlechtem Zustand war und dass ausserordentliche Sicherheitsmassnahmen nötig wurden.6 Die Anwerbung von Arbeitskräften gestaltete sich zudem so schwierig, dass die ursprünglich vorgesehene Nachtschicht gestrichen werden musste. Ein durchschnittlicher Arbeiter blieb nur rund sechs Monate auf der Baustelle, der Personalwechsel war immens. Immerhin die Leistungsträger und die Schlüsselmitarbeiter erwiesen sich in der Regel als treue Arbeitnehmer.

Niederbrüche und Verzögerungen

Monat für Monat berichtete das Konsortium an die Bauherrschaft über den Stand der Arbeiten. Arbeitsleistungen wurden aufgezeichnet, Bauarbeiten beschrieben und Unfallstatistiken geführt. Die Equipen kamen nur langsam voran, wie im Baustellentagebuch7 zu lesen ist: Das Gestein wurde schlechter. Zwischen Tunnelkilometer 3,3 und 4,0 trafen die Tunnelbauer auf wechselvolle Gesteinsserien und lehmige Zonen mit intensiven Nachbrüchen. Der Sicherheitsstollen erreichte das berüchtigte Mesozoikum, eine gut 300 Meter lange, überaus schwierige Strecke mit zerriebenem und verlehmtem Gestein, das beim Kontakt mit Wasser aufquellen sollte. Bei einem Niederbruch im November 1971 öffnete sich in der Stollendecke ein Kamin. Immer wieder rutschte beim Versuch, den Stollen auszubaggern, feines, tonschieferartiges Material nach. Der Stollen war bis zum First gefüllt. Nicht einmal die Höhe des Kamins konnte festgestellt werden. Auch mit den gefürchteten Bergschlägen, jenen explosionsartigen, spannungsbedingten Ablösungen von grossen Felsteilen von der Tunnelwand, hatten die Tunnelbauer zu kämpfen. Mario Sintzel schildert die beängstigende Atmosphäre, die in der Bergschlagstrecke im Sicherheitsstollen herrschte, seine Gänge in den Tunnel, nachts, wenn er Vermessungsarbeiten zu erledigen hatte: «Wir schlichen am Parament [an der Tunnelwand] entlang hinein. Damit es uns nicht erschlug, wenn es knallte. Wir waren wie auf Nadeln. Das war höchst eindrücklich. Und doch mussten wir rein.»

Im Oktober 1971 war erstmals die Rede von der prekären finanziellen Lage des Konsortiums. «An einer ersten Sitzung werden die Nachforderungen der Unternehmung durch die Oberbauleitung behandelt, wobei nur eine teilweise Einigung zu Stande kommt», ist im Baustellentagebuch zum Ende des Jahres 1971 vermerkt.8 1972 betrug der Rückstand gegenüber dem Bauprogramm fünf oder sechs Monate im Sicherheitsstollen und zehn bis elf Monate im Haupttunnel. Am 21. März 1972 brach ein Teil des Tunnelgewölbes nieder. Ein Arbeiter starb, ein weiterer wurde schwer verletzt. Es war der erste tödliche Arbeitsunfall im Baulos Nord. Die sich öffnende Kluft war ausserordentlich gross. Ständig brach Gestein nach. Nach weiteren Niederbrüchen wurde der Tunnel mit Ausbruchmaterial zugeschüttet und mit Betoninjektionen verfestigt. Dann wurde die Strecke ein zweites Mal durchfahren.

Die AGN analysierte die Folgen in einem Bericht an die Baukommission: Wegen des raschen Wechsels zwischen den Ausbruchklassen ändere auch das Vortriebskonzept. «Der ungewohnte, nicht vorgesehene Wechselrhythmus mit den damit verbundenen immer wiederkehrenden Anlaufschwierigkeiten hatte einen starken Leistungsabfall mit entsprechenden finanziellen Auswirkungen zur Folge.»9 Die AGN stellte auf den sogenannten Teilausbruch um. Dabei wird der Tunnel in mehreren Segmenten und Teilschritten ausgebrochen. Das machte die Arbeit sicherer, aber auch langsamer – und teurer. Die Bauherrschaft aber entschied: «Die zurzeit vorliegenden Felsverhältnisse erlauben einen Tunnelvortrieb im Vollausbruch.»10

Im Mesozoikum erreichte der Felsdruck 100 Tonnen pro Quadratmeter. Das Gestein schien zuweilen flüssig zu sein. Der Materialverschleiss nahm enorme Ausmasse an – ein Drittel der Belegschaft arbeitete in Reparaturwerkstätten und beim Betrieb des Baumaschinenparks. Im Sicherheitsstollen wurde ständig feines Material eingeschwemmt, bis der Vortrieb eingestellt werden musste. Eine Sondierbohrung blieb nach 44 Metern stecken. Eine Spezialunternehmung wurde gerufen, die 181 Tonnen Zement in das Gestein presste. Und auf das Mesozoikum folgte unter dem Talboden von Urseren eine Permokarbonstrecke mit sandigen Schiefern und Sandstein. Am 28. Juni 1972 starb ein weiterer Arbeiter bei einem Sprengunfall im Haupttunnel. «Das Problem der Durchörterung der Strecke im Mesozoikum und im Permokarbon beschäftigt alle Beteiligten intensiv», steht im Baustellentagebuch, «neue Studien der AGN für Sicherheitsstollen und Tunnel rechnen je nach Bauvorgangsvariante mit Terminverzögerungen von 2½ bis 12 Jahren und Mehrkosten von 48 bis 60 Millionen Franken.»11 Dies notabene bei einer Werkvertragssumme von 75,4 Millionen Franken.

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