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5. Kapitel

Auf der Fahrt

Bald waren sie auf der Autobahn, der Wagen schnurrte Richtung Osten. Im Rückspiegel sah Hans die funkelnde Frankfurter Skyline hinter dem Horizont verschwinden. Er fuhr in die Schwärze hinein. Der Osten hatte schon immer etwas Bedrohliches für ihn. Das Gefühl hielt sich, als sie Nürnberg passierten, und es wurde stärker, als sie hinter Passau Österreich erreichten.

Würde er Deutschland je wiedersehen?

Wo fuhren sie überhaupt hin? Tonja hatte ihn gebeten, das Navigationsgerät wegzuwerfen, und wortkarg die grobe Richtung vorgegeben: Nürnberg, Passau, Salzburg, Villach, Karawankentunnel. Kurz vor dem Tunnel sollte er irgendwo anhalten und sie aufwecken.

Als Hans nun an der Grenze zu Slowenien kurz vor dem Karawankentunnel einen Parkplatz sah, fuhr er von der Autobahn ab. Tonja wachte von alleine auf und griff zu ihrem Handy. Während sie telefonierte, leerte Hans zwei Kanister Benzin in den Tank des Jaguars. Das betagte Stück hatte bisher nicht schlapp gemacht, sondern treu seine Dienste geleistet.

Tonja stieg aus und sagte: »Wir fahren nach Guguljak. Das ist mein Heimatdorf, 50 Kilometer südlich von Zagreb. Ich habe Tihomir, meinen Vater, angerufen, er erwartet uns.« Sie packte die Brötchen aus und servierte Kaffee aus der Thermoskanne.

Sie waren allein auf dem Parkplatz. Hans sog die Nachtkühle ein. Über ihnen ein halber Mond, den immer wieder Wolkenbüschel verdeckten.

Tonja hob ihren Kaffeebecher. »Einen Toast auf Durstewitz!«

»Wie bitte?«

Tonja biss in ein Schinkenbrötchen und meinte: »Wir haben ein Riesenglück gehabt. Ohne dieses Konto, das du mit ihm gemeinsam hast, hätte die Sache nie geklappt.«

»Ich verstehe kein Wort.«

»Es ist gar nicht so einfach, online schnell mal ein paar Hundert Millionen zu überweisen – das gibt es nur im Fernsehen. Heute arbeiten die Banken mit einem Online-Limit. Die meisten Kunden dürfen pro Tag maximal 5.000 überweisen. Firmen natürlich mehr, je nach Umsatz.«

Hans begann es zu dämmern. »Durstewitz hatte das Konto schon, als wir zusammenkamen und uns gegenseitig Vollmachten für alle Konten erteilten. Er hat darüber früher einen Teil seiner Geschäfte abgewickelt. Export/Import im großen Stil. Daneben hat er ein bisschen spekuliert, klang alles sehr kompliziert, mit Derivaten und Optionen, mit Long and Short. Das war nicht unbedingt meine Welt.«

Tonja nickte. »Und es lief offenbar lange recht gut für deinen Durstewitz, mit unglaublich hohen Umsätzen, da flipperten die Millionen nur so hin und her. Genau das konnte ich jetzt ausnutzen, ohne auf den ersten Blick aufzufallen. Wir waren ja kräftig im Plus, der Concom-Computer sah keinen Anlass, Alarm zu schlagen.«

Auch Hans nahm sich ein Brötchen. »Wenn ich mich recht erinnere, sind noch 200.000 auf dem Konto. Warum?«

Tonja machte eine generöse Geste. »Ich hätte es peinlich gefunden, alles bis auf den letzten Cent abzuräumen.«

Das gefiel Hans. »Ja, das hat Stil.«

Tonja fuhr fort: »Ich habe die knapp 200 Millionen in drei Tranchen unterteilt, jede mit einer schön unrunden Summe. So wollte es auch Drago.«

»Wofür ist der eigentlich bei der Zagorska Banka zuständig?«

»Für den Zahlungsverkehr mit dem Ausland. Es hat alles gepasst.« Sie lachte.

»Darf ich teilhaben?«

»Ich stelle mir gerade Durstewitz vor, sollte er durch irgendein Wunder davon erfahren, was sich auf seinem alten Konto getan hat. Der würde glotzen wie ein bosnischer Ochse. Was meinst du, wo er sich aufhält?«

Hans dachte kurz nach. »Keine Ahnung, hängt von seiner Kassenlage ab. Entweder logiert er in einem Fünf-Sterne-Hotel in Paris oder er schlürft Muckefuck in einem Männerwohnheim in Offenbach.«

Ach, Durstewitz, der Charmante, der Umtriebige. Fünf Jahre hatten sie zusammengearbeitet, Durstewitz hatte viele Kunden beigebracht und die Finanzen im Antiquitätengeschäft geregelt. Das Trüffelschwein hatte auch den prächtigen Nachlass auf einem Schloss in Oberhessen ausfindig gemacht. Einzigartige Renaissancemöbel, ein paar Schwergewichte aus dem Barock, dazu einige erlesene Stücke von David Roentgen und eine hübsche Sammlung Aquarelle von Picasso. Für manche dieser Objekte hatte Hans schon Interessenten gehabt, es wäre der Coup schlechthin gewesen. Die Concom-Bank hatte den Kauf des ganzen Nachlasses vorfinanziert, und nun wollte sie ihr Geld zurück. Von ihm, der so treuherzig gewesen war, Friedbert Durste­witz blind zu vertrauen. Friedbert, das klang anheimelnd, fast ein wenig doof. Aber im Gegenteil: Der Gute war alles andere als das.

Tonja drängte zum Aufbruch. Sie übernahm das Steuer, wofür Hans dankbar war, der Tag hatte ihn erschöpft. Er machte es sich auf dem Beifahrersitz bequem. Tonja fuhr schnell und sicher. Er musterte sie von der Seite, ihr volles Haar, ihre schimmernden Wangen, die Schenkel, die sich unter den eng sitzenden Jeans abzeichneten. Er war süchtig nach ihr, da war nichts zu machen.

Bevor Hans wegdämmerte, zogen die Gedanken in Schwaden durch sein überspanntes Hirn. Heute Morgen hatten ihm noch 200 Millionen gehört. Doch die hatte jetzt dieser Drago. Seine einzige Verbindung zu ihm war Tonja. Was, wenn er morgen früh mit einem Brummschädel allein auf einem Feldweg irgendwo in Slowenien aufwachte? Er würde sich nie verzeihen, Tonja nicht gesagt zu haben, dass er süchtig nach ihr war.

6. Kapitel

Guguljak

»Wo sind wir?«

»Gleich da.«

Hans richtete sich in seinem Sitz auf. Er hatte fest geschlafen und fühlte sich frisch. 10 Uhr. Vor rund zehn Stunden waren sie in Frankfurt losgefahren. Er sah aus dem Seitenfenster, konnte aber kaum etwas erkennen. Es regnete aus tief hängenden Wolken. Willkommen in Kroatien, dem Land der Sonne und Strände. Wasserwirbel und karstige Felder verschmolzen zu einem glänzenden, braun in braunem Postkartenbild, das keiner kaufen würde. Sie waren auf einer Autobahn, ein Schild mit dem Hinweis »Rijeka 150 km« huschte vorbei. Da ging Tonja vom Gas und steuerte eine Ausfahrt an.

»Noch zehn Kilometer.«

Wie durch ein Wunder wurde die Landschaft lieblicher und der Regen ließ nach. Die Landstraße, der sie folgten, schlängelte sich an einem kleinen Fluss entlang.

»Die Kupa, in der habe ich als Kind oft gebadet«, sagte Tonja.

Sanfte grüne Hügel tauchten auf, Weinberge. Hans fühlte sich an Franken und Südbaden erinnert. Auf der Straße waren kaum Fahrzeuge unterwegs.

»Hier ist es aber ruhig«, bemerkte Hans.

»Zu ruhig«, sagte Tonja.

Die Sonne brach durch, das Wasser der Kupa glitzerte. In einer langen Kurve sah Hans hoch auf einem Bergrücken einen schlanken Kirchturm, umkränzt von einem geduckten Häuflein rot gedeckter Häuser.

»Guguljak«, sagte Tonja.

Drei Kilometer weiter schrie sie plötzlich auf: »Oh je, die Warnleuchte!« Sie deutete auf die Anzeige, die im Armaturenbrett glühte.

Hans seufzte. Wahrscheinlich war die Pumpe für das Kühlwasser ausgefallen. Nichts Neues, aber ausgerechnet jetzt! »Fahr sofort rechts ran.«

Tonja brachte das Auto an einer Abzweigung, die bergauf führte, zum Stehen. Praktischerweise war der Jaguar exakt an der richtigen Stelle kollabiert, von hier aus ging es hoch nach Guguljak. Der Wagen köchelte, weißgraue Schwaden drangen durch die Ritzen der Motorhaube.

»So ein Scheiß«, schimpfte Hans beim Aussteigen.

Tonja nahm es leichter. »Ich rufe Vater an, der kann uns abschleppen oder abholen.« Sie zückte ihr Handy.

Hans musterte sein Exil in der Ferne. Ein steiler Schotterweg lag vor ihnen, durchzogen von tiefen Furchen, durch die jetzt das Regenwasser vom Berg herunterschoss.

Tonja packte ihn am Arm. »Tihomir meldet sich nicht. Er spaziert wahrscheinlich durch den Wald, das macht er vormittags gerne. Ich hab es noch bei unserem Nachbarn Mirko versucht, der eine kleine Autowerkstatt in Guguljak hat. Er geht auch nicht ans Telefon, aber ich habe ihm auf die Mailbox gesprochen.«

»Und nun?«, fragte Hans gereizt.

»Wir gehen zu Fuß. Zwei Stündchen und wir sind da.«

Das ließ sich ja gut an, dachte Hans, als er das Hebammenköfferchen mit der Gallé-Vase aus dem Wagen nahm. Sie schoben das röchelnde Auto unter einen Baum am Straßenrand.

Tonja schritt vorneweg, hüpfte locker über die Pfützen und legte ein hohes Tempo vor. Hans kam kaum nach, der handgenähte Rahmen seiner Schuhe sog sich voll mit Nässe. Die Sonne entfaltete ihre Kraft, die Hitze wurde brutal. Der Weg gewann in vielen Spitzkehren an Höhe, unten im Tal glänzte das Band der Kupa wie Metall. Dann wurde es endlich flacher. Zu beiden Seiten erstreckten sich Felder. Dunkle, saftige Erde, aber nur wenige bestellte Flecken. Ein einsamer Trecker hing wie gestrandet in einem Graben.

Mit einer kreisenden Handbewegung sagte Tonja: »Das ist bester Boden, wirklich schade drum. Es gibt in Guguljak kaum noch Landwirte, es lohnt einfach nicht. Vom Weinbau ganz zu schweigen.« Sie wies nach Süden auf die löchrigen Rebhänge. »Keiner hat Lust auf die Plackerei.«

Sie passierten ein Wäldchen. Linker Hand tauchte ein verfallenes Pförtnerhäuschen auf. Dahinter ein zweigeschossiges Gebäude mit vernagelten Fenstern und eine ausgebrannte Halle, die das kaum zu entziffernde Emblem »TK« trug. Das Dach war eingestürzt, ein paar verrußte Betonpfeiler ragten in die Höhe.

In die Totenstille hinein murmelte Tonja: »Das war mal der Stolz von Guguljak – die Tvornica Kotlova, kurz TK. Die Firma baute Heizkessel, hatte Kunden in ganz Jugoslawien. Hier haben die meisten aus Guguljak gearbeitet, auch mein Vater. Was du siehst, sind die traurigen Überreste des Verwaltungsbaus und der Fabrikationshalle.«

 

»Erzähl!«

»Vor zehn Jahren wurde das Unternehmen privatisiert. Einer aus der alten Nomenklatura in Zagreb griff sich die Firma, verscherbelte ihre Schätze und plünderte die Kasse. Übrigens kräftig unterstützt von der Zagorska Banka. Erst Entlassungen, danach schleichende Pleite. Irgendwer hat dann die Halle angezündet. Aus Wut oder als warmer Abbruch für einen Versicherungsbetrug, keine Ahnung. Auf jeden Fall lebt der Plünderer jetzt fröhlich in Österreich, und Guguljak ist jedna selendra – ein Unort, klein und tot.«

»Woher weißt du das alles?«

»Weil ich damals bei der Zagorska Banka angestellt war.« Tonja schüttelte den Kopf, wie um die Erinnerung loszuwerden, und beschleunigte ihr Tempo.

Sie erreichten das erste Haus am Ortsrand von Guguljak. Der unverputzte Bau sah aus wie eine vor Urzeiten verlassene Zollstation. Die Eingangstür hing schräg in ihren Angeln und gab den Blick frei auf einen dunklen Flur, in dem sich Bierkästen stapelten. Zwei der Fenster waren mit Pappe vernagelt. Auf dem versengten Gras vor dem Haus lag kopfüber eine verrostete Zinkwanne, umrahmt von zwei geplatzten Müllsäcken. Daneben ein gemauerter Brunnen, vor dem sich traurig ein Pumpenschwengel verneigte.

Sie blieben stehen.

Eine monströse Ratte kam unter der Wanne hervor, im Gras neben der Tür lauerte ein verfilzter Kater, der seine Chancen bezüglich der Ratte abschätzte. Diese würdigte ihn keines Blicks, sprang auf den Brunnenrand und verschwand mit einem eleganten Satz in der Tiefe. Kein Mensch weit und breit. Nur gespenstische Ruhe.

In diesem Moment knallte es zweimal ohrenbetäubend laut.

Hans duckte sich. »Da schießt jemand!« Halb im Scherz fügte er hinzu: »Sind die aus Frankfurt so schnell?«

Tonja tätschelte seine Wangen. »Ach was. Das sind Slavko und Branko, die Marković-Zwillinge. Die sitzen im Garten hinterm Haus und feiern ein bisschen mit ihrem Selbstgebrannten.«

»Morgens um elf?«

»Was sollen sie sonst groß tun? Die Zwillinge sind Helden, waren 1992 ganz vorneweg in ihrem T-55 bei der Verteidigung von Karlovac gegen die Serben.« Ihre Miene verdüsterte sich. »War eine böse Zeit. Die Zwillinge kamen mit Orden behängt zurück. Aber seit der Krieg vorbei ist, sind sie zu nichts mehr zu gebrauchen. Sie leben von einer kleinen Invalidenrente hier auf ihrem Hof, zusammen mit ein paar Kühen und Hühnern – und dem selbst gebrannten Sliwowitz, dem schnellsten Weg in die Hölle.«

Wieder krachten zwei Schüsse, wieder duckte sich Hans.

Tonja beruhigte ihn. »Wenn ihnen mulmig ist von den eigenen Träumen, schießen sie ein bisschen in die Luft, ist völlig harmlos.«

In die folgende Stille hinein erhob sich hinter dem Haus ein machtvoller Gesang aus zwei Kehlen: »Pi me ga, pi me ga – se do dana belega.«

Tonja grinste. »Bei euch würde man ›Einer geht noch rein‹ sagen.«

Ein schratiger Endfünfziger mit eisgrauen Haaren war unbemerkt zu ihnen getreten. Er umarmte Tonja herzlich, küsste sie auf beide Wangen und blickte fragend zu Hans, der eine Verbeugung andeutete.

Tonja wandte sich an Hans. »Der Wirt vom Bačvica, dem ›Fässchen‹, der einzigen Kneipe in Guguljak.«

Der Wirt musterte Hans und sein Seidenjackett, dann die Eingangstür. Er sprach kurz mit Tonja und schüttelte den Kopf. Als er sich zum Gehen bereit machte, sagte er voller Abscheu: »Vidi ovo, sve je otvoreno ko kurvina guzica.«

»Was heißt das?«, fragte Hans.

Tonja lachte. »Er sagt, hier sei alles offen wie ein Hurenarsch.«

»Ihr habt interessante Redewendungen!«

»Du musst erst mal eine Marktfrau in Split fluchen hören!«

Die Häuser von Guguljak hingen aufgereiht wie unsortierte Perlen an der Dorfstraße. In einigen hausten offenbar ebenfalls Kriegsgestörte, andere waren durchaus gepflegt, ihre Vorgärten bewirtschaftet.

Tonja war sichtlich froh, sie Hans zu zeigen. »Die haben sich Leute gebaut, die lange in Deutschland gearbeitet haben oder in Kanada. Wer hiergeblieben ist, muss sich irgendwie durchwursteln.«

Es ging gegen Mittag, die Hitze wurde unerträglich. Hans spürte das Gewicht seiner Hebammentasche. Er fragte: »Wo ist hier die Dorfmitte, so was wie das Zentrum?«

Sie antwortete grinsend: »Wir stehen mittendrin.«

Hans blickte sich um. Die Straße hatte sich unmerklich zu einem runden, sandigen Plätzchen erweitert. Vor ihm erhob sich der weiß gekalkte Turm der Kirche, daneben lag ein winziger Friedhof mit mächtigen Grabsteinen. Die Toten waren mit ihrem Foto im Stein verewigt und blickten ernst herüber zu Hans.

Tonja erklärte: »Die Kirche ist auch für die Dörfer im Umkreis da. Beim Gottesdienst am Sonntag ist sie so voll, dass die Leute bis auf die Straße stehen.«

Gegenüber der Kirche behauptete sich ein roh gemauerter Kubus, dessen Eingang die kroatische Nationalflagge zierte. Das rot-weiße Schachbrett hing schlaff in der Mittagsglut, die Rollläden im ersten Stock waren heruntergelassen. Vor dem Haus ein paar Tische und Plastikstühle unter einem Sonnenschirm. Zwei alte Männer hockten vor einem Krug Wein und fächelten sich mit ihren Strohhüten Luft zu, unter dem Tisch zankten sich zwei Hühner um ein paar Brotkrumen. Gleichgültig musterten die Männer die Neuankömmlinge.

»Das ›Fässchen‹, der Mittelpunkt von Guguljak«, sagte Tonja. »Dort essen wir heute Abend eine Kleinigkeit. Dort wirst du auch unser Business Center kennenlernen.«

Hans runzelte die Stirn.

Sie lachte und fügte mit einem spöttischen Unterton hinzu: »Wirst schon sehen – im ›Fässchen‹ treffen sich unsere Bisnissmän.« Ihr Deutsch war eigentlich fließend, aber stets mit jener Färbung, die er so liebte. Nun übertrieb sie bewusst.

Ein rostiger Pritschenwagen quälte sich über den Platz, auf seiner Ladefläche schwankten mit Pflaumen gefüllte Körbe. Er verschwand um die Ecke, wieder war es still. Eine schwache Windböe raffte sich auf und ließ eine leere Bierdose Karlovačko Pivo zwei Meter weit über den Sand kullern. Damit erschöpfte sich ihre Kraft.

Hitze und Stille.

Hans hielt andächtig inne, er war angekommen. Das also war Guguljak, seine neue Heimat.

7. Kapitel

Guguljak

Tonja nahm ihn an der Hand. Sie gingen Richtung Ortsausgang, an zwei Kästen mit leeren Fensterhöhlen vorbei. Aus einer streckte ein Baumschössling seine lichtgierigen Zweige.

»Die Post und der Lebensmittelladen. Geschlossen – fünf Jahre nach Ausrufung unseres jungen Staates«, sagte Tonja.

Hans spöttelte: »Schon bemerkenswert, dein Guguljak. Diese Ruhe, diese verhaltene Kraft.«

»Na ja«, erwiderte sie säuerlich. »Früher gab es hier gut 400 Einwohner. Jetzt sind es exakt 244, hat mir der Wirt erzählt, einer ärmer als der andere.«

»Habt ihr denn keine Touristen?«

»Das spielt sich alles an der Küste ab, 150 Kilometer weiter im Süden.«

»Und wovon leben die Leute hier?«

»Eigentlich von nichts, eine hohe Kunst. Einige haben mies bezahlte Jobs in Zagreb oder Karlovac, der nächsten größeren Stadt. Jeder, der sich im Krieg den Fuß verstauchte, hat sich eine kleine Versehrtenrente erschwindelt, andere kriegen ein paar Dollar von den kanadischen Verwandten und was weiß ich. Hier müsste einfach mal mehr Zug rein.«

Hans lächelte. »So wie bei uns?«

Widerwillig kam es durch ihre weißen Zähne: »So in der Art.«

Sie hatten das Dorf verlassen, der Weg wurde schmaler, von hüfthohen Gräsern gesäumt. Der Himmel hatte ein makelloses Blau, in der Ferne jaulte ein Hund. Hinter der nächsten Biegung endete der Weg vor einer eternitgrauen Schachtel.

»Das Haus meines Vaters, nicht gerade Frankfurter Westend, aber ihm genügt es«, sagte Tonja hastig.

Immerhin lag die Schachtel inmitten einer Idylle. Ein würdiger Walnussbaum spendete dem Eingang Schatten, rund um das Häuschen wechselten sich Wiese, Pflaumenbäume und Tannen ab. Von einer kleinen Terrasse mit Blumenkübeln aus öffnete sich ein weiter Blick über Guguljak und die fernen, kirchturmbewehrten Hügel.

»Tihomir lebt alleine, meine Mutter ist vor einigen Jahren an Krebs gestorben. Der Untergang der Firma hat ihn schwer getroffen, er ist ein guter Ingenieur und mit seinen 53 Jahren noch viel zu jung für die Rente.«

Auch über ihre Familie hatte sie bislang nie gesprochen. Tonja schien Hans so vertraut, doch wieder wurde ihm klar, wie wenig er über seine Gefährtin wusste, die ihn hierher an den Rand der zivilisierten Welt geschleppt hatte.

Er wollte etwas sagen, doch Tonja flüsterte: »Zu tun hat er nicht viel, hinter dem Haus baut er Gemüse an und pflegt seine Blumen. Und bitte schau im Haus nicht in jede Ecke, er ist halt alleinstehend.«

Ein hochgewachsener Mann trat aus der Tür, lächelnd kam er auf die beiden zu. Tihomir herzte und drückte Tonja, dann gab er Hans die Hand. »Willkommen!«

Er sprach recht gut deutsch, sah aus wie Mitte 40, hatte dichtes schwarzes Haar, an den Schläfen leicht angegraut. Die gemeißelten Gesichtszüge erinnerten an den jungen Tito. Ein wacher Blick, kaum Fältchen um Mund und Augen, sympathisch. Attraktiv, so wie seine Tochter, dachte Hans.

Er war völlig erledigt, das Seidenjackett durchgeschwitzt, die guten Schuhe überzogen von einer schmierigen Schicht Lehm. Er schälte sich mühsam aus dem Jackett, zog die Schuhe und die feuchten Socken aus. Mit nackten Füßen betrat er das Haus und landete direkt in einer winzigen Wohnküche.

Er quetschte sich auf eine Sitzbank mit rotem Kunstleder, unter der er seine Hebammentasche verstaute, in der die Zeugen seiner 40 Lebensjahre steckten.

Der einfach gezimmerte Esstisch war mit einem rot-weißen Wachstuch bedeckt, gegenüber thronte, hoch über einem Herd mit vergilbten Griffen aus Emaille, eine in Holz gefasste Uhr. Sie tickte zögerlich, es schien Hans, als ob sich der Zeiger besonders langsam, besonders guguljakisch bewegte.

Wo bin ich hier und warum? Er rutschte in ein Loch, tiefer als der Brunnen der Zwillinge, in dem die Ratte wohnte.

Tonjas Blick streifte ihn voller Wärme. »Gleich gibt es turska kava und štruklji.« Sie schob sich zwischen Tisch und Herd, dessen Klappe sie öffnete. »Wunderbar, da ist noch etwas Glut vom Mittagessen.«

Leise fragte Hans: »Was hast du deinem Vater eigentlich erzählt?«

»Dass wir beide in Deutschland ein bisschen Geld gemacht haben und dass wir uns in Südosteuropa engagieren wollen.«

»Glaubt er das?«

»Erst mal ja. Er hat länger in Ingolstadt gearbeitet. Er findet die Deutschen zwar etwas hölzern, achtet sie aber. Und nun habe ich ihm so einen mitgebracht. Hier in der Anrichte neben dem Herd hegt er seinen kleinen Schatz – einen Packen D-Mark-Scheine. Damit kann man in Bosnien ganze Häuser kaufen. Oder ein günstiges Gerichtsurteil in Karlovac.«

»Und er hat nichts dagegen, dass wir hier einfach so hereinschneien?«

»Tihomir hat spontan zugesagt, als ich anrief. Wir sind immer spontan. Er weiß auch, dass wir eine Zeit lang in Guguljak bleiben werden.«

»Sehr lange?«

Sie lachte. »Wir wollen nichts überstürzen, vor allem dürfen wir nicht auffallen.«

Ihr Vater kam in die Küche und legte im Herd ein paar Holzscheite nach.

In einer đezvica aus rötlichem Kupfer begann das Wasser zu kochen, Tonja gab reichlich Zucker hinein. Sie nahm das Gefäß vom Herd und schüttete zwei Löffel »Kaffee Gloria« dazu. Wieder kam die đezvica aufs Feuer. Mit einem Löffelchen rührte sie den Kaffee um, bis er aufschäumte, dann füllte sie ihn in zwei Mokkatassen.

Der türkische Kaffee war stark und süß. Für den Augenblick rettete er Hans, ebenso die štruklji, die Tihomir von einer Nachbarin geholt hatte. Hans vertilgte drei Stück der köstlichen heißen Schnitten aus Frischkäse.

Er aß gerade das letzte Stück, als vor dem Haus jemand pfiff. Tonja ging nach draußen. Hans hörte, wie rege palavert wurde. Wenige Minuten später brachte sie nach und nach ihr gesamtes Gepäck herein.

»Das war Mirko. Er hat unsere Sachen aus dem Jaguar geholt.«

»Kann er ihn reparieren?«

Tonja seufzte. »Er könnte schon, aber der Wagen muss verschwinden.«

»Um Gottes willen! Das ist ein Jaguar MK II, Baujahr 1969 – daran hängen viele Erinnerungen!«

»Und dein Nummernschild.«

Hans sackte in sich zusammen. Sein Jaguar nun auch weg! Ein weiterer Abschied für immer.

»Was macht denn dieser Mirko mit meinem Auto?«

Sie grinste. »Er hat ein ganzes Lager mit Jaguar-Ersatzteilen. Würde mich nicht wundern, wenn er aus deinem Auto gleich zwei neue bastelt. Jaguare sind im Kosovo sehr beliebt.«

 

Durstewitz kam Hans in den Sinn. Oft hatte der Gute eine Mariage vorgeschlagen – man nehme ein paar abgestandene Originalteile, füge sie kunstvoll zu einer neuen Antiquität zusammen und schon war der echte Biedermeier-Sekretär fertig. »Ich hätte da ein paar tolle Handwerker aus Polen, die kriegen das erstklassig hin«, hatte Durstewitz gesagt. Ja, das hätte man machen sollen.

Tonja öffnete eine Tür, die noch tiefer ins Innere des Häuschens führte. Viel Inneres gab es nicht, ein kurzer dunkler Flur führte zu drei weiteren Türen. »Links ist das Gästezimmer, rechts schläft mein Vater und am Ende des Flurs ist das Bad. Dort kannst du dich, wenn du magst, etwas frisch machen.«

Im Gästezimmer stand ein Bett, über dem ein eingerahmtes Foto in Sepia hing. Eine Musikkapelle – einige ältere Herren und ihre Instrumente. Wie die Herren und ihre Hunde. Komplettiert wurde die Einrichtung durch eine wurmstichige Truhe, einen Ohrensessel mit fleckigem Bezug und eine gusseiserne Stehlampe mit trauernden Kordeln. So hatte man um 1947 herum gewohnt, meldete sich der Kenner in Hans. Sie luden ihre Koffer und Säcke ab, dazu die treue Hebammentasche.

»Ich weiß, ist ein bisschen eng hier. Aber das ganze Häuschen hat nur 70 Quadratmeter. Vater hat es selbst gebaut«, meinte Tonja.

Hans ließ sich auf dem Bett nieder. Er sackte durch, die Federn ächzten, der Rahmen schwankte wie eine Jolle in schwerer Dünung. Hier hatte sich wohl schon Marschall Tito in der heroischen Zeit ausgeruht, als es gegen die Besatzer, die deutschen Teufel, ging.

Tonja strich ihm übers Haar. »Ruh dich aus, ich muss noch kurz nach Karlovac, wegen der Bankvollmacht.«

Hans fiel schnell in einen leichten, unruhigen Schlaf. Und in einen scheußlichen Traum. Er stand auf Bahnsteig 18 im Frankfurter Hauptbahnhof und wollte den TGV nach Paris besteigen. Doch die zwei Rucksäcke voller Geldscheine, die er trug, ließen ihn einfach nicht vom Fleck kommen, er stand wie festgefroren. Und schon erschienen die Häscher auf dem Querbahnsteig.

Hans wachte auf, sein Hemd klebte feucht und kalt auf der Haut. Dann geh ich mal ins Badezimmer, sagte er sich und holte ein paar frische Sachen aus einem der Koffer.

Das Badezimmer war kleiner als sein Gäste-WC im Frankfurter Westend, die Ausstattung antiquarisch: ein Klo nebst lockerem Plastikdeckel, ein rissiges Waschbecken und eine Duschkabine, deren Vorhänge an den Rändern schwarze Flecken zierten. Der guguljakische Schimmelpilz. Ein Boiler, den wohl die deutschen Teufel 1945 zurückgelassen hatten. Irgendwie war das alles charmant in seiner Kargheit, machte sich Hans Mut. Er zog sich aus, fischte aus seinem Kulturbeutel ein Fläschchen Duschgel und stieg in die Duschkabine. Misstrauisch musterte er den Duschkopf hoch über sich und drehte vorsichtig an den zwei Hähnen. Im Boiler fing es an zu gurgeln, und ein stechend heißer Wasserstrahl streifte seine Schulter. Hans sprang aus der Kabine, machte ganz lange Arme und drehte erneut an den Hähnen. Nun war die Temperatur angenehm. Er stieg wieder hinein, seifte sich gründlich ein und begann, das Duschen zu genießen. Plötzlich krächzte der Boiler, ein Schwall eiskalten Wassers trieb ihn erneut aus der Kabine. Der Boiler wechselte in eine Art Keuchhusten. Das Wasser versiegte. Da stand er, komplett eingeseift. Neben dem Waschbecken hing ein gelb geflecktes, feucht-fettiges Handtuch. Zitternd versuchte Hans, sich damit trocken zu rubbeln. Dabei schaute er durch ein winziges Fenster in den Garten hinter dem Haus. Auf der Wiese stand eine Gras kauende eitergelbe Ziege. Sie nahm Hans wahr, trottete näher und glotzte ihn mit fahlen Augen an. Hans war sich sicher, dass exakt diese Ziege am Morgen dieses Tages mit genau diesem Handtuch abgetrocknet worden war.

Er seufzte. Sein erster Tag als Multimillionär.