Himmel und Hölle

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III. Vater Klein und sein Feld

Der Handel war abgeschlossen und endigte nach dem Versprechen Mathieu’s in der Schenke der Mutter Boulanger.

Im nächsten Jahre brauchte Madelaine nur zu graben; indes auch dies war für die arme Schwächliche schon viel, so dass Nachbar Mathieu, der auf seinem Felde pflügte, wiederum Mitleid mit ihr hatte, als er sie erschöpft und matt auf den Spaten gestützt ausruhen sah.

»Klein-Vater,« rief er, »ich habe Euch noch einen Vorschlag zu machen.«

Vater Kleine sah den Nachbar von der Seite an.

»Ich weiß,« fuhr der Nachbar fort, »von Herrn Niguet, der mein Notar und der Eurige auch ist, dass Ihr ein dreiviertel Stück Feld neben mir gekauft und bar mit siebenhundert Francs in schönen Louisdor bezahlt habt. Für dieses Feld, das mit dem Eurigen hier nicht zusammenhängt, gebe ich Euch von dem da angrenzenden anderthalb Morgen. So gut ist hier freilich der Boden nicht, dass weiß ich wohl, aber Anderthalb ist auch noch einmal so viel als Dreiviertel.

Vater Kleine kratzte sich hinter dem Ohre, denn der Vorschlag schien wohl annehmbar zu sein.

Wir wollen sehen,« antwortete er wie gewöhnlich,

»Greift geschwind zu, Klein-Vater,« fuhr Mathieu fort; »es passt mir gerade jetzt, und um Euch zu beweisen, dass mir die Sache Ernst ist, will ich Euch noch zwei Vorschläge machen, mit denen gewiss auch Madelaine einverstanden ist.«

»Ich habe dem Vater feine Vorschriften zu machen«, antwortete diese,

»Sag es immer, was Du meinst,« erwiderte Vater Kleine dem Nachbar.

»Nun, Ihr schafft die Disteln und die Steine fort; unterdes pflüge ich nicht nur eure zwei Morgen, sondern auch die anderthalb, die ich Euch als Tausch gebe, überdies füge ich, da der Boden nicht der beste ist, ein Fuder Dünger, gut gemessen, dazu. Was meint Ihr dazu?«

»Etwas müsstest Du doch noch dazu geben,« meinte Vater Kleine.

»Ihr seid ein alter Geizdrache«, antwortete der Nachbar Mathieu, »es schadet aber nichts, denn mich dauert die arme Madelaine, die eine Freundin meiner Seligen war, wenn ich sie so arbeiten sehe. Ihr, wohlverstanden ihr und erst zum nächsten Pflügen schenke ich den Faulen, meinen Ochsen da, der zu klein für den andern und für die Arbeit nicht stark genug ist.«

»Der Faule ist alt,« sagte Vater Kleine, der aber nur auf den Busch schlug.

»Ach geht, alt! Fünf Jahre hat er. Wenn ich ihn schlachten lassen wollte, gäbe mir der Metzger 180 Francs, aber ich kenne das arme Tier nun drei Jahre und möchte ihm nichts Schlechte widerfahren lassen. Deshalb gebe ich ihn Madelainen, weil ich weiß, dass sie ihn niemals schlachten lassen wird.«

»Nein, gewiss nicht,« antwortete Madelaine.

»Du spricht ja als wäre der Handel schon abgeschlossen,« fiel Vater Kleine ein.

»Ja, da habe ich gefehlt; nehmt nicht übel, Vater,« sagte die demütige Frau.

»Übel soll ich's nicht nehmen? Hast gar nicht Ursache, so zu bitten. Übrigens hat Nachbar Mathieu Recht und der Handel könnte wohl zu Stande kommen, ja.«

»Er wird zu Stande kommen; er ist zu vorteilhaft, als dass ihr ihn von der Hand weisen könntet.«

»Hm!« fiel Klein-Vater ein. Warum machst Du mir denn den Antrag, wenn er für mich so sehr vorteilhaft wäre?«

»Warum ich ihn Euch mache? Das begreift Ihr freilich nicht. Ich mache ihn Euch, weil ich Euch nützlich sein will, weil ich die Madelaine lieb habe, hört Ihr wohl? Weil ich sie von Herzen lieb habe und weil sie — hat sie Euch nichts davon gesagt? Schon vor drei Jahren Frau Mathieu geworden wäre, wenn sie gewollt hätte. Aber sie wollte nicht, — sie will dem Wilhelm treu bleiben. Und dagegen kann man nichts sagen, wie Ihr einsehen werdet, weil sie eine brave Frau ist; aber behilflich und nützlich darf man ihr doch sein und darum mache ich Euch einen Antrag, der für Euch so vorteilhaft ist, wie Ihr wohl wisst, alter Geizdrache, denn Ihr henktet Euch auf, wenn ich mein Wort zurücknähme.«

»Ja,« fiel Klein-Vater ein, ohne auf die Rede Des Nachbars geradezu zu antworten, wer bezahlt denn aber die Kosten bei dem Handel?«

»Ah, da drückt Euch der Schuh?«

»Es ist das immer eine Sache von fünfunddreißig bis vierzig Francs.«

»Nun, dass wird sich auch machen lassen. Ihr habt gestern bei dem Herrn Notar Niguet einen Kontrakt machen lassen; ausgefertigt ist er noch nicht; es kann also mein Name statt des Eurigen hineingesetzt und beigefügt werden, dass ich Euch dies Stück Feld da überlasse. Die Kosten teilen wir dann, wie es sich gebührt.«

»Hm! hm!« brummte Vater Kleine und schielte nach dem Felde, das ihm als Tausch angeboten wurde, gleichsam als wolle er zusehen, wie es sich ausnehmen werde, wenn es dem seinigen beigefügt sei. »Hm! Hm!«

»Nun?«

»Wenn nun aber,« antwortete Vater Kleine, »zwischen hier und der Zeit, wo Du mir deinen Ochsen da übergeben sollst, das Tier stirbt?«

»Wenn e stirbt? Ist das wahrscheinlich?«

»Möglich ist's. Im Kalender steht, im nächsten Jahre käme eine Seuche unter das Rindvieh.«

»Ja, Klein-Vater, vorsichtig seid Ihr, das muss wahr sein.«

»Es liegt in meinem Charakter.«

»Nun,« antwortete Nachbar Mathieu, »der Ochse ist 180 Francs wert, habe ich gesagt. Wenn er stirbt, gebe ich Euch so viel Geld. Habt Ihr nun noch etwas zu bemerken?«

»Hast Du nicht vielleicht eine alte Pflugschar, die Du nicht mehr braucht, he?«

»Die ließe sich wohl finden.«

»Und noch etwas. Könntest Du mir deinen kleinen Ochsen nicht zum Eggen borgen, wenn Du ihn nicht gerade selbst brauchst?«

»Ihr sollt ihn haben.«

»Mehr verlange ich nicht. Ich mache bei Geschäften nie viele Umstände. Topp!« sagte er und reichte dem Nachbar Mathieu die Hand.

»Topp!« entgegnete dieser, indem er einschlug.

»Abgemacht!« setzte Vater Kleine hinzu. »Wenn ich einmal mein Wort gegeben habe, nehme ich es nicht zurück.«

»Das glaube ich wohl,« antwortete Nachbar Mathieu mit schlauem Blick.

Madelaine aber dankte ihm mit einem Blick, denn sie hatte wohl erkannt, dass er alles ihretwegen getan.

Von diesem Augenblicke an brauchte Madelaine nicht mehr zu graben und zu eggen und konnte sich ganz dem Hause und ihrem Kinde widmen.

Vater Kleine aber war nun wirklich Haus- und Gutsbesitzer, denn er hatte sein Häuschen mit dem Stalle, er hatte Feld, einen Esel und einen Ochsen, eine Egge und einen Pflug. Das Feld war fruchtbar und Vater Kleine ging so stolz umher wie ein großer Gutsbesitzer. Einige Ursache dazu hatte er auch, denn fast jedes Jahr kaufte er noch Feld an, bis er endlich acht Morgen besaß.

Dieses Feld liebte er über alles, mehr als er seine Frau geliebt hatte, mehr als er seine Schwiegertochter liebte — da er Madelaine ja dem Felde fast aufgeopfert hätte — und doch liebt er Madelainen sehr.

Alle Lage war er auf seinem Felde, denn das Feld ist dankbar; je mehr man sich mit ihm beschäftigt, um so reichlicher trägt es; alle Lage war er da, von früh bis zum Abend, in der Nacht wenigstens in Gedanken, denn er träumte davon, er sah mit geschlossenen Augen, wo die schönsten Ähren waren, wo der Klee am dichtesten stand. Bemerkte er im Winter einen übersehenen Stein, ein Büschel Unkraut, so nahm er sich vor: morgen will ich den Stein und das Unkraut fortschaffen. Und so ging es alle Tage, alle Nächte.

Kam der Sonntag, auf den die armen Arbeiter in den Städten so sehnlich warten, der Tag, an welchem selbst Gott, die Quelle aller Kraft wie aller Güte, ausruhte, damit die Menschen einen Ruhetag hätten, so sagte Vater Kleine Abende nach dem Essen:

»Na, Madelaine, morgen will ich einmal recht ausruhen.«

»Daran tut Ihr wohl, Vater, antwortete Madelaine lächelnd.

Der andere Tag, der Sonntag kam, die Glocken läuteten und sprachen: Heute ist der Ruhetag, der Tag Gottes, der Tag des Herrn. Freut Euch, Ihr Armen und Vernachlässigten, vergesst die Mühsal, die Ihr gestern gehabt habt, vergesst die, welche Ihr morgen haben werdet; legt Eure besten Kleider an und ruht aus zwischen der verrichteten und der kommenden Arbeit.«

Während Madelaine auf den Glockenruf mit dem Gebetbuche in der Hand in die Kirche ging, in welcher ihr Sohn bei der Messe diente, zog der Vater Kleine allerdings seinen besten Rock, den braunen, den Traurock an, die kurzen Hosen und die blauwollenen Strümpfe im Sommer, die grauen wollenen im Winter. Dann stand er einige Augenblicke auf der Schwelle seines Hauses, als sei er unentschlossen, was er tue. Viele, die vorübergingen, redeten ihn an und sagten:

»Vater Kleine, wollt Ihr mit Regel schieben? Wollen wir einen Schoppen trinken?«

Aber auf alle solche verführerische Aufforderungen antwortete er kopfschüttelnd:

»Ich habe keine Zeit.«

»Und warum hatte er keine Zeit?

Es ist Sonntag, Ruhetag; er musste einen Spaziergang machen, bloß einen Spaziergang, einen kleiner Besuch? Wem? — Seinem lieben Felde.

Allerdings ging er an diesem Tage nicht den geraden Weg wie an den Wochentagen; er ging bisweilen sogar am entgegengesetzten Ende durch das Dorf hinaus, und machte wohl einen Umweg von einer Viertelstunde. Das wirkliche Ziel seines Ganges aber war immer sein Feld. Wenn er auch sagte: »Wahrhaftig, heute gebe ich nicht auf das Feld, ich bin ja alle Tage dort,« Jeder hätte ihm antworten können: »Ja, Klein-Vater, eben weil ihr alle Tage auf das Feld geht, werdet Ihr auch heute dahin wandern.«

Aber am Sonntage arbeitet er doch nicht auf dem Felde? Gewiss geht er nur hin, um es zu sehen, um es wenigsten mit den Füßen zu berühren. Da liegt leider ein Stein. Der verdammte Stein! Er bückt sich, hebt ihn auf und wirft ihn hinweg. Und da ist ein ganzer Busch Unkraut gewachsen; das kann er unmöglich stehen lassen. Er bückt sich und reißt es heraus. Eine Stunde, zwei, drei Stunden sieht und sucht er umher, dann hört er Mittag schlagen, und ein Uhr ist Essenszeit. Nun muss er das Feld verlassen, um nicht Madelaine warten zu lassen. Er hat fast eine halbe Stunde weit zu gehen und er bringt eine ganze zu. Es wird ihm so schwer, sich von seinem Felde zu trennen. Kaum ist er zehn Schritte weit gegangen, so bleibt er stehen, dreht sich um und schlägt die Arme übereinander. Er blickt anfangs lächelnd umher, dann ernst, endlich betrübt; lange schaut er dies Fleckchen Erde an, dass so klein ist im Vergleich mit den umher liegenden großen Flächen und doch sein ganzes Leben in Anspruch nimmt.

 

Es schlägt halb auf dem spitzen Kirchturm, er muss nun nach Hause gehen. Er macht sich auf, aber nach dreißig Schritten bleibt er wiederum stehen und blickt sein Feld mit einem innigeren, leidenschaftlicheren Blicke an, als je seine Braut von ihm erhielt. Seufzend schreitet er weiter, als wisse er nicht, ob er wohl sein geliebtes Feld am andern Tage da wieder finde, wo er es gelassen.

Eifersüchtige Erde, Du, eifersüchtiger als irgendein Weib oder eine Geliebte, so willst Du geliebt sein und nur für die bist Du fruchtbar, die sich Dir ganz und stets hingeben!

So war es fast stets ein Uhr, auch wohl drüber, wenn Vater Kleine vor den beiden Häuschen am Wege ankam. Aber nicht auf das zur Linken richtete sich sein Blick, wie man doch hätte vermuten sollen. Und auf der Türschwelle zur Rechten standen denn auch fast jedes Mal, auf ihn wartend, zwei Frauen, ein Mädchen und ein Knabe, ein Kind und ein Hund. Ja, den Vater Kleine erwartete diese ganze Gruppe, denn sobald er herankam, riefen Alle: Da ist er!« Die beiden Frauen blieben auf der Schwelle stehen, die drei Kinder stiegen auf die Bank, der Hund setzte sich hin und wedelte mit dem Schweife, der einem Löwenschweife glich.

Kam Vater Kleine vor das Haus, das oben an der Böschung des Weges stand, so ging er nicht hinauf, sondern blieb stehen, nahm den Hut ab und sagte:

»Gott grüß' Euch miteinander, Frau Marie, kleine Marie und Peter! Komm, Madelaine.«

Er nickte darauf nochmals, bedeckte seinen kahlen Scheitel mit dem dreieckigen Hute und ging nach dem Häuschen gegenüber.

»Kommt!« sagte ihrerseits Madelaine zu dem Knaben und der Knabe wiederum rief dem Hunde zu: »Komm, Bernhard!«

Waren sie alle drüben an der Tür des anderen Häuschens angekommen, so drehten sie sich noch einmal um, der Frau, den Mädchen und dem Kinde in der Tür des andern Häuschens zuzulächeln, und alle, die sprechen konnten, riefen: »Abends!«

Man kennt nun den Vater Kleine so ziemlich, auch Madelaine etwas; nun müssen wir den Leser mit der Frau Marie, der kleinen Marie, Peter, dem Blöden, und dem Hunde bekannt machen.

IV. Es wird darin gesagt, wer und was Frau Marie ist, Mariechen, Peter, Ehrlich und Bernhard, auch ein paar Worte von der schwarzen Kuh

Frau Marie war die Frau des Schulmeisters und wohnte, wie man bereits weiß, dem Vater Kleine gerade gegenüber.

Eines Tages kam sie mit ihrem kleinen Mädchen von drei Monaten in das Häuschen Madelainens, die sie in Trauerkleidung weinend an der Wiege eines kleinen Knaben von fünf Monaten fand.

»Meine gute arme Nachbarin,« sagte sie, »eben habe ich erfahren, dass Dir plötzlich die Milch vergangen ist. Ist das wahr?«

»Ach Gott ja, liebe Frau Marie,« antwortete Madelaine, »und mein armes Hänschen da weint, weil es Hunger hat.«

»Mach Dir darüber keine Sorgen, Madelaine,« fuhr Frau Marie fort, »der liebe Gott hat mir zum Glück Milch für zwei gegeben und mein Mariechen da wird gern mit deinem Hänschen teilen.«

Ohne weiter auf das zu hören, was Madelaine sagte, nahm sie den kleinen Johann auf der Wiege, setzte sich mit einem Kinde auf jedem Knie nieder, entblößte mit der erhabenen Schamlosigkeit der Mütter, welche wohl wissen, dass die allgemeine Verehrung sie schützt, die beiden Halbkugeln ihrer Brust und reichte jedem Kinde eine.

Da sank Madelaine vor ihr auf die Knie, faltete die Hände und weinte.

»Was tust Du, Madelaine?« fragte Marie erstaunt.

»Ich bete an vor einer der drei großen christlichen Tugenden, antwortete die arme Mutter, »vor der Liebe.«

Ihr kleiner Sohn aber trank nach Herzenslust aus diesem ersten Becher des Lebens, dem einzigen, der Honig am Rande und keine Neige hat. Als er getrunken und sich gesättigt hatte, sagte Frau Marie:

»Da! Ich werde täglich dreimal kommen, um ihm zu schenken und wenn er dazwischen einmal weint, so rufe mich nur. Ich bin nicht weit und die Flasche ist auch immer gefüllt.

Sie legte das Kind wieder in die Arme der Mutter, die es an ihr Herz drückte und weinend in die Wiege legte. Es war ja der armen Madelaine als sei sie nun weniger die Mutter ihres Kindes, da eine andere Mutter dasselbe nährte.

Warum aber weinte die arme Frau in Trauerkleidung, warum war der armen trostlosen Mutter so plötzlich die Milch vergangen?

Wilhelm, ihr Mann, Soldat von 1792, war nach dem er auf dem Wege von der Vendée nach Italien vierzehn Tage bei ihr geblieben, bei Montenotte im ruhmvollen Kampfe gefallen.

Vor drei Tagen hatte sie die Nachricht von diesem Todesfalle durch einen Brief erhalten, welchen der sterbende Wilhelm durch einen Kameraden an sie hatte schreiben lassen, und der Schlag war so gewaltig gewesen, dass ihre Milch darunter versiegte.

Seit dem vorigen Abende hatte sie das bemerkt; anfangs konnte sie an dieses neue Unglück gar nicht glauben; sie vermochte sich nicht zu denken, dass die Muttermilch vertrocknen können so lange noch Blut in den Adern der Mutter fließe, aber das Weinen ihres Kleinen überzeugte sie nur zu wohl, dass es wahr sei.

Sie weinte darum vor Kummer und ihr Kind weinte vor Hunger, als Frau Marie mit ihrem Mariechen eintrat und den Hunger und Durst des Kindes stillte.

Warum aber hieß Madelaine kurzweg Madelaine, Marie aber Frau Marie?

Ach, keineswegs weil sie stolz oder reich war. Sie war im Gegenteil fast so arm wie die Ärmste im Dorfe, aber sie war die Frau des Schulmeisters und da dieser in den Augen der Kinder eine gar wichtige Person ist, so nannte man den Schulmeister »Herr« Peter, und seine Frau »Frau« Marie.

Beide, Mann und Frau, hatten sich eine kurze Zeit für reich gehalten, nämlich als Frankreich durch die Stimme des Convents erklärte, der Schulmeister stehe mit dem Geistlichen ganz gleich, und auf den Bericht Lacanal's vierundfünfzig Millionen für den Elementar-Unterricht bewilligte. Leider folgte auf den Convent das Direktorium und was kümmerte sich dieses darum, ob die Schulmeister hungerten, ob die, welche das Meiste für das Volk tun, am allerschlechtesten bezahlt wären.

Frau Marie wurde also die zweite Mutter des kleinen Hans, der halb auf ihren, halb auf Madelainens Knien heranwuchs. Auf der anderen Seite liebte aber auch Madelaine die kleine Marie wie ihr eigenes Kind und gar oft, wenn Frau Marie den kleinen Hans trug, hatte Madelaine die kleine Marie auf den Armen. Ja bisweilen trug eine Mutter beide Kinder und die zwei Frauen tauschten gegenseitig ihre Liebe aus, ohne dass eine nachrechnete, ob sie gegen die andere etwas voraus oder zurück sei.

Die kleine Marie wuchs wie eine Blume auf dem Felde, wie ein Veilchen im Grase, wie eine Kornblume unter den Lehren. Sie nannte den kleinen Hans ihren Bruder und der kleine Hans nannte sie Schwester.

Aber sie wuchsen nicht Beide in einer Art, Hans sprach nicht wie die kleine Marie, Hans schien nicht so zu leben, wie Mariechen. Hänschen führte ein mehr innerliches, seltsameres, fast pflanzenartiges Leben; er war gar nicht wie ein Kind dieser Welt, denn was die anderen Kinder erfreute, unterhielt und ergötzte, erfreute, unterhielt und ergötzte ihn nicht.

Die arme Mutter, die ihn oftmals kopfschüttelnd, wohl auch weinend ansah, schrieb dies ungewöhnliche Wesen einem besonderen Umstande zu.

Als Wilhelm sie nach einem Aufenthalte von vierzehn Lagen verlassen hatte, um zu seinem Regimente zurückzukehren, zog tiefe Trauer in dem Herzen der armen Madelaine ein, gleich als ahne sie, dass sie ihren Mann zum letzten Male gesehen und Wilhelm sie für immer verlassen habe. In reinen Herzen ist nun die Trauer stets die Schwester der Frömmigkeit. Madelaine, die immer fromm gewesen war, wurde es noch mehr und alle Augenblicke, welche ihr die Arbeit frei ließ, wendete sie dem Gebet zu, verbrachte sie in der Kirche.

In der Kirche nun befand sich ein großes Gemälde, welches ein reicher Geistlicher dahin geschenkt hatte. Es stellte Jesus dar, umgeben von kleinen Kindern, das heißt eine der rührendsten Parabeln des Evangeliums.

Alle Kleinen drängten sich hinzu, um die Knie des Erlösers zu drücken und ihn die Hände zu küssen. Nur eines, das mit einem großen Hunde spielte, war zurückgeblieben. Dies stellte eine nicht minder rührende Parabel dar. Nach diesem Kinde streckte Jesus die Hand noch liebevoller aus als nach den andern. Er schien ihm zu winken, heranzukommen wie die Andern, aber eine neidische Mutter sagte zu ihm:

»Lasst es, Herr, es ist einfältig, blödsinnig, arm an Geist.«

Jesus aber antwortete:

»Selig sind die Einfältigen, denn ihrer ist das Himmelreich.«

Diese Kind, das ganz allein mit einem Hunde spielte, das einfältige, geistesarme, das eine neidische Frau von der Gemeinsamkeit allgemeiner Liebe fern halten wollte, welche Jesus predigte, hatte die gute Marie immer vorzugsweise beschäftigt; sie fühlte das innigste Mitleid mit dem armen Verlassenen und wenn sie kniend vor diesem Bilde betete, blickte sie immer hin, ob das Kind, das der Herr rief, seinen Platz und den großen Hund, mit dem es spielte, nicht verlasse, um unter den andern Kindern auch den Segen des Gott-Menschen zu empfangen.

Jeden Abend, wenn sie es so fern von dem Herrn verließ, dachte sie bei sich:

»Morgen werde ich es bei ihm finden.«

Aber am andern Tage fand sie das Kind noch an derselben Stelle und sie sprach leise vor sich hin:

»Zum Glücke, liebes Kind, hat der Herr gesagt: »selig sind die Einfältigen, denn ihrer ist das Himmelreich.«

Möge die Wissenschaft so gut sie kann die durch den Glauben so vollständig erklärte Erscheinung erklären; als Madelaine von ihrem Kinde entbunden wurde und sie dasselbe ansah, sagte sie:

»Herr, mein Gott, hast Du mich gesegnet oder gestraft? Mein Kind ist das Ebenbild des armen Kinder auf dem Bilde, das Du zu Dir winkst.«

Und mit dem heiligen Glauben der Mütter setzte sie hinzu:

»Das meinige wird zu Dir kommen, Herr es wird kommen, ich selbst führe es Dir zu.«

Der kleine Johann oder Hans und Hänschen, wie man ihn nannte, war wirklich der kleine Einfältige aus dem Bilde, Das blonde Köpfchen und die großen blauen Augen, die nichts von dem zu sehen schienen, was um ihn her vorging, als ob ein Schleier zwischen der Welt und seinem Geiste ausgespannt sei.

Die Sache war so wahr, die Ähnlichkeit so auffallend, dass Jedermann den kleinen Hans auf den Armen der Mutter wieder erkannte und die Weiber im Dorfe in jener falschen Frömmigkeit, die oft noch schmerzlicher ist als die Gleichgültigkeit, so oft sie ihn sahen, ausriefen:

»Herr Jesus, das arme Kleine ist doch ganz das Ebenbild des Einfältigen auf dem Bilde in der Kirche.«

Madelaine lächelte; in ihren Augen war Johann das schönste von allen Kindern und nur die kleine Marie allenfalls ließ sie gleich schön sein.

Ihre Besorgnis aber war groß. Hänschen war ein Jahr alt geworden und hatte noch nicht ein Wort gesprochen. Sie fürchtete, dass das Kind stumm sei. Eines Tages endlich wurde sie sehr und angenehm überrascht. Da sie sehr oft sagte: »lieber Gott, lass mein Kind sprechen! Lieber Gott, lass mein Kind nicht stumm sein!« so merkte sich das Kind das Wort, das es so oft hörte, lächelte seine Mutter an und sprach ihr nach:

»Gott!«

Madelaine sank auf ihre Knie und rief:

»Herr, ich danke Dir nicht bloß, dass Du mich erhört hast, sondern auch, dass dein heiliger Name der erste ist, der über die Lippen des Kindes ging.«

Von dieser Stunde an begann der kleine Hans zu sprechen, aber er sprach nicht wie die andern Kinder. Die andern Kinder haben gleichsam zwei Sprachen, die Kindersprache und die wirkliche, ernste Sprache. Hänschen ging sogleich in die ernste Sprache über; aber er sprach nur wenig, er sagte ein, zwei Worte, höchstens drei und vervollständigte seinen Gedanken durch ein Lächeln, durch eine Gebärde, durch einen Blick.

 

Die kleine Marie war seine einzige Gespielin, nie sah man ihn mit andern Kindern spielen. Auch spielte er eigentlich nicht, er — träumte. Marie und seine Mutter liebte er ungefähr mit gleicher Liebe; er liebte auch den Vater Kleine von ganzem Herzen und den kleinen Peter, als dieser zur Welt kam, die Übrigen aber schienen ihm, ich will nicht sagen fremd, aber unbekannt zu sein. Er liebte die Tiere und die Tiere liebten ihn. Was lag in dem Kinde, dass die Tiere es liebten, und ihm folgten? Der störische Graue, der sich bisweilen gegen Vater Kleine hartnäckig weigerte über einen Graben oder einen Bach zu gehen, wurde folgsam wie ein Lamm, gehorsam wie ein Hund, sobald der kleine Hans ihn am Zügel führte oder auf ihm ritt.

Der Faule; wie der Ochs hieß, der seinen Namen bisweilen auch verdiente, merkte das Kind von weitem und brüllte ihm entgegen. Allerdings kam Hans nie in den Stall, ohne einen ganzen Arm voll frisches Gras und Blumen mitzubringen, und der Faule kaute dies Futter mit so großem Behagen, als ob Hänschen das Geheimnis verstehe, gerade die Kräuter und Blumen auszuwählen, welche der Ochse am liebsten hatte.

Die schwarze Kuh brachte der Frau Marie doppelten Ertrag, denn alle Jahre verkaufte sie ein Kalb und alle Tage Milch. Weil nun der kleine Hans dem Mariechen die besten Kräuter gezeigt hatte, war die Milch der schwarzen Kuh weit und breit berühmt. Oftmals aber, wenn man das Kalb verkauft hatte, verweigerte die trauernde Kuhmutter ihre Milch denen, welche ihr das Kalb genommen hatten, um die Milch ganz für sich zu bekommen; dann ging der kleine Hans in den Stall, nahm das Maul der Kuh in seine Hände, richtete ihr den Kopf empor, heftete die Augen auf die traurigen Augen des Tieres und sprach mit ihm — welche Sprache; das weiß Gott. Die Kuh brüllte darauf ein paarmal betrübt, Hans rief die Frau Marie, ließ seine Hand am Halse der Kuh ruhen und gehorsam, wenn nicht getröstet, gab sie die weiße schaumige Milch her, die sie manchmal drei Tage lang verhielt.

Noch anders war es mit den wilden Tieren. Da Hänschen niemals einen lebenden Wesen etwas zu Leide getan Hatte, so liebten ihn alle Geschöpfe, mit Ausnahme derer, welche die Bestimmung haben zu schaden. Sie hielten das Kind gleichsam für einen kleinen Engel, der über die Erbe schreite mit einer lieblichen Stimme und im Namen des Herrn alle Sprachen rede. Nach der träumerisch-sinnenden Weise, wie der kleine Hans im Moose lag oder sich an einen Baum lehnte und auf die singenden Vögel hörte, hätte man allerdings glauben können, er verstehe den Gesang und könne ihn überlegen und erklären.

Die kleine Marie, welche von dieser Sprache nichts verstand, fragte denn auch manchmal Hänschen:

»Welcher Vogel singt jetzt?«

Johann antwortete dann: »Es ist eine Nachtigall, ein Finke, ein Rotkehlchen, denn er brauchte den Vogel, der sang, nicht zu sehen, um zu wissen, welcher es sei.

Wenn er noch immer zuhörte, fragte Mariechen wohl auch:

»Hänschen, was singt der Vogel?«

Johann antwortete:

»Er dankt dem lieben Gott, der einen Tautropfen in ein zusammengerolltes Blatt fallen ließ, um ihm den weiten Weg nach dem Fluss zu ersparen.«

Oder auch:

»Er dankt dem lieben Gott, der zugab, dass ein Dorn am Wege den vorübergehenden Schafen ein wenig Wolle abriss, denn die Zeit ist gekommen, dass das Weibchen ihre Eier legen soll und aus jener Wolle will er sein Nest bauen.«

Oder auch:

»Er klagt, dass ein Kind aus dem Dorfe ihm seine Jungen genommen hat und doch nicht weiß, wie es dieselben füttern müsse, so dass die Kleinen verhungern werden.«

Ebenso war es mit den Pflanzen, dem Grase und den Blumen. Niemals hätte Johann unnötiger Weise auf eine Pflanze getreten, Gras abgeschnitten oder eine Blume gepflückt. Hatte er ja einmal unversehens auf einen Stängel getreten, oder sah er einen, den Andere niedergetreten hatten, so richtete er das arme Pflänzchen empor, und sagte, wenn er es gewesen war: »Ich hatte Dich nicht gesehen, nimm es nicht übel,« und wenn es ein Anderer gewesen: »Zürne dem nicht, der Dich so geknickt hat, denn er wusste nicht, dass Du lebst, leidest und weinst wie wir; er hat zwar deinen Stengel geknickt, aber deine Wurzel ist Dir geblieben; aus deiner Wurzel wird ein neuer Stengel herauswachsen, er wird groß werden, blühen und seinen Samen umherstreuen, so dass Du im nächsten Jahre nicht mehr allein und einsam bist wie jetzt, sondern eine ganze Familie um Dich her hast.«

Ebenso war es, wenn er Gras für den Faulen oder die schwarze Kuh ab sichelte oder wenn er eine Blume pflügte, um sie in den Gürtel oder in das Haar der kleinen Marie zu stecken. Ehe er die Sichel an das Gras ansetzte, sagte er zu demselben:

»Es ist bekannt, warum ich Dich abschneide, armes Gras; es geschieht nicht, um Dir nutzlos Schmerz zu machen oder Dich gar zu vernichten, sondern weil der Faule, der Ochse des Vaters Kleine, und die schwarze Kuh der Frau Marie Hunger haben; weil der liebe Gott Dich wachsen ließ, um sie zu sättigen und ihnen die Kraft zu geben, dass der Ochse das Feld des Vaters Kleine pflügen kann, das uns nährt, und dass die schwarze Ruh Milch bekommt.«

Pflückte er eine Blume, so sagte er zu ihr:

»Du weißt es, dass ich Dich für deine Schwester Marie von dem Stängel breche; Du weißt, dass der liebe Gott Dich nicht darum schön und wohlriechend erschaffen hat, das mir Du einsam auf der Wiese ober im Walde sterbest, sondern damit Du von seiner Größe unter den Menschen zeugst, deren Augen und Herz Du erfreust.«

In Folge dieser ihm von Gott verliehenen Fähigkeit, die ganze Schöpfung zu verstehen und zu begreifen, war der kleine Hans glücklicher im Umgange mit den Bäumen, den Pflanzen, den Vögeln, der freien Himmelsluft, dem Regen und Sonnenscheine, als in dem Verkehre mit den Menschen. Während die Bäume, die Blumen, die Vögel, die Himmelsluft, her Regen, der Sonnenschein in ihrer Sprache sagten: »er ist ein kleiner Engel, und zwar die Bäume, indem sie ihn mit ihrem Schatten bedeckten, die Blumen, indem sie seinen Weg schmückten, die Vögel, indem sie ihn durch ihren Gesang erheiterten, die Himmelsluft, indem sie seine Wangen liebkoste, der Regen, indem er ihn verschonte, und der Sonnenschein, indem er ihn wärmte, zuckten die Leute aus dem Dorfe, wenn sie ihn ernst und schweigsam in dem Alter hingehen sahen, in welchem die Kinder lärmen und spielen, mit den Achseln und sagten im Tone des Bedauerns oder des Spottes: »er ist einfältig.«

Da er indes auf alle Fragen, die sie an ihn richteten, verständig antwortete, da er niemals gelogen hatte und allen die Wahrheit sagte, sie mochte denselben angenehm sein oder nicht, so nannten sie ihn nicht Hans oder Johann oder den kleinen Kleine, sondern Ehrlich.

Nach einer gewissen Zeit nahmen selbst die kleine Marie, Frau Marie, der Vater Kleine, sogar Madelaine den Namen auf, unter welchem Johann im Dorfe allgemein bekannt war, und nannten ihn Ehrlich wie die Andern. Johann sah wohl ein, dass dies ein schöner Name sei, ein Name nach dem Herzen Gottes; er entwöhnte sich seines Namens Johann und gewöhnte sich daran, Ehrlich genannt zu werden.