Lady Hamilton

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19. Kapitel.

Diese Gemütserschütterung war eine der heftigsten, die ich in meinem Leben erfahren. Bis jetzt war ich von der Armut zum Luxus, vom Unglück zum Glück emporgestiegen. Plötzlich aber zerbrach gleichsam etwas in der Maschinerie meiner Existenz und ich hörte auf an meine Unverwundbarkeit zu glauben.

Ich liebte Harry von ganzer Seele, und meine Seele ward dadurch, daß diese Liebe mir geraubt ward, vollständig zerrissen. Diese Liebe wurzelte in meinem ganzen Sein und dieses hatte daher nicht eine Stelle, welche dadurch nicht schmerzhaft berührt worden wäre. Auf die moralische Saite, die durch den ersten Schlag getroffen worden, folgte die materielle. Von dem Augenblicke an, wo ich mich von dem Schlage wieder emporrichtete, mußte ich mich mit den Sorgen für meinen Lebensunterhalt beschäftigen und für ein bekümmertes Herz ist dies eine furchtbare Aufgabe. Wo sollte ich hin? Was sollte aus mir werden? Wo sollte ich ein Obdach finden? Auf welchen Stein sollte ich mein Haupt niederlegen? Alles dies wußte ich nicht, und diese Fragen legte ich mir vor, während ich unter einem Baum der Allee saß, deren Staub ich noch acht Tage vorher unter den Rädern einer eleganten Equipage oder unter den Hufen eines stolzen Rosses aufgewirbelt. Ich hatte mir in der benachbarten Stadt einen Wagen gemietet, diesen mit meinen zwei oder drei Koffern beladen und darin Platz genommen. Als der Kutscher mich fragte: »Wo soll ich Sie hinfahren, Madame?« wußte ich nicht, was ich ihm antworten sollte. »Fahrt immer die Straße entlang,« sagte ich. – »Welche denn?« fragte er wieder. – »Diese da.« – »Aber bis wohin denn?« – »Bis in das erste Dorf oder bis an die erste Stadt.« – »Der erste Marktflecken ist Nutley.« – »Nun, dann fahret nach Nutley.« Der Kutscher setzte, nicht wenig erstaunt, seine Pferde in Bewegung. Nach Verlauf von drei Stunden machte er Halt auf dem Marktplatze eines großen Dorfes, welches in einer reizenden Gegend am Fuße einer Anhöhe lag. »Nun sind wir in Nutley,« sagte er zu mir. – »Erkundigt Euch, ob es hier ein kleines Haus zu vermieten gibt, welches von einer Dame allein mit ihrer Dienerin bewohnt werden kann.« – Er warf die Zügel dem Pferde auf den Hals und begann zu suchen, was ich begehrte. Ich blieb stumm und unbeweglich im Wagen sitzen, wieviel Minuten oder wieviel Stunden weiß ich nicht zu sagen, ich hatte den Sinn für den Lauf der Zeit verloren. Der Kutscher kam endlich zurück. Am andern Ende des Dorfes hatte er wirklich ein kleines Haus gefunden, was nach seiner Meinung ganz für mich paßte. »Fahret mich hin,« sagte ich zu ihm. Der Wagen setzte sich wieder in Bewegung und hielt nach kurzer Zeit vor einem kleinen Hause, welches im Schatten einiger Bäume stand und von einem Blumengärtchen umgeben war.

Dieser Garten war mit einer lebendigen Hecke umzäunt und diese mit einem hölzernen Einlaßpförtchen versehen, welches ebenso wie die Fensterläden grün angestrichen war. Die Eigentümerin hatte es in der Obhut einer alten Frau gelassen und diese beauftragt, es zu vermieten, wenn sie einen Liebhaber dazu fände.

Die Eigentümerin, die kein anderes Vermögen besaß als dieses kleine Haus und eine kleine Rente von fünfzig Pfund, wovon sie lebte, war zu ihrem Bruder, einem Stabsoffizier außer Dienst, gerufen worden, der kürzlich seine einzige Tochter verloren. Das Haus war so geblieben, wie sie es verlassen, das heißt vollständig möbliert – bescheiden, aber sauber.

Ich brauchte bloß einen Blick auf das Haus zu werfen, um zu sehen, daß es in jeder Beziehung dem Zustand meines Herzens und meiner Mittel entsprach. Es war abgelegen, so daß mein Herz hier die Ruhe finden konnte, deren es bedurfte. Es war bescheiden und ich gewann infolge dieses Umstandes, so wenig reich ich auch war, Zeit, einen Entschluß in bezug auf das zu fassen, was mir in Zukunft zu tun übrigblieb. Der Mietzins war dreißig Pfund jährlich. Ich bezahlte sechs Monate voraus unter der Bedingung, daß es mir freistünde, das Haus zu verlassen, wenn ich nichts weiter bezahlen wollte, und vorausgesetzt, daß ich es dann im Laufe der sechs ersten Monate verließe. Mein Vermögen schmolz demzufolge bis auf zweihundertunddreißig Pfund oder fünftausendsiebenhundertundfünfzig Franks zusammen. Wenn ich in diesem Hause bleiben und darin fern von der Welt leben wollte, so hatte ich so ziemlich drei Jahre Ruhe vor mir. Zwei Stunden später war ich in das Haus eingezogen, zu welchem selbst meine einfachste Toilette allerdings einen seltsamen Kontrast bildete. Dennoch, wenn ich mit dieser bescheidenen, aber reizenden Wohnung den Punkt verglich, von welchem ich ausgegangen war, so fand ich, daß ich bei meinem Sturze wenigstens noch in der Hälfte der Höhe mich festgeklammert hatte. Für ein Pfund monatlich und freie Beköstigung verstand die alte Aufwärterin sich dazu, bei mir zu bleiben und alle häuslichen Vorrichtungen zu besorgen. Das erste, woran ich dachte, mir einige Kleider fertigen zu lassen, welche mit der neuen Existenz, die ich zu führen im Begriff stand, besser übereinstimmten. Ich ließ sie von schwarzer Seide fertigen. Auf alle Fragen nach meinem Namen antwortete ich, ich hieße Mistreß Heart, ich wäre Witwe und wolle die ersten Monate meines Schmerzes und meines Witwenstandes in Einsamkeit und Zurückgezogenheit zubringen. Ich war noch sehr jung, um schon Witwe zu sein. Man glaubte von meiner Erzählung natürlich bloß soviel man wollte. Mir kam darauf wenig an, denn ich hatte ja mit niemandem Umgang.

Die ersten acht Tage meiner Zurückgezogenheit vergingen ganz in der Hingebung an jenen physischen und moralischen Schmerz, von welchem schwere Schicksalsschläge des Lebens begleitet zu sein pflegen. Allmählich kehrte dann die Ruhe, wenn auch nicht in mein Herz, doch wenigstens in meinen Geist zurück, und ich konnte meine Lage mit prüfendem Blick ins Auge fassen. Ich hatte einen Mann verloren, den ich liebte; aber war dieser Mann der Trauer wert, welche ich ihm widmete? War seine Handlungsweise gegen mich die eines Gentleman gewesen? Hatte er bei dem Ruin seines Vermögens an mich gedacht? Hatte er sich gefragt, was aus mir werden sollte? Hatte er versucht, mir eine jener Existenzen zu gründen, welche sonst den unglücklichen Frauen beschieden zu sein pflegen, die ihr Leben der Liebe geweiht haben?

Ich mußte mir gestehen, daß er von all diesem nichts getan. Welch' ein Unterschied zwischen seiner Handlungsweise und der Sir John Paynes. Von dem Augenblick an, wo ich dahingelangt war, daß ich Sir Harry mit Unparteilichkeit beurteilte und nach seinem wahren Werte würdigte, war ich nahe daran, mich über seinen Verlust zu trösten. Er war allerdings ein schöner, eleganter junger Mann; mein Gedächtnis erinnerte mich aber unter den Freunden Sir Johns und den seinigen an fünf oder sechs junge Männer, die ebenso schön und ebenso elegant waren als er. Aller Wahrscheinlichkeit nach würde ich ohne den geheimnisvollen Vorfall, mit Hilfe dessen er sich in mein Leben eingeführt und der eine unauslöschliche Spur darin zurückgelassen, auf ihn nicht mehr geachtet haben als auf einen andern, und er wäre unbemerkt an mir vorübergegangen.

Was die Situation betraf, in der ich mich befand, so war dieselbe jedenfalls viel besser, als die bei meiner ersten Ankunft in London. Wenn ich in Zurückgezogenheit und Einsamkeit leben wollte, so hatte ich eine lange Reihe von ruhigen Tagen vor mir.

Wollte ich in London wieder mit demselben Glanz auftreten, wie ich es verlassen, so hatte ich einen oder zwei Monate Luxus jener Gesellschaft in die Augen zu werfen, unter welcher ich gelebt, und in welche ich stets unter denselben Bedingungen zurückkehren konnte.

Ich warf, nachdem ich diese Betrachtungen angestellt, einen Blick in meinen Spiegel. Ich sah jünger, schöner und frischer aus als jemals, und wenn auf meinem Gesicht noch einige Spuren von den vergossenen Tränen zurückgeblieben waren, so wurden sie bereits durch ein halbes Lächeln verwischt. Nach dem geräuschvollen Leben, welches ich geführt, nach den festlichen Tagen, nach den durchspielten Nächten empfand ich nur ein Bedürfnis, nämlich das einiger Wochen Ruhe. Die heitere Ruhe meines Herzens war getrübt wie die Reinheit eines Sees nach einem Sturme. Man mußte ihm Zeit lassen, seine Durchsichtigkeit wieder zu gewinnen. Die ersten Tage der Einsamkeit, die ich in diesem kleinen Hause in Nutley verlebte, waren daher nicht ohne einen gewissen melancholischen Reiz, nach welchem ich mich zuweilen, selbst auf der Höhe meines Glanzes, zurückgesehnt habe.

Ich fragte mich, ob dieses ruhige, bequeme Leben, wo ein Tag dem andern glich, beim Lichte besehen, nicht eigentlich das sei, für welches die Natur uns bestimmt hat. Dennoch aber antwortete auf diese Frage eine geheime Stimme, daß ich nicht zur Zahl der Menschen gehöre, für welche die Natur die Ruhe der Mittelmäßigkeit und die stillen Freuden der Einsamkeit aufgespart hat. Ich gehörte vielmehr zu jenen außergewöhnlichen Organisationen, die den Kampf und den Sieg oder die Niederlage bedürfen, welche die Folge davon sind. Auf welchem Theater sollte dieser Kampf meiner Zukunft gegen das Schicksal beginnen? Ich wusste es nicht; ich, die Athletin des Luxus und der Laune, fühlte aber, daß die augenblickliche Ruhe, in welche ich mich versenkt, nur die schnell vergängliche war, welche dem Kampfe vorangeht.

Ich blieb zwei Monate in Nutley, fast ohne die Schwelle meines Gartens zu überschreiten. Während dieser zwei Monate hatten alle Bestrebungen meiner Jugend Zeit gehabt, in mir wieder aufzuleben. Die Wunde meines Herzens hatte sich um so leichter geschlossen, als ich mir sagte, daß bei Sir Harrys gezwungener Untreue meine Eigenliebe nicht zu leiden gehabt habe, denn unsere Trennung hatte ihren Grund nicht in einem Erkalten seiner Leidenschaft, sondern in dem Zwange, der durch Ereignisse auf ihn ausgeübt worden, welche mächtiger waren, als sein Wille.

 

Bei einem derartigen Bruche – ich sollte dieses weibliche Geheimnis vielleicht nicht der Öffentlichkeit preisgeben – blutet unser Dünkel mehr als unsere Liebe, und das Weib, welches zu sich sagen kann: »Ich habe mich von meinem Geliebten getrennt, aber ich bin überzeugt, daß er mich immer noch liebt,« ist weit näher daran, über die Trennung getröstet zu werden, als die, welche sich sagt: »Ich bin von meinem Geliebten getrennt, weil er mich nicht mehr liebt.« Die Folge hiervon war, daß ich im Laufe des zweiten Monats meiner Einsamkeit mich von neuem nach jenem Strudel hingezogen fühlte, der mich seit einem Jahre mit sich fortgerissen. Ich beschloß demgemäß nach London zurückzukehren, und das Glück aufs neue zu versuchen.

Es war mir bis jetzt so treu gewesen, daß ich hoffen konnte, es werde mich nicht schon zu Anfange meiner Laufbahn wieder verlassen. Übrigens hatte ich mich, so wie das Nachdenken oder vielmehr die Erinnerung in mich zurückgekehrt und es in meinem Geiste Tag geworden war, auf eine Hilfsquelle besonnen, die mir vielleicht noch übrigblieb.

Ich hatte mein kleines Haus in Piccadilly in meiner Eile, Sir Harry aus meiner Vergangenheit hinaus zu folgen, so schnell verlassen, daß ich nicht mehr an das reiche Geschenk gedacht hatte, welches Sir John mir in dem kostbaren Mobiliar gemacht, das in diesem Hause sich befand.

Jetzt empfand ich den inbrünstigen Wunsch, dieses Haus, den Zeugen der ersten Tage meines Glücks, das heißt meines Stolzes, wiederzusehen.

Für mich beruht nämlich – und dies ist eben das, was meinen Untergang herbeigeführt hat – das Glück mehr in der Befriedigung des Stolzes als in der Liebe.

Ich erinnerte mich unklar, Sir Johns Intendanten sagen gehört zu haben, daß die Miete des Hauses auf ein Jahr im voraus bezahlt wäre, und daß alles, was sich in diesem Hause befände, mir gehöre. Allerdings ward diese Schenkung durch keine Urkunde verbrieft, und wenn meine Erinnerung mich täuschte, wenn der Mietkontrakt in Sir Johns Namen anstatt in dem meinigen abgeschlossen – ein Umstand, womit ich mich niemals ernst beschäftigt – oder wenn der Intendant ein unredlicher Mann war, so war es mit dieser ganzen reichen Hoffnung aus.

Es trat ein Augenblick ein, wo ich den Zweifel nicht mehr ertragen konnte, und wo ich beschloß aufzubrechen und mich von der Wirklichkeit, mochte diese nun sein, welche sie wollte, zu überzeugen. Es kam alle Tage eine Personenpost durch Nutley, welche von Lemes nach London und von London nach Lemes ging. Ohne meiner Aufwärterin zu sagen, ob ich wiederkäme oder nicht – was ich nicht nötig hatte, da ja die Miete auf mehr als drei Monate bezahlt war – übergab ich ihr die Schlüssel, nahm einen Platz in der Personenpost und reiste nach London ab, wo ich am nächstfolgenden Tage früh anlangte. Ich rief eine Droschke herbei, ließ meinen Koffer aufladen und befahl mit bewegter Stimme und hochklopfendem Herzen, mich nach Piccadilly zu bringen.

Als die Droschke vor der mir so bekannten Fassade des trauten Hauses Halt machte, wo eine für mein Leben so wichtige Frage entschieden werden sollte, drohten meine Kräfte mir untreu zu werden, und ich zögerte an die Tür zu pochen. Plötzlich aber und wie um diesem meinem Zögern ein Ende zu machen, öffnete sich die Tür, um eine Frauensperson hinaustreten zu lassen und ich stieß einen Freudenruf aus. Diese Frauensperson war nämlich keine andere als Amy Strong, welche, wie man sich erinnert, von jeher einen so großen Einfluß auf die Ereignisse meines Lebens geäußert. Auch diesmal schien das Fatum sie mir in den Weg zu führen. Sie erkannte mich in demselben Augenblicke wo ich sie selbst erkannte, und wir warfen uns einander in die Arme. Hinter ihr stand der Kastellan des Hauses ehrerbietig mit dem Hut in der Hand. Als er mich erkannte, öffnete er sofort beide Torflügel, damit der Wagen hereinfahren könnte. Der Wagen fuhr herein und machte am Fuße der Treppe Halt. Der Kastellan öffnete den Schlag, und da ich zögerte, eine Frage an ihn zu richten, so sagte er: »Sie sind sehr lange abwesend gewesen, Mylady, aber Sie werden alles noch so finden, wie Sie es verlassen haben.« Mit diesen Worten überreichte er mir den Schlüssel zur ersten Etage, welche die war, die ich bewohnte. Es war augenscheinlich, daß in der Tat nichts verändert worden war, und daß alles, was das Haus enthielt, wirklich mir gehörte.

20. Kapitel.

Ich kehrte in diese beglückende Wohnung, die ich auf so unverhoffte Weise wiederfand, mit einem tiefen Gefühl von Freude zurück, und durch Tränen des Dankes gegen Sir John hindurch sah ich mein teures blaues Zimmer, das Zimmer meiner Träume, und den großen, mir von Dick prophezeiten Goldrahmenspiegel wieder. Der armen Amy ging es nicht sonderlich gut. Ich war von jeher ihre Vorsehung gewesen, fünf– oder sechsmal war sie hier gewesen, um etwas von mir zu erfahren und meine Hilfe in Anspruch zu nehmen. Allemal aber hatte man ihr gesagt, daß ich nicht da sei und daß man meinen dermaligen Aufenthaltsort nicht kenne. Eben hatte sie einen letzten Schritt dieser Art und zwar ohne bessern Erfolg getan, als wir uns auf der Schwelle begegneten, welche sie trostlos wieder passierte und welcher ich mich zitternd näherte. In der Vereinsamung, in der ich mich befand, erschien mir diese Begegnung wie ein Segen des Himmels. Ich schlug Amy vor, bei mir zu bleiben, und ohne daß etwas über die Stellung gesprochen ward, welche sie in dem Hause einnehmen sollte, nahm sie mein Anerbieten an.

Wenn ich die Situation richtig ins Auge faßte, so hatte ich nur zwei Wege einzuschlagen. Das Mobiliar des Hauses in Piccadilly gehörte mir, denn Sir John hatte es mir geschenkt. Durch den Verkauf konnte eine Summe von vielleicht zweitausend bis zweitausendundfünfhundert Pfund daraus gelöst werden. Ich konnte also mit dem, was ich noch besaß, etwa sechzigtausend Franks oder eine Rente von hundert bis hundertundzwanzig Pfund Sterling realisieren. Wenn ich mich dazu verstand, der Welt, dem Luxus, dem eleganten Leben zu entsagen, wenn ich wieder in mein kleines Haus zu Nutley zurückkehrte, so brauchte ich mich wegen der Zukunft nicht zu ängstigen, denn meine Existenz war dann gesichert. Wollte ich dagegen die betretene Bahn, nämlich die der Abenteuer, der Laune und des Zufalls, weiter verfolgen, so mußte ich die Möbel und das Haus behalten, neue Liebesverhältnisse anknüpfen und es auf das weitere ankommen lassen. Leider drängte mein Charakter mich nur allzusehr zu diesem letzteren Entschlusse, und Amy, welche mir gegenüber die Rolle spielte, welche vor sechstausend Jahren die Schlange der armen, leichtsinnigen Eva gegenüber gespielt, ermutigte mich, diesen Entschluß zu fassen. Man errät, daß es dieser war, für den ich mich entschied.

Gott, der ein Gott des Erbarmens und nicht ein Gott der Rache ist, verlangt, hoffe ich, nicht, daß ich in allen seinen Einzelheiten das Jahr erzähle, welches zunächst verfloß und welches das neunzehnte meines Lebens war.

Alle Phasen jener beklagenswerten Existenz eines weiblichen Wesens, welches von seiner Schönheit lebt, wurden durchgemacht, alle Schmerzen derselben erschöpft, alle Schmach bis auf den letzten Tropfen getrunken.

Wenn ich alle diese Einzelheiten verschweige, so geschieht dies nicht, weil ich sie vergessen hätte. Ich unterlasse diese Erzählung bloß, weil die Kraft mir fehlt, denselben Weg in der Erinnerung noch einmal zu durchwandeln. Ich werde daher bloß sagen, daß gerade ein Jahr nach meiner Rückkehr in das kleine Haus von Piccadilly ich dasselbe, nachdem ich meine Möbel, meine Schmucksachen, meine Spitzen verkauft, weit ärmer verließ, als ich das Schloß von Up-Park verlassen, denn ich besaß von allen Trümmern meines ehemaligen Glanzes weiter nichts mehr, als das seidene Kleid, welches ich auf dem Leibe trug. Wie war ich auf eine so tiefe Stufe des Mangels und des Elends herabgesunken, daß selbst Amy, diese erste und hartnäckige Ursache meines Ruins, mich verlassen hatte? Nur das Verhängnis, welches mich von der Stufenleiter der Menschheit herabstürzen wollte, um mich sämtliche Sprossen derselben von neuem erklettern zu lassen, könnte dies sagen.

Jeder einzelne Umstand jenes furchtbaren Tages ist meiner Erinnerung gegenwärtig.

Es war Freitags am 26. Oktober 1782, elf Uhr vormittags, an einem jener kalten, nebeligen Tage, wie es deren nur in London gibt, als ich das kleine Haus in Piccadilly verließ. Mein Frühstück hatte in einem Stück Brot und einem Glas Wasser bestanden und ich wußte nicht gewiß, ob ich wieder ein Stück Brot zu meinem Mittagsmahle haben würde. Ich ging Piccadilly hinauf bis Old Bondstreet, ohne zu wissen, wohin ich ging, ohne mir ein Ziel gesteckt zu haben. Ich ging immer geradeaus wie ein Blinder, indem ich an die mir Begegnenden anstieß und gegen andere Hindernisse anrannte. Es dauerte nicht lange, so sah ich mich in Oxford Street. Nur der Zufall hatte mich hierhergeführt. Hier orientierte ich mich. Ich befand mich Miß Arabellas Hotel beinahe gegenüber. Ich blieb einen Augenblick stehen. Während dieses Augenblickes kam ein Wagen aus dem Hofe heraus und fuhr bis an den Fuß des Perrons. Eine in eine kostbare, mit Spitzen besetzte Atlasmantille gehüllte Dame stieg in Begleitung eines eleganten Kavaliers ein. Der Wagen schloß sich wieder und fuhr, mich mit Kot bespritzend, vorüber. Diese Dame war Miß Arabella. Was den Kavalier betraf, der wahrscheinlich ein neuer Bewunderer war, so kannte ich denselben nicht. Der Wagen verschwand in Highstreet.

Warum blieb diese Person, die wahrscheinlich auch nicht von besserer Herkunft war als ich, die sicherlich nicht schöner war als ich, reich und glücklich, während ich, nachdem ich ebenso reich und ebenso glücklich gewesen wie sie, jetzt arm, und elend sie an mir vorüberfahren und mich mit Kot bespritzen sah?

Dies schien mir eine unerklärliche Grausamkeit des Schicksals zu sein.

Vielleicht eine halbe Stunde blieb ich unbeweglich an derselben Stelle stehen und wäre ohne Zweifel noch länger stehen geblieben, ohne zu wissen, warum ich nicht weiterging, wenn sich nicht allmählich eine Menschenmenge um mich gesammelt und ein Polizeier, sich hindurchdrängend, mich gefragt hatte, was ich gleich einer Bildsäule stumm und mit den Füßen im Kote stehen bliebe?

Ich antwortete, ich hätte eine Dame von meiner Bekanntschaft in ihrem Wagen aus dem Hause Nr. 23 herauskommen gesehen und erwartete nun ihre Rückkunft, um mit ihr zu sprechen.

»Geht nur Eures Weges weiter,« sagte der Polizeier in rauhem Tone zu mir; »zu dieser Stunde des Tages haben Frauenzimmer Eurer Art nicht das Recht, auf den Trottoirs stehen zu bleiben.«

Diese Worte drangen mir ins Herz wie ein glühendes Eisen. Ich raffte mich auf und ging durch Deanstreet nach dem Strand hinunter.

Kaum hatte ich einige Schritte zurückgelegt, so sah ich mich Mr. Plowdens Kaufladen gegenüber, in welchem ich, wie man sich erinnert, einen Monat als Ladenmamsell fungiert. Das Leben war hier für mich weder glücklich noch glänzend, wenigstens aber ruhig gewesen. An der Stelle, wo ich während jenes Monats gesessen, sah jetzt ein anderes junges Mädchen von meinem Alter. An ihren sanften, zufriedenen Zügen sah man mit leichter Mühe, daß sie dadurch, daß sie Mr. Plowdens Ladenmamsell geworden, das Ziel ihrer Wünsche und ihres Ehrgeizes völlig oder doch beinahe erreicht hatte. Die rauhen Worte des Polizeiers waren mir noch zu frisch in der Erinnerung, als daß ich vor Mr. Plowdens Laden ebenso stehengeblieben wäre, wie ich vor Miß Arabellas Hotel stehen geblieben war.

Ich ging den Strand hinauf bis King Williamstreet und dann diese entlang nach Leicester Square.

Gerade, als ob ich Stufe um Stufe die Leiter meiner Erinnerungen hinaufsteigen sollte, fand ich hier jenes kleine Haus Mr. Hawardens wieder, wo ich bei meiner ersten Ankunft in London so wohlwollende und gastfreie Aufnahme gefunden. Vom Strand an war ich im Regen gegangen, welcher jetzt immer heftiger zu fallen begann. Meine Abgestumpftheit hatte jedoch einen solchen Grad erreicht, daß ich nicht bemerkte, wie ich bis auf die Haut durchnäßt war. Das kleine Haus hatte immer noch seinen soliden puritanischen Anstrich. Ich setzte mich auf die Stufen einer Art ambulanten Theaters, welches auf der Mitte des Platzes aufgeschlagen war.

Vor mir hatte ich die Tür von Mr. Hawardens Haus. Über zwei Stunden blieb ich so im Regen sitzen und fühlte, wie sich allmählich in mir der Hunger zu regen begann. Dennoch war ich zu stolz, um in diesem gastlichen Haus ein Stück Brod zu erbetteln. Unglücklicherweise waren zwei der Hilfsquellen, auf welche ich in der bedrängten Lage, in der ich mich befand, hätte rechnen können, mir gegenwärtig verschlossen. Mr. Sheridan, dessen Namen ich so oft genannt, war durch den Brand des Drury-Lane-Theaters, dessen Direktor er war, und wo ich ein Unterkommen hätte finden können, in die Unmöglichkeit versetzt, mir nützlich zu sein. Was Romney betraf, so hatte dieser mir niemals seine Adresse gegeben. Ich glaubte mich bloß zu entsinnen, daß er in der Nähe von Cavendish-Square oder in Cavendish-Square selbst wohnte. Diese Erinnerung war jedoch zu unbestimmt, als daß ich auf dieselbe hin sein Haus aufzusuchen vermocht hätte.

 

Ich bedurfte aber rascher und wirksamer Hilfe. Ich hatte Hunger, ich wußte nicht, wo ich etwas zu essen hernehmen, die Nacht brach ein und ich wußte nicht, wo ich ein Nachtlager finden sollte. Ich hob die Augen gen Himmel, um den Zorn desselben durch einen flehenden Blick zu entwaffnen zu suchen.

In diesem Augenblick fuhr ein Wagen wenige Schritte von der Stelle entfernt vorüber, wo ich saß. Er machte Halt, der Schlag öffnete sich. Eine Frau von vierzig bis fünfundvierzig Jahren in einem prachtvollen indischen Kaschemirshawl stieg aus und kam, trotz des auf mich und auf sie herabrieselnden Regens auf mich zu. In den Zügen dieser Frau lag ein Gemisch von Zynismus und Gemeinheit, welches mit ihrer eleganten Toilette in offenem Widerspruch stand. Da ich nicht glauben konnte, daß sie mit mir sprechen wollte, so ließ ich meine Stirn wieder auf meine beiden Hände herabsinken. Sie berührte mich an der Schulter. Ich richtete den Kopf wieder empor. Die Frau stand vor mir. Sie heftete einen frechen Blick auf mich und murmelte ziemlich laut: »Meiner Treu, sie ist hübsch; sie ist sehr hübsch!« Erstaunt sah ich sie an. Was wollte diese Frau von mir? »Warum bleiben Sie hier im Regen sitzen?« fragte sie mich. – »Weil ich nicht weiß, wo ich hin soll,« antwortete ich. – »Na,« sagte sie, »wenn man ein so hübsches Gesicht hat, wie Sie, so kommt man nicht so leicht in Verlegenheit, ein Nachtlager zu finden.« – »Aber dennoch befinde ich mich in dieser Verlegenheit, wie Sie sehen.« – »Warum sind Sie so bleich?« – »Weil mich friert und hungert.«

– »Sie sind doch nicht krank?« – »Nein, aber ich werde es wohl werden, wenn ich die Nacht auf der Straße zubringen muß.«

– »Wer zwingt Sie denn, die Nacht auf der Straße zuzubringen?«

– »Habe ich Ihnen nicht schon gesagt, daß ich nicht weiß, wo ich hin soll?« – »Kommen Sie mit mir.« – Ich sah sie wieder an. – »Wer sind Sie?« fragte ich sie. – »Ich bin jemand, der Ihnen bietet, was Sie nicht haben, – Nahrung, Wohnung, Kleider, Geld.« – »Und was verlangen Sie dafür?« – »Das wird man Ihnen später sagen. Jetzt machen Sie schnell. An Zeit fehlt es mir allerdings nicht, wohl aber ruiniere ich meinen Shawl und meinen Hut, wenn ich noch länger hier mit Ihnen plaudere.«

– Ich zögerte. »Gute Nacht denn, schönes Kind,« sagte die elegante Frau und tat einen Schritt, um sich wieder zu ihrem Wagen zurückzuverfügen. »Madame! Madame!« rief ich ihr nach.

– »Nun, haben Sie sich entschlossen?« – »Wenn mir morgen die Absichten, welche Sie mit mir haben, nicht zusagen, wird es mir dann freistehen, Sie wieder zu verlassen?« – »Jawohl; aber es versteht sich, daß Sie mir dann die Auslagen wieder erstatten, die ich vielleicht für Sie gemacht haben werde.« – »Ich folge Ihnen, Madame.« – Ich erhob mich. Der Regen troff mir von den Kleidern herab. – »Setzen Sie sich auf den Vordersitz und schmiegen Sie sich so viel als möglich zusammen.« Ich gehorchte.

Sie schüttelte den Kopf. »Sie befinden sich in einem traurigen Zustand! – Apropos, Sie haben doch nicht etwa eine Geschichte mit der Polizei auszumachen?« – »Ich?« – »Ja, Sie.« – »Wie sollte ich etwas mit der Polizei auszumachen haben? Ich habe erst diesen Morgen meine Wohnung verlassen.« – »Ah, Sie hatten eine Wohnung?« – »Ja.« – »Und wo befand sich Ihre Wohnung?« – »In Piccadilly.« – »Piccadilly ist aber keines unserer Quartiere.« – »Keines Ihrer Quartiere? Ich verstehe Sie nicht.« Die elegante Frau sah mich wieder an und spitzte die Lippen. »Das ist wohl möglich,« sagte sie. »Sie haben wirklich ein ehrliches Gesicht und das macht sich sehr gut.« – »Madame,« sagte ich, über diese triviale Ausdrucksweise fast erschreckend, »wenn Sie das Anerbieten, welches Sie mir gemacht haben, bereuen, so bin ich bereit, wieder auszusteigen.« – »Nein, nein, bleiben Sie.« – Dann schlug sie die Wagentür selbst zu und sagte zu dem Kutscher: »Nach Hause!« – Zehn Minuten später hielt der Wagen an der Tür eines Hauses in Haymarket, dessen Fenster sämtlich geschlossen waren.

Es fror mich sehr, als ich aber dieses Haus betrat und die Tür sich hinter mir schließen hörte, fror mich noch mehr. Es war mir, als träte ich in ein Grab. Es war auch in der Tat ein Grab, ein Grab der Keuschheit und Tugend, welches man niemals wieder verläßt, ohne die Spuren jenes moralischen Todes an sich zu tragen, welche noch weit furchtbarer sind als die des physischen.