Ein Kommissar läuft Amok: Ein Kubinke Krimi

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4


Jörg Rustow streckte die Arme aus und gähnte. Der breitschultrige, fünfzigjährige Mann bewohnte ein Penthouse hoch über den Dächern von Essen. Er ging durch die Glastür hinaus in den dazugehörigen Dachgarten - einen der größten seiner Art.

Ein wolkenloser Himmel wölbte sich über Essen. Man hatte eine hervorragende Sicht, die bis in das Umland reichte. In der Ferne flimmerte die Luft.

„Sieh dir das an, Bella!”, rief Jörg. „Meine Stadt! Sie liegt mir zu Füßen.”

Rustow trug einen weißen Morgenmantel und war barfuß. Ein Teil des Dachgartens wurde von einem Swimmingpool eingenommen. Rustow streckte den Fuß ins Wasser und zog ihn wieder zurück. „Irgendwas stimmt mit der Wassertemperatur nicht. War der Typ noch nicht da, der das reparieren wollte? Bella? Vielleicht muss man dem Arschloch mal ein bisschen Feuer unter dem Hintern machen.” Rustow drehte sich um. Durch die offene Tür konnte er in das weitläufige Wohnzimmer sehen. „Isabella? Warum gibst du keine Antwort? Scheiße noch mal, bist du taub geworden?”

Er ging zurück, trat durch die Tür, und dann entdeckte er sie. Sie war nackt. Das dunkle Haar fiel ihr weit über den Rücken. Sie kniete vor einem niedrigen Glastisch. Mit einem Röhrchen sog sie eine Linie aus pulverförmigen Kokain in ihr rechtes Nasenloch. Ein schnaufendes Geräusch entstand dabei.

„Nimm nicht so viel von dem Scheißzeug”, sagte Rustow. „Das macht die Nasenschleimhäute kaputt. Außerdem ist es teuer.”

Sie beachtete ihn gar nicht weiter. Ihre Augen waren geweitet. Die blanke Gier sprach aus ihrem Gesicht. Sie brauchte jetzt ihren Stoff und eigentlich wusste Jörg Rustow auch, dass sie dann mehr oder weniger nicht ansprechbar war. Es hatte keinen Sinn, ihr dann etwas zu sagen. Sie hörte in diesen Momenten sowieso nicht zu.

„Nimm die Pillen, die ich dir gegeben habe. Die machen auch gute Laune - und sind billiger. Und außerdem nicht so schädlich.”

Sie war schließlich fertig. Einen Moment schloss sie die Augen. Und es dauerte einige Augenblicke, bis sie wieder einigermaßen bei Sinnen war.

„Ich mag deine Pillen nicht”, sagte sie dann.

„Wieso nicht?”

„Weil Sie nicht immer gute Laune machen.”

„Ach, nein?”

„Manchmal auch das Gegenteil davon.“

„Nur, wenn du zuviel nimmst.”

„Das hier ist besser”, war sie überzeugt. „Übrigens ist die Zeitung vorhin gekommen. Es steht was drin, was dich interessieren wird.”

„So?”

„Über den irren Polizisten. Der, der in dem Einkaufszentrum herumgeballert hat.”

„Marenberg ...”, murmelte Rustow.

„Ist das nicht der Typ, der dir immer im Nacken gesessen hat?”, fragte Bella, die sich jetzt inzwischen erhoben und auf dem Boden verstreute Kleidungsstücke aufzusammeln begann. „Im Moment wird ja überall davon berichtet. Aber der Name kam mir irgendwie bekannt vor.”

„Du hast recht, das ist der Typ, der mir was anhängen wollte”, gab Jörg Rustow zu. „Scheiße, wer hätte gedacht, dass er auf diese Weise aus dem Spiel genommen wurde ...”

Die Zeitung lag auf einem Ledersofa, das zu einer anderen Sitzecke in dem weitläufigen Wohnzimmer gehörte, die um einen riesenhaften Flachbildschirm gruppiert war. Auf dem Flachbildschirm war im Moment der Blick auf ein virtuelles Aquarium mit großen, exotischen Fische zu sehen. Aber Fernsehen konnte man dort natürlich auch. Und abgesehen davon war Jörg Rustow ein Fan von Western-Filmen, die er sich dort ansah. Mit Dolby Surround Sound hörte man dann die Kugeln fliegen.

Die Zeitung war auseinandergefleddert. Das gehörte zu den Dingen, die er an Bella hasste. Sie zerfledderte die Zeitung, ehe er sie gelesen hatte.

Der Artikel über den Amoklauf des örtlichen Kripo-Chefs war allerdings schnell zu finden. Die Überschrift war groß genug. Jeden Tag stand jetzt etwas darüber drin.

‘Was machte Kripo-Chef Marenberg verrückt?’, lautete diesmal die Überschrift.

Die wissen nichts, diese Lohnschreiber!, dachte Rustow.

Inzwischen hatte Bella sich halbwegs angezogen. Und vor allem schien sie ihre Gedanken wieder beieinander zu haben.

„Hast du eigentlich irgendwas damit zu tun, Jörg?”

„Womit?”

„Na, damit, dass dieser Bulle plötzlich durchdreht.”

Rustow drehte sich zu ihr um.

„Red nicht so einen Scheiß!”, sagte er.

„Ist doch schon komisch”, meinte sie und kringelte eine Strähne ihres langen Haares um den Finger. Sie spielte damit herum. „Ausgerechnet der Bulle, der sich wie ein Terrier in deine Waden verbissen hatte, macht einen so spektakulären Abgang.”

„Hör zu! Wenn du weiter regelmäßig deinen Schnee haben willst und außerdem noch etwas Geld, um dir diese bekloppten Schuhe zu kaufen, von denen du schon mehr als genug hast und in denen du sowieso nicht laufen kannst, wenn du vollgedröhnt bist, dann fragst du mich so was nie wieder, klar?”

„Ich meine ja nur ... Wenn ich auf diesen Gedanken komme, dann kommt doch vielleicht auch jemand anderes darauf. Hast du darüber mal nachgedacht, Jörg?”

„Überlass mir das Denken! Bei dir kommt da ohnehin nur Mist raus!”

Sie lachte. Ein überdrehtes, hysterisches Lachen, das vielleicht daher kam, dass sie nicht nur Kokain genommen, sondern vorher auch noch etwas zu viel von dem Whiskey getrunken hatte, den Jörg Rustow immer in großzügigen Mengen vorrätig hatte. „Du redest immer noch wie ein Lastwagenfahrer”, sagte sie. „Kann ja sein, dass du dich hier oben wie der Herr von Essen fühlst, und es kann auch sein, dass du nur schnipp machen musst und irgendein Typ kommt mit einer Maschinenpistole und räumt ein paar Leute für dich aus dem Weg, nur weil ihre Nasen dir nicht passen ...”

„Hör auf! Es ist ekelig, wenn du betrunken bist!”

„Ja, es ist dir peinlich, dass ich weiß, wer du früher warst. Aber soll ich dir mal was sagen? Immer wenn du den Mund aufmachst, hört man das. Mit jedem Wort. Mit jedem Satz, der über deine Lippen kommt und jedes Mal wenn du Wörter wie Scheiße und Schlampe in einem Satz sagst.”

Der Schlag kam schnell, ansatzlos und hart. Bella taumelte zurück. Blut rann ihr am Kinn entlang. Mit einer Ohrfeige hatte sie durchaus gerechnet. So was kam bei Rustow öfter vor. Er war eben etwas grob. Aber einen Faustschlag hatte sie nicht erwartet.

Wie ein Hammerschlag hatte dieser Hieb sie getroffen. Ihr war plötzlich schwindelig. Alles drehte sich vor ihren Augen, und sie taumelte zu Boden.

„Wird anscheinend Zeit, dass dir mal wieder jemand deine Grenzen zeigt”, meinte er.

Sie kauerte am Boden und sah zu ihm auf. Dann wischte sie sich das Blut vom Kinn.

In diesem Augenblick klingelte das Telefon. Jörg Rustow ging an den Apparat.

„Was gibt es?”, fragte er etwas unwirsch und hörbar schlecht gelaunt.

Aber seine Stimmung schien sich schon im nächsten Moment sehr aufzuhellen.

Am anderen Ende der Leitung war Mark Reifer, sein Anwalt. Reifer hatte ihn schon aus unzähligen kritischen Situationen erfolgreich herausgehauen. Jörg Rustow hatte sich immer darauf verlassen können, dass Reifer irgendeine Unregelmäßigkeit im Verfahren oder irgendeinen anderen juristischen Dreh fand, um seinem Mandanten den Kopf aus der Schlinge zu ziehen.

„Ich habe es geschafft, Jörg”, sagte Reifer. „Die letzten Verfahren, die gegen Sie noch anhängig waren, sind jetzt offiziell eingestellt worden.”

„Großartig”, stieß Rustow hervor. „Ich hoffe, Sie habe nicht allzu viel an Bestechungsgeldern ausgeben müssen.”

„Ganz im Gegenteil”, meinte Reifer. „Ich glaube, dieser Marenberg ist genau zum richtigen Zeitpunkt durchgedreht.”

„Ach, ja?”

„Niemand ist im Moment daran interessiert, dass dessen alte Fälle noch einmal genauer unter die Lupe genommen werden. Das könnte der Justiz, dem BKA und und dem LKA erheblichen Ärger einbringen. Und ich glaube im Schatten dieser Entwicklung war man dann gerne geneigt, den Aktendeckel einfach zuzumachen und nicht mehr so genau hinzusehen.”

„Hoffen wir, dass der verdammte Aktendeckel auch für immer geschlossen bleibt”, meinte Rustow.

„Das liegt an Ihnen.”

„Wieso an mir?”

„Treten Sie einfach ein bisschen kürzer! Und vor allen Dingen vermeiden Sie in nächster Zeit am besten jeden Ärger. Leben Sie zur Abwechslung mal etwas unauffällig! Gewissermaßen unterhalb des Radars gewisser einflussreicher Leute in unserer schönen Stadt. Dann würde es die Sache mit Sicherheit etwas leichter machen.”

Jörg Rustow verzog das Gesicht zu einem breiten Grinsen.

„Wissen Sie was? Machen Sie Ihren Job, Herr Reifer! Und ich mache meinen. Was sagen Sie zu dieser Aufteilung? Ist für uns alle am besten, würde ich sagen.”

Auf der anderen Seite der Verbindung herrschte jetzt für einen Moment nichts als Schweigen.

 

„Wir sehen uns, Jörg”, sagte Mark Reifer schließlich. „Ich muss jetzt weiter. Schließlich habe ich noch andere Termine.”

„Sicher. Freut mich, dass Sie etwas erreichen konnten.”

Das Gespräch wurde beendet. Auf Jörg Rustows Gesicht furchten sich jetzt die harten Linien eines breiten Grinsen hinein.

Vergiss nicht, dass du ohne mich gar nichts wärst, kleiner Anwalt!, ging es ihm durch den Kopf.




5


Wir hatten Berlin fast erreicht, da meldete sich unser Chef telefonisch bei uns. Ich nahm das Gespräch über die Freisprechanlage entgegen, so dass Rudi mithören konnte.

„Harry? Rudi?”, meldete sich Kriminaldirektor Hoch, der Leiter des BKA Berlin zu Wort. „Was haben unsere Kollegen in Quardenburg ermittelt?”

Ich lieferte einen kurzen zusammenfassenden Bericht dessen, was Dr. Wildenbacher und Dr. Förnheim herausgefunden hatten und welche Spekulationen sich daran knüpften.

„Ich möchte, dass Sie beide gleich nochmal in mein Büro kommen. Es haben sich ein paar neue Erkenntnisse über Marenberg ergeben.”

„In welcher Hinsicht?”, fragte ich.

„Zusammengefasst läuft es auf Folgendes hinaus: Er war nicht der Muster-Chef, den man erwartet. Es gab offenbar massive Schwierigkeiten. Es sind wohl im Verantwortungsbereich der Polizei von Essen eine ganze Reihe von Ermittlungsfehlern begangen worden. Man musste Tatverdächtige freilassen, weil Beweise auf illegale Weise beschafft worden sind. Beweismittel sind unter ungeklärten Umständen verschwunden. Außerdem litt Marenberg wohl seit längerem unter einer Medikamentenabhängigkeit und reagierte zunehmend gereizt und aggressiv. Es liegen mehrere Beschwerden in dieser Hinsicht vor, und es gab deutlich mehr Versetzungsgesuche an dieser Dienststelle, als es dem Mittelwert entsprechen würde.”

„Wo kommen diese Informationen denn jetzt her?”, fragte ich.

„Die wichtigere Frage ist, wieso sie erst jetzt an mich herangetragen wurden - und auf welchem Weg das geschah”, gab Kriminaldirektor Hoch zurück. „Einer meiner Kollegen hier im Gebäude hat mich darauf angesprochen. Über all diese Dinge gab es offenbar längst Akten und offizielle Vorgänge. Kurz gesagt: Marenberg stand kurz vor dem Rausschmiss. Seine Bilanz war nämlich keinesfalls so makellos, wie es erst den Anschein hatte. Er war angezählt - bei der nächsten Kleinigkeit und vor allem bei Nichterfüllung seiner Auflagen, wäre er seines Postens enthoben worden.”

„Was denn für Auflagen?”, fragte ich.

„Er war verpflichtet worden, die psychischen Probleme zu behandeln, unter denen er wohl zunehmend litt und diese Behandlung fortzusetzen.”

„Dann ging man davon aus, dass diese Probleme nur vorübergehender Natur waren.”

„Man hat damit wohl vor allem auf die Tatsache Rücksicht genommen, dass Marenberg in der Vergangenheit tatsächlich großartige Verdienste hatte und wollte ihm eine Chance geben, sich in absehbarer Zeit wieder zu fangen.”

„Dann hat man uns offenbar mit Vorsatz unvollständig informiert?”, schloss Rudi.

„Das sieht ganz so aus”, bestätigte Kriminaldirektor Hoch. „Ich möchte, dass Sie gleich noch einmal in mein Büro kommen, damit wir ein paar Einzelheiten durchgehen können. Und davon abgesehen würde es wohl unumgänglich sein, dass Sie so schnell wie möglich nach Essen fliegen, um dort aufzuräumen.”

„Eine Polizei-Dienststelle, in der einiges nicht so zu laufen scheint, wie es laufen sollte”, stellte ich fest.

„Bis gleich”, sagte Kriminaldirektor Hoch und beendete das Gespräch.

„Scheint, als hätte Marenberg nichts mehr zu verlieren gehabt, Harry”, sagte Rudi. „Und ist das nicht geradezu typisch für Amokläufer?”

„Jedenfalls erscheinen Dr. Wildenbachers Erkenntnisse jetzt in einem ganz anderen Licht”, sagte ich.

„Will da jemand das Andenken eines Dienststellenleiter schützen?”

„Oder sich selbst, Rudi.”

„Aber wie kann man so naiv sein, zu glauben, damit durchzukommen, dass man einfach einen Teil der Informationen nicht schickt?”

„Ach, Rudi, du weißt doch, wie so was läuft!”

„So? Erklär’s mir! Mich macht das nämlich fassungslos!”

„Eine Organisation muss nur groß genug sein, dann geschehen Dinge, die kein Mensch mehr erklären kann. Immer wieder. Und wenn du mal zurückdenkst, dann haben wir doch schon in Hamburg das eine oder andere Mal Dinge erlebt, von denen wir auch vorher geglaubt hätten, so etwas sei nicht möglich.”

„Du meinst, dass es jemand einfach mal versucht hat?”

„Könnte man so sehen. Aber Kriminaldirektor Hoch wird uns dazu sicher noch Näheres sagen.”

Ich sah schon einen Berg zusätzlicher Arbeit auf uns zukommen. Auf uns und die Kollegen, die uns unterstützten. Denn es erschien mir nun unumgänglich, dass die Fälle, mit denen Marenberg direkt zu tun gehabt hatte, noch einmal daraufhin abgeklopft werden mussten, ob sie mit dem Geschehen in dem Happy-Family-Einkaufszentrum von Essen in irgendeinem Zusammenhang standen. Das konnten Rudi und ich natürlich nicht alles selbst bewältigen. BKA-Kriminalinspektoren konnten schließlich keine Wunder vollbringen. Aber dazu hatten wir ja gegebenenfalls Kollegen, die uns unterstützten. Zum Beispiel Dr. Lin-Tai Gansenbrink, eine Mathematikerin und IT-Spezialistin, die ebenso wie Dr. Wildenbacher und Dr. Förnheim Teil unseres Teams war und deren Hilfe wir gerade bei solchen umfangreichen Analysen gerne in Anspruch nahmen.




6


„Sie müssen einen Moment warten“, sagte Frau Dorothea Schneidermann, die Sekretärin unseres Chefs, als wir dessen Vorzimmer erreichten. „Kriminaldirektor Hoch führt gerade noch ein paar wichtige Telefongespräche.“

Ich konnte mir gut vorstellen, dass diese Gespräche in Zusammenhang mit unserem Fall standen. Kriminaldirektor Hoch war zwar erst seit kurzem Leiter des BKA, so wie Rudi und ich erst seit relativ kurzer Zeit Kriminalinspektoren waren, die im Auftrag der BKA Zentrale von Berlin ermittelten. Aber als jahrzehntelanger Dienststellenleiter der Hamburger Polizei hatte er mit Sicherheit ein dichtes, landesweites Netz von Kontakten knüpfen können. Und die konnten gerade in einem Fall wie diesem von Nutzen sein.

Schließlich war es nun ziemlich offensichtlich, dass wir es mit einer faulen Stelle innerhalb unserer Organisation zu tun haben mussten. Ob das nur Unfähigkeit einzelner beteiligter Personen oder der Versuch war, bewusst etwas zu verschleiern, würde sich zeigen müssen.

„Ich habe für Sie beide Zimmer in Essen gebucht. Und außerdem einen Flug”, sagte Dorothea Schneidermann.

„Danke”, sagte ich.

„Wir können es kaum erwarten, in dieser Weltstadt zu landen” meinte Rudi sarkastisch.

„Die Stadt hat sich entwickelt”, meinte Dorothea Schneidermann. „Wenn man so will, könnte man Essen, Duisburg, Bottrop, Bochum und die anderen Städte zu einer zusammenfassen, so eng, wie sie aneinanderliegen. Da ist doch schon alles zu einer Großstadt zusammengewachsen.”

„Hm, da muss an mir irgendwie was vorbeigegangen sein”, meinte Rudi mit einem Grinsen.

„Tja, langsam sollte Ihr Horizont etwas weiter sein, Rudi”, meinte Dorothea. „Ein Ex-Freund von mir wohnt in Essen und arbeitet für eine High-Tech-Schmiede. Ich gebe es zu, wäre das nicht der Fall, wüsste ich auch nichts darüber, aber mit Hamburg oder Berlin kann man dort sicher wohl auch mithalten.”

Die Tür ging auf. Herr Hoch stand dort. Die Hemdsärmel hatte er hochgekrempelt, die Krawatte hing ihm gelockert um den Hals.

„Kommen Sie rein!”, sagte er.

Wir folgten der Aufforderung. Wenig später saßen wir in seinem Büro.

„Also die Wahrheit über Marenberg sieht wohl so aus, dass man in der Tat das Vermächtnis dieses Mannes schützen wollte. Die Kriminalpolizei Essen wird derzeit von dem ehemaligen stellvertretenden Dienststellenleiter Timo Gottfriedson geleitet. Zunächst kommissarisch, ob das eine dauerhafte Lösung ist, wird sich zeigen. Aber wenn es Unregelmäßigkeiten gibt und die mit dem Chef zu tun haben, halte ich es grundsätzlich nicht für die beste Lösung, den Stellvertreter für die Aufklärung sorgen zu lassen.”

„Sie glauben, dass dieser Gottfriedson davon wusste?”

„Möglich. Ich kann nicht mal ausschließen, dass er gar nicht in erster Linie Marenberg, sondern sich selbst schützen wollte. Wie ich jetzt aus anderer Quelle erfahren habe, ist Gottfriedson mit Marenbergs Familie befreundet. Kann auch sein, dass man von dort Druck auf ihn ausgeübt hat. Wie auch immer: Fakt ist wohl, dass bei Marenberg Depressionen diagnostiziert wurden. Fakt ist auch, dass er Medikamente nehmen musste. Fakt ist zum dritten, dass er zu dem gestellten Psychologen nicht regelmäßig hingegangen ist und damit eigentlich seine Auflagen verletzt hat, unter denen er seinen Job machte. Und Fakt ist weiterhin, dass er mindestens noch einen zweiten Psychologen und einen weiteren Arzt wegen dieser Sache aufgesucht hat.”

„Könnte es sein, dass er Medikamente gehortet und überdosiert hat?”

„Es spricht einiges dafür, dass er abhängig war. Eine Sekundärerkrankung, die sich wohl aus der Medikamentierung wegen der depressiven Verstimmungen ergeben hat.”

„Arzt-Hopping, um genug verschrieben zu bekommen. Da wäre er nicht der erste”, meinte Rudi.

„Es gibt noch etwas anderes, worauf ich Sie hinweisen möchte, was jetzt ebenfalls ans Tageslicht gekommen ist.”

Ich hob die Augenbrauen.

„Noch mehr?”

Eigentlich reichte das schon. Es wäre dringend angezeigt gewesen, Kevin Marenberg zumindest zu beurlauben. Vielleicht, so dachte ich in diesem Moment, hätte dann die anschließende Tragödie verhindert werden können. In diesem Punkt sollte ich mich allerdings täuschen.

„Kevin Marenberg ermittelte seit Jahren gegen einen gewissen Jörg Rustow und seine Organisation”, erklärte Kriminaldirektor Hoch. „Mehrere Fälle von Unregelmäßigkeiten und professionellem Versagen der Polizei und seiner Mitarbeiter betrifft indirekt diesen Rustow, denn es ging um Fälle im Dunstkreis seiner Organisation.”

„Womit verdient denn dieser Rustow sein Geld?”, fragte ich.

„Ich habe Ihnen ein umfangreiches Dossier zugemailt”, sagte Kriminaldirektor Hoch. „Jörg Rustow gilt als der Boss der sogenannten Happy-Hour-Connection. Diese Verbindung ist ein Ring, der sogenannte Designerdrogen herstellt und über Clubs vertreibt. Die Happy-Hour-Connection ist nicht nur in Essen aktiv, sondern auch in den angrenzenden Städten. Aber in dieser Stadt ist das Zentrum ihrer Aktivitäten.”

„Dr. Wildenbacher glaubt, es könnte möglich sein, dass Marenberg regelmäßig Designerdrogen genommen hat”, sagte ich. „Es ist schon ein eigenartiger Zufall, dass er ausgerechnet in dieser Richtung auch noch mit anderweitigen Schwierigkeiten zu kämpfen hatte.”

 

Kriminaldirektor Hoch nickte.

„Tatsache ist, dass er keinen entscheidenden Erfolg gegen die Happy-Hour-Connection vorweisen konnte. Das steht alles in einem merkwürdigen Kontrast zu den Bemühungen. Denn aus den mir inzwischen zugänglichen Unterlagen wird auch klar, dass Marenberg hier ganz bewusst einen Schwerpunkt seiner Arbeit gesetzt hat.”

„Wir werden schon herausfinden, was dahintersteckt”, sagte ich.

„In Essen wird sie eine Kommissarin namens Christina Bellmann abholen. Und der kommissarische Dienststellenleiter Gottfriedson hat mir seine uneingeschränkte Kooperationsbereitschaft zugesagt, nachdem er zunächst das Gegenteil getan hat.” Kriminaldirektor Hoch zuckte mit den Schultern. „Sie werden vor Ort selbst entscheiden müssen, wie weit Sie ihn in Ihre Ermittlungen einbeziehen. Aber ich rate Ihnen zur Vorsicht.”

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