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13

Er wurde vom König wegen seiner Verdienste um die englische Wirtschaft – geadelt. Er wurde Sir John Rutland. Er wurde zum Tee in den Buckingham Palace geladen, sich für diese Auszeichnung zu bedanken. Der König und die Königin drückten ihm die Hand, dieser erste Gentleman Englands sprach die Hoffnung aus, daß »Sir John« noch lange zum Segen und zur Ehre Großbritanniens seines Amtes walten werde. Nie erschien der neue Knight sich höhnischer als Betrüger und Gaukler als in diesem Augenblick beneideten höchsten Glanzes.

Jetzt war es unmöglich geworden abzutreten. Dieser Schritt hätte eine Brüskierung und Beleidigung der höchsten Person des Landes, seiner liebenswürdigen Anerkennung und seines Wohlwollens bedeutet. Es wäre ein unwürdiger, bösartiger Schlag gegen die Krone gewesen, der nicht im Bereiche des Möglichen lag.

Da ballte Rutland die Fäuste. Wenn er auf der Höhe bleiben mußte, auf die Angelita ihn gestellt hatte, wollte er ihr zeigen, wer er war. Wollte er ihr beweisen, daß sie keinen Unwürdigen zu schwindelnden Gipfeln emporgehoben hatte. Da warf er sich in die Arbeit wie nie zuvor in diesen Jahren, in denen er das verantwortungsvolle Steuer von Killick & Ewarts geführt hatte. Jetzt erst wurde die Firma das erste industrielle Unternehmen des ganzen Landes, jetzt erst ein nationaler Ruhm, in dem jeder Brite sich geehrt fühlte. Jetzt erst wurde Rutland der erste Mann des englischen Wirtschaftslebens.

Sein Ruf wurde international.

Schon am Tage nach seiner Erhebung in den Adelsstand erschien bei ihm im Verwaltungspalaste der Chefredakteur der »Nation« in höchsteigener Person, bat um ein Bild Sir Johns und einige Daten aus seinem Leben. Diese klassische Wochenschrift wollte ein Essay über den großen Heros der englischen Volkswirtschaft veröffentlichen.

Notgedrungen willigte Rutland in das Interview. Der Chefredakteur gestattete sich einige harmlose Fragen, ohne zu ahnen, in welche peinvolle Verlegenheit er den neuen »Sir« stürzte.

»Wo sind Sie geboren?«

Nach kaum wahrnehmbarem Zögern entgegnete Rutland: »In Liverpool.«

Damals, unmittelbar nach der Tat, war er auf sein Torpedoboot zurückgeeilt und mit den alarmierten Schiffen gegen die »feindliche« Flotte, die von Japan her ansteuerte, ausgelaufen. Es war ein Manöver größten Stils, eine gewollte Demonstration gegen Japan, als Warnung in der Spannung, die zwischen den Vereinigten Staaten und dem Reich der aufgehenden Sonne wieder einmal akut geworden war.

Bei dem Nachtangriff der Zerstörerflottille auf das »feindliche« Gros bei diesigem Wetter war einer der Unglücksfälle eingetreten, mit dem jede Marinenachtübung rechnen muß. Mit abgeblendeten Lichtern stürmte Rutlands Boot, das Führerschiff der Flottille, mit Vollkraft durch die schwarze Nacht. Da plötzlich sah er von der Brücke aus etwas Seltsames vor sich, etwas wie eine riesenhafte Fontäne, die geradeswegs auf sein Schiff zukam. Das Rätsel war über ihnen, ehe er noch erkannte, das es ein Kreuzer war, der mit seinem hohen Steven ungeheure Fluten aufwarf in seiner Sturmfahrt von achtundzwanzig Kilometern.

Er hatte kaum noch Zeit zu dem entsetzten Befehle: »Hart Steuerbord, Volldampf voraus beide!« Da platzten die Schiffe mit grausigem Krache zusammen. Das Torpedoboot stellte sich steil auf. Rutland sah noch, wie der Vormast herunterkam, hörte den Dampf aus dem aufgerissenen Leibe der vorderen Kessel herausbrüllen, sah weiße Schwaden gegen das Schwarz der Nacht und des Meeres – dann sackte das Boot davon.

Im Wasser packte er eine treibende Planke. Wellen trugen ihn davon, unheimlich rasch. Eine Strömung. Als sie die Unglücksstelle mit Scheinwerfern bewarfen, war er schon außerhalb ihres Lichtfeldes.

Drei Tage und Nächte trieb er. Bewußtlos bargen japanische Perlenfischerinnen ihn ans Land. Im Hause des Dorfältesten pflegte ihn liebevoll die kleine gütige Kikuyatko mit der unerreichbaren Anmut und Demut des japanischen Mädchens.

In der Stube des Schulzen hatte er, als er wieder zu Kräften gekommen war und umhergehen konnte, einen Haufen alter verwaschener Schiffspapiere gefunden. Der Taifun warf so manches Schiff an diese gefährlichen Riffe. Hier lag zu Stapel, was von den Mannschaften nach ihrer Beerdigung auf dem kleinen Seemannshügel geblieben war.

Er hatte die Wahl unter diesen verblichenen, vom Meereswasser ausgesogenen Dokumenten. Er wählte einen Seemannspaß, dessen ertrunkener früherer Besitzer im Alter zu ihm paßte. Das Ausweispapier des ledigen Steuermanns John D. Rutland aus Liverpool von dem zerschellten Dampfer »Nancy«.

Und begann unter diesem Namen das neue Leben.

Wohl war ihm später oft der Gedanke gekommen, nach den Verwandten seines Paten und toten Doppelgängers zu forschen, hatte diese Notwendigkeit aber im Drange der anstürmenden Geschäfte aufgeschoben und immer wieder verschoben. Wer fragte in England nach Paß und Ausweispapieren! Er hatte die Erkundung vertagt und schließlich vergessen.

Die Frage des Chefredakteurs der »Nation« erfüllte ihn mit peinlicher Reue ob dieser Vernachlässigung. Was wußte er von dem ersten Offizier John D. Rutland aus Liverpool? Nichts!

»Wie hieß Ihr Vater, Sir John?« fragte liebenswürdig der Chefredakteur.

»John David Rutland«, erwiderte Sir John aufs Geratewohl. »Er ist tot.«

Auch die Mutter ließ er sterben und phantasierte seine Jugend und Seemannslaufbahn kühn zusammen.

Eifrig notierte der Zeitungsmann.

Wenige Tage später erfuhr das Vereinigte Königreich zum ersten Male Einzelheiten aus dem Leben seines größten Wirtschaftsmagnaten.

14

Im Juli des Jahres tagte in Genf wieder eine der Abrüstungskonferenzen. An Sir John Rutland erging seitens der englischen Regierung der ehrenvolle Ruf, die britische Delegation als Sachverständiger zu begleiten. Er nahm an.

Diese erste politische Sendung begegnete seinen ehrgeizigen Plänen. Er suchte ein neues Feld der Betätigung und der Auszeichnung, immer noch von der fixen Idee besessen, Angelita zu beweisen, daß er auch ohne ihre heimliche Hilfe zu den steilsten Gipfeln männlichen Erfolges klimmen könne. Er wählte als Nächstliegendes, für einen Mann seiner wachsenden Volkstümlichkeit, die Politik.

Schon lange umbuhlten ihn die Parteien. Er wollte hineinspringen in die Arena der Staatsgeschäfte, sich bei den Neuwahlen als Kandidat für das Parlament aufstellen lassen und dann Angelita zeigen, wes Geistes Kind er war. Keiner seiner Bekannten zweifelte daran, daß er in ernsthafter Beschäftigung mit der Politik, bei seiner überragenden wirtschaftlichen Sachkenntnis, seiner Berufsenergie und Rednergabe, der kommende Mann Englands sei. Konservative und Liberale warben um seine Gunst und seinen offiziellen Beitritt zu ihrer Partei. In den Klubs weissagte man ihm die Karriere der größten englischen Staatsmänner, eines Pitt, eines Canning, eines Disraeli, Lloyd George und Lord Reading, der in wenigen Jahren vom unbekannten Anwalt Rufus Isaacs zum Vizekönig von Indien emporgestiegen war.

Die Regierung Baldwin griff zu und entsandte ihn, Englands besten Kenner des Rüstungswesens, in die Abrüstungskonferenz nach Genf.

Es war ein erster Schritt zu einer neuen ruhmreichen Laufbahn. Rutland wußte, daß Angelita, diese kluge, politisch geschulte Frau, verstehen und aufhorchen würde. Deshalb nahm er, trotz leiser Bedenken, die aus der Vergangenheit flüsterten, die Berufung an.

Die Hauptmächte der Konferenz waren England, Frankreich, Amerika und Japan. Es war in erster Linie eine Besprechung zur Herabminderung der Flottenbauten der beteiligten Staaten. Jedes Land entsandte unter Führung eines Staatsmannes seine hervorragenden Marineleute.

Rutland übersah durchaus nicht die Möglichkeit, in Genf mit Seeoffizieren der Vereinigten Staaten, vielleicht mit Kameraden von ehedem, zusammenzutreffen. Er lief keineswegs blind und unbedacht in die Gefahr. Doch er achtete sie gering, verachtete sie.

Gewiß, Muriel hatte ihn erkannt. Aber kein anderer Mensch hatte so nahe neben ihm gelebt wie sie, und sogar sie hatte zuerst gezweifelt und geschwankt, und erst, als er Esta begrüßte, ihre Gewißheit gefunden.

So verwarf er die Skrupel, die ihm kamen, in einer fatalistischen Gleichgültigkeit, einer ihm ungewohnten Nachlässigkeit, in einer allzukühnen Schicksalsversuchung. Vielleicht auch nur in dieser verblendeten Sucht nach neuen, nach politischen Ruhmestaten. In der Tiefe seines Gemütes wirkte als bestimmender Faktor all seines Tuns die Triebkraft, seiner Tüchtigkeit Achtung abzuzwingen, die nicht durch ihre Unterstützung flügge geworden war. Dahinter trat alles andere zurück. Er wollte Staatsmann werden, einer der großen Lenker des englischen Weltreiches. Für Angelita, gegen sie.

Doch er durfte diesen Weg, der durch das Herz, die Ehre und das Ansehen einer großen stolzen Nation führte, nur einschlagen, wenn er die verbürgte Gewißheit besaß, daß die Vergangenheit ein- für allemal vergangen war.

Nun, in Genf würde er sein Kind ja nicht begrüßen und sich nicht verraten. Übrigens war er schon wiederholt mit Offizieren der USA.-Navy zusammengetroffen, ohne daß er ihnen irgendwie aufgefallen war. Es wäre auch eine erstaunliche Duplizität der Zufälle, wenn er, nach fast sieben Jahren, nun innerhalb weniger Monate zweimal erkannt werden würde.

Allzu groß erschien ihm das Risiko nicht. Als er geadelt worden war, hatten nicht nur englische, sondern vor allem amerikanische Zeitungen und Wochenschriften sein Bild gebracht. Gerade in den Blättern war es hundertfach erschienen, die in den Marinekreisen Amerikas gelesen wurden. »Der König des Flottenbaues« nannten sie ihn jenseits des Atlantik. Viele seiner früheren Kameraden hatten sein Porträt gesehen. Und nicht eine Stimme des Erkennens hatte sich erhoben!

Nein, das Wagnis, das er einging, war nicht allzu groß. Ihm blieb auch keine Wahl, wenn er fest entschlossen war, die Leiter einer großen Staatskarriere zu ersteigen. Die Entsendung zu dieser wichtigen Konferenz, auf der endlich einmal weittragende Beschlüsse von realer Wirkung gefaßt werden sollten, war die erste Sprosse dieser Jakobsleiter. Er wollte sie betreten – für Angelita, – gegen sie!

 

Er fuhr nach Genf, vorbereitet und gerüstet auf alle Möglichkeiten. Was konnte geschehen? Frühere Kameraden, wenn er wirklich mit solchen zusammentraf, konnten eine erstaunliche Ähnlichkeit mit dem Oberleutnant zur See George Paterson feststellen. Was besagte das? Nichts! Keiner würde wagen, zu behaupten, daß der weltbekannte Chef von Killicks & Ewarts, das von der englischen Regierung entsandte Mitglied der Königlichen Delegation, der vor sieben Jahren bei den Flottenmanövern in den japanischen Gewässern mit seinem Torpedoboote untergegangene Mörder des Leutnants Stephen Jerram sei. Keiner. Zumal Paterson, nach Muriels gefälschtem Berichte, allen als ein tückischer, vorsätzlicher Mörder aus Eifersucht galt. Wer würde wagen, das Mitglied dieser Abrüstungskonferenz als einen gemeinen Mörder zu bezeichnen?! Das war eine diplomatische und gesellschaftliche Unmöglichkeit.

Doch trotz aller dieser Überlegungen und innerlichen Bereitschaft erbleichte Sir John, als ihm im Hotel Beau Rivage zu Genf die Liste der amerikanischen Delegation überreicht wurde. Neben den Namen von Männern, die er aus seiner früheren Laufbahn vom Hörensagen kannte, traf er auf den Namen eines Offiziers, der sein waghalsiges Draufgängertum im ersten Augenblicke entmutigte und ernüchterte. Es war der Korvettenkapitän Roland Jerram, wie sein jüngerer Bruder, der Getötete, einst Mitschüler Rutlands in der Kadettenschule von West Point und Kamerad des jungen Leutnants auf dem Linienschiff »Dakota«.

Im ersten Moment durchzitterte Rutland eine Schwäche, die seinem Zusammenbruch in der Herrengarderobe des Hauses des Herzogs Breton de Los Herreros martervoll ähnelte.

Die Herren der englischen Delegation standen in der Halle des Hotels, bereit, zur ersten Sitzung der Konferenz im Palaste des Völkerbundes zu fahren. Mit aller Fassung, die ihm möglich war, reichte Rutland die Liste seinem Nachbarn und trat beiseite.

Wieder, wie an jenem Abend der Gesellschaft bei Angelita, packte ihn das jagende Verlangen nach Flucht. Seine Vernunft bewies ihm sofort die Unausführbarkeit. Eine Krankmeldung vor dieser ersten wichtigen Sitzung hätte unliebsames verräterisches Aufsehen erregt, zumal er noch vor wenigen Minuten bei dem gemeinsamen Frühstück gesund und guter Dinge gewesen war.

Ausgeschlossen. Ganz ausgeschlossen! Durch! Den Stier bei den Hörnern gepackt! Jerram hatte ihn seit etwa zehn Jahren nicht gesehen. Freilich, er kannte ihn gut. Sie hatten die meisten Streiche in West Point gemeinsam vollführt, Stephen, Roland und er. Die »Unzertrennlichen« hatten sie geheißen. Auch auf der »Dakota«, dem ersten Kommando nach dem Examen, waren sie alle drei, auf besonderes Bitten, noch zusammengeblieben. Dann hatten ihre Dienstwege sich getrennt. Roland Jerram war ein Jahr älter als der Bruder und Rutland.

Sir John blieb nicht viel Zeit zur Sammlung. Man brach auf. Während der kurzen Fahrt über den Kai und die Rue du Montblanc plauderte der Staatssekretär, der Führer der englischen Delegation, mit dem Rutland zusammen fuhr, angeregt mit ihm. Er mußte antworten, lächeln, harmlos tun. Aber in seinem Herzen braute dumpfe Furcht und eine bleiche Reue über sein Wagnis.

Doch als die Herren sich in dem großen Saale des Völkerbundpalastes mit der schönen Fenstergalerie, die in der Julisonne blendend glitzerte, versammelten, durchströmte Rutland beim Anblicke der amerikanischen Marineuniform, die er seit Jahren zum ersten Male wiedersah – die Herren von der USA.-Flotte, mit denen er in London zusammengetroffen war, hatten stets Zivil getragen – die Ruhe und entschlossene Verwegenheit, die ihm dieser Waffenrock seit frühester Knabenzeit eingedrillt und anerzogen hatte.

Was denn? Was konnte geschehen? Eine Ähnlichkeit. Nun ja. In gewissem Sinne glichen sich alle diese harten, kantigen, englischen und amerikanischen angelsächsischen Seemannsgesichter. Die Ähnlichkeit einer großen Rassenfamilie. Er wußte, daß er durch seine niederdeutsche Abkunft die typischen scharfgeschnittenen nordischen Züge trug. Allright! Mit Volldampf voraus! Ihn belebte der kühne Angriffsgeist, der ihn so oft auf der Brücke seines Torpedobootes beseelt hatte, wenn es bei stockdunkler Nacht mit abgeblendeten Lichtern gegen den markierten Feind ging. Drauf und dran!

Die politischen Führer der Delegationen machten sich zuerst miteinander bekannt, soweit sie sich nicht schon früher begegnet waren. Dann stellten sie gegenseitig die Mitglieder ihrer Delegation vor.

»Sir John Rutland – Korvettenkapitän Roland Jerram«, sprachen die Stimmen des englischen und amerikanischen Führers.

Rutland blickte gelassen und liebenswürdig auf das Gesicht des langen dürren Mannes, dessen breit vorspringende Backenknochen und kleines spitzes Kinn im Verein mit den großen abstehenden Ohren schon in West Point schmerzlicher Gegenstand manchen Übermutes und vieler Karikaturen gewesen waren. Unwillkürlich packte Rutland wieder die Komik dieses altgewohnten Gesichtes.

Jerram schüttelte die dargebotene Hand konventionell freundlich. Dann kam es. Nicht wie bei Muriel in London, wie ein Puff in die Herzgrube, der sie zurückwarf und aufschreien ließ. Ganz leise kam es über den Kapitän. Die heiter begrüßenden grünen Augen verglasten, wurden seltsam belebt und zugleich starr. Die Backenknochen traten noch weiter und eckiger aus den Wangen hervor, das Kinn spitzte sich noch drolliger zu.

Doch da war auch schon alles vorüber. Rutland hatte das übliche »so glad to meet you« gemurmelt und war weitergeschritten. Auch Jerram mußte die anderen Herren begrüßen, ehe er sich noch halb erholt hatte.

Dann begann die erste Sitzung.

Wohl fühlte Sir John die Blicke des Kapitäns, die sich in seine Züge einzufressen suchten. Er hatte ihn erkannt, kein Wunder, schwankte aber und zweifelte.

Der gute alte Roland Jerram! Obwohl er der Älteste von ihnen war, hatten sein Bruder Stephen und Rutland stets ihren Spott und Schabernack mit ihm getrieben, immer gegen ihn zusammengehalten. Roland hatte den jüngeren, sehr hübschen Bruder abgöttisch und neidlos geliebt und sich alles von ihm und seinem Busenfreunde George bieten lassen. Die beiden jungen Bengels hatten seine Gutmütigkeit weidlich ausgenutzt.

»Der gute alte Roland Jerram«, dachte Rutland. Und etwas von der jungenhaften Verulkungsstimmung war wieder in ihm. Eine hübsche Nuß gab er ihm da zu knacken, wie in den alten Tagen, wenn sie ihn vor den Lehrern reingelegt hatten. Er war immer eine etwas komische Figur gewesen wegen seines grotesken Äußeren, den langen, klapperdürren Gliedern und dem Eulengesichte. Trotz seiner glänzenden Leistungen, seiner Courage und seiner nautischen Begabung.

Ihre Blicke begegneten sich. Wie ertappt, schlug Jerram vor diesen trotzigen selbstbewußten Augen des englischen Delegaten die Lider nieder.

Da schwand Rutlands Teilnahme. Wie fern lagen diese Zeiten von West Point und der »Dakota« hinter ihm! Wie hoch war er hinausgewachsen über die kleinen Interessen eines Marineoffiziers der USA.! Nie vorher war ihm das so eindringlich bewußt geworden, wie jetzt beim Anblicke der alten Uniformen und der alten Kameraden. Welten lagen zwischen ihnen, Welten der Arbeit, der Erfahrung, der Verantwortung, des Erfolges.

Die Debatte wurde lebhafter. Er meldete sich zum Wort. Vergaß Jerram, der gespannt auf diese Stimme lauschte. Es war die alte wohlbekannte Stimme Patersons. Freilich, ohne jeden amerikanischen Anklang. Rutland hatte kritisch an seiner Aussprache gearbeitet, seit damals in Tokio Egan ihn auf seinen heimischen Akzent hingewiesen hatte. Er sprach wie ein Engländer, wie ein Londoner City-Mann.

Rutlands klare, kluge, einsichtsvolle Rede fand den lebhaften Beifall der Versammlung.

Seine Ruhe und Sicherheit übertölpelte Jerram. Wenn es wirklich Paterson war, mußte er doch auch ihn erkannt haben. Und diese Begegnung sollte ihn so kalt lassen? Konnte ein Mensch sich so fabelhaft beherrschen? Er wurde sehr irre an seinen berühmt guten Seemannsaugen. Und dann! Wie sollte dieser Mensch, der damals beim Untergang seines Torpedobootes angeblich ums Leben gekommen war, heute als Chef von Killicks & Ewarts, als englischer Edelmann und eins der angesehensten und einflußreichsten Mitglieder der britischen Delegation auferstehen! Ihn narrte eine zufällige, freilich verblüffende Ähnlichkeit.

Er blickte wieder zu ihm hinüber. Seine Augen riefen: »Ja, ja, er ist es! Die Natur schafft nicht zwei ganz gleiche Exemplare eines Menschen. Er ist es!« Doch seine Vernunft redete dazwischen und murrte: »Unsinn. Wie kann er es sein! Mach dich nicht lächerlich!«

Kapitän Jerram war nicht der Mann, so leicht etwas loszulassen, in das er sich einmal verbissen hatte. Er war eine Bulldoggennatur und dafür in der Marine bekannt. Ein Mann von stählerner Energie. Trotz aller Warnung seiner Intelligenz konnte er sich von dem Verdachte, der ihn gepackt hatte, nicht befreien.

In der Verwirrung seines sachlichen Gehirns vertraute er sich Evan Thomas an, dem Vizeadmiral, dem einzigen Mitglied der amerikanischen Delegation, mit dem er seit längerer Zeit befreundet war.

Am Nachmittag suchte er ihn in seinem Hotelzimmer auf.

»Verzeihen Sie, lieber Thomas«, begann er gequält, »wenn ich Ihre Siesta störe. Mir ist etwas fast Unglaubliches zugestoßen. Ich weiß mir keinen Rat.«

»Schießen Sie los!« forderte Evan Thomas, ein schöner, breitschultriger Mann, der Beau der USA.-Marine, ihn entgegenkommend auf und stopfte friedlich seine Pfeife.

»Halten Sie mich nicht für verrückt —«

»Dazu habe ich noch nie Veranlassung gehabt, lieber Jerram«, scherzte Thomas und strich das Streichholz burschikos am Hosenboden in Brand.

»Um es kurz zu sagen, Thomas«, er machte doch wieder eine beklommene Pause.

Evan Thomas paffte eine erste versuchende Wolke und sah seinen Besuch verwundert an.

Jerram trieb sich gewaltsam vorwärts: »Ich halte das Mitglied der britischen Abordnung – Sir John Rutland – für den Mörder meines Bruders!« platzte er heraus …

Evan Thomas war ein Mann, von dem der Flottenjargon berichtete, daß ihn nichts aus seinem Gleichgewicht werfen könne. Aber bei dieser Eröffnung machte er einen kleinen Hechtsprung, so hob ihn die Überraschung.

»Mann Gottes!« flüsterte er, »die Luft hier bekommt Ihnen nicht!«

Jetzt, da es einmal heraus war, fühlte Jerram sich auf großer Fahrt. Als hätte er durch ein Gewirr von Ewern und Schleppern seinen Kreuzer endlich aus dem Hafen in die weite See hinausgesteuert. Jetzt ging er drauf los.

»Ich sagte Ihnen im vorhinein, Thomas, Sie sollen mich nicht für verrückt halten. Ich weiß, was ich da behaupte, klingt absurd – unmöglich. Aber ich sage Ihnen, er ist es.«

Im Eifer vergaß er seine eigenen, bleiernen Bedenken.

»Eine solche zufällige Ähnlichkeit erscheint mir ausgeschlossen. Ich kannte doch Paterson, wie ich meinen armen Bruder Stephen kannte. Wir waren —«

»Ruhe mal!« kommandierte der Admiral. »Verlangen Sie wirklich, Jerram, daß ich diese – Sache ernsthaft mit Ihnen verhandle?«

»Jawohl, Herr Admiral«, sagte Jerram plötzlich stramm und militärisch.

»Um Himmels willen, Jerram«, mäßigte Thomas und strich mit der kurzen Pfeife in der Luft umher, daß ein leichter, dünner Rauchfaden ihren Weg zeichnete, »wir wollen die Sache nicht dienstlich behandeln. Um alles in der Welt nicht! Ich begreife nicht. Sie sind doch sonst ein solch kühler, klarer Kopf. Wie kommen Sie zu dieser – unsinnigen – Vermutung?«

Er warf sich in einen Sessel und sog erregt an der Pfeife. Sie war erloschen. Während er ein Zündholz aus der Tasche kramte, blickte er mißmutig zu dem stehenden langen Kapitän auf.

»Er gleicht Paterson auf ein Haar«, entgegnete Jerram mürrisch und vertrotzt. »Jede Linie seines Gesichtes, seine Augen, seine Haltung, seine Stimme —«

»Seit wann haben Sie Paterson nicht gesehen?« unterbrach der Admiral.

Jerram überlegte. »Seit neunzehnhundertachtzehn«, erwiderte er.

»Also volle zehn Jahre. Und da wollen Sie ihn so auf Anhieb wiedererkennen?«

»Ja.« Thomas stand langsam auf und ging breitbeinig, mit schaukelndem Seemannsgange durch das Hotelzimmer. Die Pfeife zwischen die Zähne geklemmt, begann er nach einer Weile:

»Soweit ich mich der Angelegenheit entsinne, kam dieser Paterson, der Ihren Bruder erschoß, auf seinem Torpedoboote um?«

»Das nahm man bisher an.«

»Und Sie wollen nun behaupten, dieser Sir John Rutland, Chef von Killick & Ewarts, englischer Edelmann – kommender Minister —« Er lachte mit tiefem Basse auf. »Nehmen Sie es mir nicht übel, Jerram, die Sache ist mir ein bißchen zu phantastisch. Ich bin über die Zeit der bunten Fünf-Cent-Hefte hinaus. Ich glaube nicht mehr an Kolportageromane.«

 

Er blickte den Kapitän voll Humor an.

Jerram blieb steif und ernst.

»Ich schätze diese Lektüre auch nicht sonderlich«, bemerkte er trocken. »Ich weiß aber, daß im Leben die seltsamsten Dinge sich zutragen. Meinen Augen glaube ich. Und ich halte es für meine Pflicht, wenn die mir sagen: Da hast du den Mörder deines armen Bruders vor dir, diese Augen nicht einfach zuzukneifen.«

Thomas spürte die Verärgerung des Mannes. Ohne Heiterkeit und Spott fragte er: »Dann – sagen Sie mir eins, lieber Jerram: Wie stellen Sie sich den Hergang eigentlich vor? Wie soll der amerikanische Oberleutnant zur See Paterson sich in den großen Engländer Sir John Rutland verwandelt haben? Übrigens —« Ihm kam eine andere Idee. »Sie haben, wie wir alle, doch in letzter Zeit viele Bilder von diesem Rutland gesehen?«

Jerram nickte.

»Wieso ist Ihnen da die Ähnlichkeit, wenn Sie wirklich so überwältigend und überzeugend ist, nicht aufgefallen? Hm?!«

»Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich, weil derartige Reproduktionen von Photographien immer etwas leb- und farblos sind.«

»Mag sein. Schön. Laß ich gelten. Aber, bester Jerram, das ist doch wirklich eine phantastische Räubergeschichte, daß der Mann, der nach allen Nachrichten mit dem ›Z.6‹ unterging, auf abenteuerliche Art gerettet wurde und es nun zu einem hohen englischen Bonzen gebracht hat. Hand aufs Herz, Jerram, glauben Sie das? Bloß wegen dieser scheinbaren Ähnlichkeit?«

Jerram blieb verbohrt und verbissen.

»Also«, schloß Evan Thomas die Debatte, »schlagen Sie sich die Sache aus dem Sinn.«

»Ich werde ihn weiter beobachten«, beharrte der Kapitän.

Da trat Thomas dicht an den hageren, hartnäckigen Mann heran. »Jerram, ich warne Sie, schaffen Sie uns keine Ungelegenheiten. Sie spielen da ein verdammt närrisches und gefährliches Spiel mit unserer aller Karriere. Auf eine Vermutung hin.«

»Es ist mehr!«

»Also auf eine scheinbare Ähnlichkeit hin, auf Ihren doch immer nur höchst persönlichen und subjektiven Eindruck von dieser Ähnlichkeit mit einem Manne, den Sie zehn Jahre nicht gesehen haben, wollen Sie einen internationalen Skandal anzetteln! Sie sind ja übergeschnappt! Nehmen Sie es mir nicht übel, Jerram. Ja, selbst wenn er es wäre, wenn Sie faustdicke Beweise in den Händen hätten —, so klar wie diese Hundstagssonne da draußen« – er stach mit dem Pfeifenstiel gegen das Fenster —, »müßten wir das Maul halten.«

»Ich würde es dann nicht halten!« stieß Jerram verdrossen hervor.

»So!« Der Admiral sah den bockigen Don Quichotte betroffen an.

»Nein, Thomas. Wenn ich die Gewißheit hätte, daß dieser Sir John Rutland der Mörder Paterson ist, bei Gott, ich würde ihn nicht entschlüpfen lassen.«

»So – so«, wiederholte Evan Thomas überlegend.

»So wahr ich Jerram heiße, nicht. Ich habe meinen Bruder mehr geliebt als Sie vielleicht verstehen können. Wir hatten nichts als uns. Die Eltern waren lange tot. Und wenn ich den Burschen fassen könnte, der hergegangen ist und ihn aus unbegründeter Eifersucht wie einen räudigen Hund niedergeknallt hat —« Der dürre Mann zitterte wie eine kahle Pappel im Sturme. »Nein, Thomas, Auge um Auge, Zahn um Zahn —.«

»Dummheit um Dummheit!« fiel Evan Thomas heftig ein. »Lassen Sie die Bibelsprüche! Und vor allem – jetzt spreche ich als Ihr Vorgesetzter – lassen Sie Ihre werten Finger aus dieser Sache. Wir sind hier in Genf, um über die Flottenabrüstung zu beraten und nicht, um uns kindlichen Sherlock-Holmes-Spielen hinzugeben. Ich rate Ihnen gut. Lassen Sie diesen Unfug, der den Vereinigten Staaten nichts als internationale Verwicklungen, eine diplomatische Niederlage sondergleichen vor der ganzen Welt und uns persönliche schmähliche Abberufung einbringen kann.«

Jerram grüßte dienstlich und ging zur Tür.

Da rief Thomas: »Jerram, so wollen wir nicht auseinandergehen. Wir sind alte Freunde. Seien Sie vernünftig. Und nun versprechen Sie mir, die Sache ruhen zu lassen.«

Jerram wandte sich um. »Ich begreife Ihre Bedenken durchaus und sehe selbst ein, daß hier in Genf nichts zu machen ist. Ich verspreche Ihnen, hier nichts zu unternehmen. Aber, Thomas, es gibt auch persönliche Pflichten über den Dienst hinaus. Solche habe ich gegen die unsterbliche Seele meines armen Bruders, die auf mich herniedersieht. Ich werde diese Pflichten erfüllen – später.«

»Das steht in Ihrem Belieben«, sagte der Admiral kühl. »Dann werden Sie eben Ihre Haut und Ihre Karriere zu Markt tragen. Mich interessiert nur, daß hier in Genf keine unübersehbaren Verwicklungen und Beleidigungen der englischen Regierung entstehen. Dafür habe ich Ihr Wort?«

»Jawohl!«

»Danke!« Er nickte. Jerram ging. Der Admiral drehte sich gelenkig auf dem Absatz um, trat zum Tisch, klopfte die Pfeife aus und knurrte zwischen den Zähnen: »Solch ein hahnebüchener Blödsinn!«

Jerram ging in sein Zimmer. Er war fest entschlossen, diesen gemeinen Mörder seines unglücklichen, unschuldigen Bruders ans Messer zu liefern —, wenn er es war. Vorläufig aber blieb ihm nichts übrig, als Sir John weiter zu beobachten. Er hatte hierzu in den Sitzungen und geselligen Zusammenkünften der Delegationen reichlich Gelegenheit und wurde seiner Sache immer gewisser.

Solche Zwillingslaunen hatte die Natur nicht. Sie schuf in Wahrheit keine Doppelgänger. Die waren Ausgeburten der Schriftsteller. Der kleine Schnurrbart änderte das Gesicht ein wenig. Gewiß. Aber wenn man ihn sich fortdachte – — —.

Rutland hatte Jerram fast vergessen. Er war in fast alle Ausschüsse gewählt worden, die man gebildet hatte, und arbeitete mit Hingabe und seiner charakteristischen Einsetzung aller Kraft. Die Idee der allgemeinen Abrüstung und Befriedigung der Welt begeisterte ihn. Er war stolz darauf, bei diesem großen pazifistischen Werke mitzuwirken. Geschäftliche Interessen lähmten seinen Eifer nicht. Er hatte schon in den letzten Jahren begonnen, sein Werk allmählich auf Friedensarbeit umzustellen. Ungeheure Aufträge aller Nationen zum Bau von Handelsschiffen, von Verkehrsflugzeugen lagen in den Londoner Büros. So war er, der Chef der gewaltigsten und furchtbarsten Kriegsrüstungsfabrik der Welt, der glühendste und unermüdlichste Verfechter der heiligen Idee der Völkerverbrüderung.

Tagelang hatte Jerram sich in unfruchtbaren Grübeleien verzehrt, in jener pedantischen Gewissenhaftigkeit, die ihn bei Erfüllung aller seiner Pflichten trieb und drängte und ihm nie gestattet hatte, ein Lot Fett an seinen langen Knochen anzusetzen.

Da kam ihm eine Erleuchtung.

Er erhielt einen Brief von Robert Hay aus Luzern. Hay genoß seinen Sommerurlaub in Europa und lud Jerram ein, nach Beendigung der Konferenz einige Tage mit ihm zu verbummeln und »einige Berge dieses admirablen Landes unsicher zu machen«.

Sein Brief entzündete in Jerrams Hirn eine Fackel der Erkenntnis. Bob Hay war mit ihnen in der Kadettenschule von West Point und später wiederholt mit Paterson auf Kommando gewesen. Das war sein Mann! Auch stand Hay jetzt nicht mehr im Dienst der Flotte. Er hatte längst seinen Abschied genommen und war leitender Direktor einer großen amerikanischen Werft. Er war frei und konnte handeln. Nicht hier in Genf, das ging gegen den Befehl, aber später. Auch war Bob Hay immer ein findiger Kopf gewesen und würde wissen, was in dieser verschrobenen Lage zu geschehen hatte.

Vor allem aber – und darauf kam es Jerram in erster Linie an – sollte Hay diesen Mann sehen. Vier Augen sahen mehr als zwei. Er wollte Hay unvorbereitet mit diesem »Sir John« zusammenführen. Das konnte ihm kein Befehl aller Admiräle der USA.-Flotte verbieten! Und dann wollte er doch mal sehen, ob Bobby in die Luft ging oder nicht. Er wollte doch mal feststellen, ob seine Vermutung eine – wie hatte Evan Thomas mit kaum verhehlter Ironie gesagt? —, eine phantastische Räubergeschichte war.