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Zwölftes Kapitel

Man schildert die Dinge viel lieber, wie man sie wünscht, als wie sie in Wirklichkeit sind.

Man macht damit sich und andern Freude.

So hatte Lieschen in allen Briefen an ihre Kinder die Annehmlichkeit ihres Badeaufenthaltes, die Behaglichkeit und Stille des ländlichen Lebens gerühmt. Und stets aufs neue von den Fortschritten ihrer Gesundheit zu berichten gewußt.

Sie hatte im Eifer ihrer Mutterliebe nicht bedacht, daß die Wahrheit immer an den Tag kommt.

Als sie blaß und noch um vieles schmaler als vor ihrer Abreise aus dem Wagenfenster winkte, half auch ihr glückliches, gütiges Lächeln nicht, die Wirklichkeit zu vertuschen.

So sehr sich alle über Spreemanns Aussehen freuten – man sah ihm an, wie gut ihm die Luft der Salinen, ja selbst die gesunde Langeweile bekommen waren – so sehr erschrak man über Mutter Lieschens Leichtheit und Blässe.

Hans, der sie aus dem Wagen gehoben hatte, sagte den andern, als man allein war und seine schmerzlichen Besorgnisse austauschte, daß er sie kaum im Arm gefühlt habe. Wie ein Wölkchen wäre sie gewesen.

Annalise schluchzte. Ilka trommelte gegen die Fensterscheiben.

Christian saß schwer, wie an seinen Stuhl geleimt, mitten im Zimmer.

Spreemann sah unruhig von einem zum andern.

»Was habt ihr denn?« fragte er. »Die Mutter ist ein wenig müde von der Reise. Das ist alles. Ich bin doch jeden Tag um sie gewesen.«

»Eben darum,« sagte Hans. »Da verliert man den Blick dafür.«

Er war in bitterer Erregung. Er hatte immer gefürchtet, daß von irgendwoher noch eine Vergeltung kommen würde. Die ganze Zeit hatte er geahnt, daß die Mutter alles wisse, daß dieses Geheimnis sie aufzehre.

Von Unruhe getrieben, verließ er das Zimmer.

Leise klinkte er die Tür des Schlafzimmers auf, wo sich Lieschen niedergelegt hatte, um von der langen Reise auszuruhen.

»Hast du gerufen, Mutter?« fragte er verlegen.

»Nein,« antwortete Lieschen. »Aber setz dich nur zu mir, mein Junge.«

Behutsam ließ er sich auf dem Stuhl an ihrem Bette nieder.

Er mußte wieder an jenen Kinderstreich mit der Himbeerflasche denken. An jenen Abend, wo er sich weinend vor Scham und Reue im Bette herumgewälzt, bis sich die Mutter an sein Bett gesetzt hatte und alles wieder gut geworden war.

»Woran denkst du?« fragte Lieschen.

»An ein Unrecht, das ich begangen,« sagte er zögernd.

Und nach einer beklemmenden Pause begann er seine Kindererinnerungen zu erzählen.

Lieschen unterbrach ihn. Sie faßte seine Hand.

»Laß das,« flüsterte sie. »Ich weiß, was dich grämt. Schüttle es nun ab. Keiner wird gescheit geboren. Du wirst dafür künftig doppelt vorsichtig und verständig sein. Den Müllerleuten ist ja kein Leid geschehn. Ihr werdet es bald wieder erarbeitet haben und alles zurückgeben. Das mußt du mir versprechen.«

Hans kniete vor dem Bette nieder und bedeckte die feuchte, heiße Hand mit Küssen.

»Weiß Gott, das werden wir,« schwor er.

»Aber, Mutter – woher weißt du alles?«

Lieschen lächelte.

»Ihr seid doch mein eigen Fleisch und Blut,« sagte sie. Und ihr Lächeln vertiefte sich.

Hans saß noch eine Weile stumm neben dem Bett. Dann ging er leise hinaus.

Die Mutter schien zu schlummern . . .

Hans hatte gehofft, daß diese geheime Unterredung die Mutter ebenso stärken würde wie ihn selbst.

Wirklich sah es auch zuerst so aus.

Lieschen war am andern Morgen aufgestanden und hatte am Vormittag der kleinen Paula und am Nachmittag dem kleinen Otto die hübschen Spielsachen gebracht, die sie auf der Reise für sie eingekauft hatte.

Sie hatte die Tage darauf alles, was im Koffer und in der Fremde gewesen, aufgefrischt und ordentlich wieder dem Haushalt eingereiht, die Teppiche wieder aufrollen, die verhüllten Lampen und Vasen wieder auswickeln und behutsam reinigen lassen.

Aber als sie die Gewißheit hatte, daß in der ganzen Wohnung kein Staubkörnchen lag, waren ihre Kräfte zu Ende.

Sie mußte sich niederlegen. Nur für einige Tage. Um dann wieder um so kräftiger zu sein.

Ehe Spreemann ins Geschäft fuhr und, mit der Uhr in der Hand die Pferdebahn erwartend, an ihrem Bett stand, sagte er jedesmal, daß es sehr vernünftig von ihr sei, auch heute im Bett zu bleiben. Draußen versäume sie nichts. Es wäre das richtige Herbstwetter.

Jeder, der Lieschen besuchen kam, klagte über dieses naßkalte Wetter.

Lieschen dachte es sich nicht so schlimm. Es gab doch Regenschirme und Gummischuhe, und alle Straßen waren jetzt gut gepflastert.

Sich bewegen zu können und frische Luft zu atmen war wohl kein Unglück.

Aber sie wollte die andern nicht kränken und bedauerte sie alle, ermahnte jeden, vorsichtig zu sein und weder Gummischuhe, noch Wollzeug zu vergessen.

Alle Kinder zeigten Liebe und Herzlichkeit. Sie kamen täglich, und nie mit leeren Händen.

Jeder brachte ihr, was er selbst am liebsten aß.

»Beraubt euch doch nicht meinetwegen,« sagte Lieschen sanft. »Ich habe jetzt gar keinen Appetit. Bis ich wieder gesund bin, sind die Sachen verdorben.«

Und sie wickelte den Kaviar, den ihr Ilka brachte, für Annalise ein, und das Weingelee von Annalise für Ilka. Sie ließ die Gänseleberpastete, die ihr Hans brachte, für Spreemann auf den Abendbrottisch stellen und den Aal in Gelee, den Christian geschickt hatte, in der Speisekammer verwahren.

Der Arzt kam jeden zweiten Tag.

Heute sagte er, daß Lieschen gar nichts fehle, und übermorgen, daß ihr Befinden bedeutend gebessert sei.

Angenehmen Worten geht man nicht unnütz auf den Grund. Lieschen glaubte ihm und fühlte sich nach jedem seiner Besuche eine Zeitlang munterer.

Die ganze Familie schwor auf seine Tüchtigkeit.

Als er wieder einmal versichert hatte, daß Lieschen gar nichts fehle, hatte sie ihn gefragt, ob sie bald aufstehen dürfe. Weihnachten rücke nun näher, und sie liebte es, ihre Einkäufe mit Ruhe und Überlegung zu machen.

Der Arzt sagte, daß sie noch ein wenig Geduld haben solle.

Lieschen fragte, ob ihr auch wirklich nichts Ernsthaftes fehle, und fügte gleich selbst zur Beschwichtigung dieser Frage hinzu, daß sie doch diese Atembeschwerden seit Jahren habe und es trotzdem immer weiter gegangen wäre.

Der Arzt sagte, daß sie mit diesen kleinen Beschwerden in aller Bequemlichkeit achtzig Jahre alt werden könne.

»Achtzig,« wiederholte Lieschen. »Nicht neunzig?«

Der Arzt runzelte die Stirn über diesen neuen Einwand und sagte, daß er auch gegen neunzig nichts einzuwenden habe.

Wie ungenügsam sich selbst die Bescheidensten in gewissen Fällen erweisen.

Lieschen, die ihn beobachtet hatte, fürchtete, seinen Mißmut erregt zu haben. Sie sagte, daß der Herr Doktor sie nicht für besonders vergnügungssüchtig halten solle. Es wäre nur ein wenig Neugierde. Es gab so vieles, was man noch gern hätte sehen mögen. Zum Beispiel die neue Stadtbahn, die sie da zu bauen begonnen. Rund herum um Berlin. Wie ein Karussell für Erwachsene. Und dann, wenn der kleine Otto das erstemal zur Schule gehen würde, wenn man die kleine Paula am Ende gar noch als Braut sehen könnte und . . .

Sie hörte auf.

Beinahe hätte sie die Pläne der Söhne verraten.

Wenn der Doktor hätte hören können, was alles hier im Zimmer gesprochen wurde, wie man Spreemann & Co. nach und nach zu vergrößern dachte, ein Glaspalast, ein Märchenschloß voll Waren und Lichter, er würde sich auch wünschen, das alles noch zu erleben.

Aber sie erinnerte sich zu rechter Zeit, daß alles auf das Geschäft Bezügliche Geheimnis sein mußte. Das hatte sie schon als Mamsell bei Spreemann gelernt.

So brach sie ab und sagte:

»Ich langweile Sie gewiß, Herr Doktor.«

Und fügte in ihrer höflichen Bescheidenheit hinzu, daß er ganz recht habe und sie sich gewiß auch mit Achtzig begnügen könne.

Der Arzt, der inzwischen die altmodische Einrichtung des Schlafzimmers gemustert und sich überlegt hatte, wie einfach früher die reichen Leute gewesen, stand nun auf und sagte freundlich, daß die Hauptsache Geduld und Mut sei. Auch ein Arzt sei kein Zauberer. Der Patient selber müßte zu seiner Besserung beitragen.

Das wollte Lieschen gern. Wenn sie nur gewußt hätte, wie man das anstellte.

Aber es gibt eine Macht, die sich durch keine schönen Worte, durch keine Schmeichelei und keine Verstellung beirren läßt.

Eines Morgens war Lieschens matte Lebensflamme verlöscht, ohne daß sie es selbst gemerkt hatte.

»Es ist nicht möglich,« sagte Spreemann.

»Es ist nicht möglich,« wiederholten seine Kinder.

»Die reiche Frau Spreemann,« sagten die Nachbarn, die alten am Dönhoffsplatz und die neuen um den Kastanienbaum. »Sie hatte Glück, sie hat ein leichtes, sorgloses Leben gehabt.«

Dasselbe sagte auch ihr Leichenstein.

Dieser prunkvolle Obelisk, der schwarz und schwer auf dem Grabe des kleinen Waisenmädchens stand.

Alles was Lieschen im Leben gewesen, war mit deutlichen goldenen Buchstaben auf dem großen Stein vermerkt und für jeden lesbar.

Alle diese Steine auf weitem Felde erzählen eine liebevolle Geschichte.

Aber mancher ahnt, daß trotz der schönen und erklärenden Worte in jedem Grab ein Geheimnis ruht.

Dreizehntes Kapitel

Am ratlosesten war Spreemann.

Er hatte sein ganzes Leben hindurch erfahren, daß nichts so schlimm verlief, wie es vorher aussah.

Diesmal hatte ihn diese Erfahrung betrogen.

Er war wie vor den Kopf geschlagen. Er konnte nicht schlafen, nicht essen.

Gewiß, er hatte stets ein wenig gebrummt, wenn ihn Lieschen durch ihre Hustenanfälle weckte und er aufstehen mußte, um ihr die Medizin zu reichen.

Aber nun konnte er gar nicht mehr schlafen, weil ihn Lieschen gar nicht mehr störte.

Am Morgen kam er niemals zurecht mit dem Frühstück. Nur Lieschen hatte verstanden, die richtige Mischung von Milch und Kaffee zu finden.

 

Seine Krawatte saß schief, weil Lieschens Hand fehlte, die sie zugleich mit dem Morgengruß auf den richtigen Platz gerückt hatte.

Zu einer Ehe gehören eben zwei.

Am leichtesten ertragbar schien Spreemann dieses grausame Geschick im Geschäft.

Da gab es immer etwas Neues, Vorwärtsdrängendes.

Seine Söhne hatten recht, wenn sie sagten, daß sie ihn noch nötig hätten, daß er sich zusammennehmen müsse.

Ihretwegen wollte er sich zusammenraffen.

Das Leben liebt die Lebenden. Es hält sie wohlweislich so straff im Zaum, daß sie nicht weit und nicht lange zurückblicken können.

Vorwärts heißt es, solange nicht für ewig haltgemacht wird.

Auch Ilka und Annalise hätten Lieschens eigensten Wünschen entgegengehandelt, wenn sie nichts andres getan hätten als geweint und getrauert. Sie sollten wieder Mütter werden, und ganz als ob Lieschens auf Gerechtigkeit gerichteter Sinn weitergewirkt hätte, bekam nun Ilka einen Knaben und Annalise eine Tochter.

In Lieschens Schreibtisch hatten sich in einem sauber geschriebenen Heftchen die Rezepte für den Lakritzensaft und den Fenchelsyrup gefunden.

So ging es auch ohne sie.

Die Kinder gediehen. Der kleine Otto kam in die Schule, und die kleine Paula lernte sogar schon tanzen.

Kinder und Greise sind einsam.

Am Sonntag, wenn um den Kaffeetisch seiner Söhne neumodische Gäste saßen, spielte Spreemann mit seinen Enkeln im Kinderzimmer.

Er bewunderte ihre feinen Kleider und Röcke, dachte an seine ferne Kindheit und war doppelt stolz über das Heute.

Er fragte den kleinen Otto, ob er sich noch auf die Großmama besinne.

Dieser sagte: Nein, schwang sich auf sein Schaukelpferd, oder blies in die Trompete.

Die kleine Paula aber nickte auf eine solche Frage und sagte: Gute Frau.

Aber es ist sehr möglich, daß dahinter nichts weiter steckte als weibliche Schlauheit; denn auf diese Antwort gab es immer einen Bonbon.

Jeden Sommer fuhr Spreemann nach Nauheim, obwohl immer noch Klappe und Muskel in Ordnung waren und der vergnügteste Augenblick seiner Reise auch jetzt noch der war, wenn er sein Berlin wiedersah. Das ihm dann auch jedes Jahr einige Meilen weiter entgegenkam.

Aber er ging gern in den Salinen auf und ab, deren Luft seinem Lieschen einmal das Atmen erleichtert hatte.

Den Herrn Geheimrat aus Frankfurt hatte er nie wiedergesehen.

Aber es kamen jedes Jahr mehr Berliner in diesen Badeort. Entweder, weil Berlin nicht mehr so gesund war, oder weil es jetzt mehr Berliner als früher gab.

Beides war möglich. Denn nun zählte man die Einwohner der Spreestadt nicht mehr nach Tausenden, sondern nach Hunderttausenden.

Berlin war eine Millionenstadt geworden.

Aber Wahrheit war auch, daß man viele neue Krankheiten erfunden hatte.

Spreemann sagte oft genug zu Hans und Ilka, in deren Familie immer ein Arzt irgend etwas zu tun hatte:

»Ich weiß nicht, was ihr jungen Leute immer zu medizinieren habt. Zu meiner Zeit ließ man sich einmal die Woche die Hühneraugen schneiden, nahm vielleicht mal nach einem besonders guten Essen ein bißchen Natron, man hörte, daß sich dieser oder jener mal einen Zahn ziehen ließ. Das war aber auch alles.«

Am meisten ärgerte er sich über die Erfindung der Nervosität.

»War mein Lieschen nervös? Oder Tante Karoline?« sagte er, wenn es bei seinen Schwiegertöchtern nach Eau de Cologne roch und weder er noch die Kinder in die Vorderzimmer gelassen wurden.

Was man früher Ungeduld oder Jähzorn nannte, wurde jetzt vornehm als Nervosität bezeichnet. Mit Tropfen und Pillen behandelt, als ob dergleichen aus der Welt zu schaffen sei.

Nein, alles konnte Spreemann nicht mehr schön finden in seinem Berlin.

Wenn er sich auch äußerlich beherrschte und nichts sagte.

Bis zu dem Tage, wo das erste Automobil um den Dönhoffsplatz gerattert kam.

Wenn er auch davon überzeugt war, daß diese Wagen, die ohne Hott und Brr fuhren und die Luft noch verpesteten, nachdem sie gar nicht mehr da waren, immer eine Seltenheit bleiben würden in einer so anständigen Stadt wie Berlin, so konnte er seinen Abscheu davor doch nicht verbergen. Sein Zorn äußerte sich laut.

War es nicht genug, daß eine Eisenbahn um die Stadt rollte?

Wie vorsichtig war Lieschen stets mit dem Benzin umgegangen. Einen ganzen Tag lang hatte ein Gegenstand, der damit behandelt worden war, am Fenster und in den späteren Jahren sogar auf dem Balkon oder im Garten lüften müssen.

Jetzt aber wagte man, Unter den Linden und sogar vor den Königlichen Schlössern nach Benzin zu stinken.

Wenigstens hatte er die Freude, an jedem Morgen in der Zeitung einen Unglücksfall zu finden, den diese neuen, abscheulichen Fahrzeuge verursacht hatten.

»Man wird nicht eher ruhen, bis man alle Berliner, diese ganze neue Million, wieder totgefahren haben wird,« sagte er wütend zu Hans und Christian und schlug mit der Faust auf die Zeitung.

Die Söhne antworteten freundlich und nachsichtig, so daß es aussah, als gäben sie ihm recht. Sie wandten gegen sein Gebrumm und Geknurr schon lange einen sanften, gutmütigen Ton an, den sie an der Wiege ihrer Kinder gelernt hatten. Der der Jugend gegenüber: Nachsicht heißt. Und dem Alter gegenüber: Pietät genannt wird.

So vergingen Spreemann Tage und Jahre zwischen unschädlichem Ärger und gesunder Zufriedenheit. Unbehindert reihten sie sich aneinander.

Und wie man oft im Eifer des Lebens das Fliehen des Sommers nicht früher bemerkt, als wenn schon alles kahl und leer ist, spürte auch Spreemann nicht, wie ihm die Zügel des Geschäfts immer weniger straff zwischen den Fingern hingen.

Er war immer noch des Morgens der erste am Platz. Würdevoll ging er von Lager zu Lager, wo sich das Personal tief vor dem greisen Chef verbeugte.

Er fühlte auf Schritt und Tritt, daß man es zu etwas gebracht hatte.

Besonders bei Hans und Ilka sah es wie bei ganz feinen Leuten aus. Und Paulachen, deren erster Zahn einmal Großmutter Lieschens schönstes Weihnachtsgeschenk gewesen, sprach fünf Sprachen, sang zum Klavier und tanzte Walzer und Menuett.

Trotzdem war Spreemann sprachlos, als ihm Hans eines Morgens im Privatkontor mitteilte, daß ein Graf von Brocken-Brinkdorf um Paulachens Hand geworben.

»Der Mann will uns zum Narren halten,« sagte er nach einer Weile des Schweigens mißtrauisch und schüttelte den alten, grauen Kopf, der, wenn er einmal zu schütteln angefangen, stets eine ganze Zeitlang weiter zitterte, wie ein Baumwipfel, an dem der Abendwind rüttelt.

Erst als ihm Hans auseinandergesetzt hatte, daß dieser Graf allerdings ein ganz wirklicher Graf sei, denn auch das wollte der Alte nicht glauben und begreifen, der viele Ahnen, aber keinen Pfennig Vermögen habe, begann er die Angelegenheit wirklich ernst zu nehmen.

»Wir wollen ihn also ernähren, diesen Grafen,« sagte er bedächtig.

»Ich glaube, wir können uns das jetzt leisten, Papa,« sagte Hans stolz. »Eine solche Verwandtschaft kann uns in jeder Hinsicht nützlich sein. Ein Graf Brocken-Brinkdorf ist in Preußen noch nicht verloren. Er muß nur in die richtigen Hände kommen.«

Spreemann nickte immer noch mit dem Kopf.

»Wenn das deine Mutter erlebt hätte,« sagte er.

Und im geheimen dachte er auch an seinen Vater?

Aus Rücksicht auf den Grafen jedoch unterließ er es, ihn zu erwähnen.

Doch als der junge Graf einige Minuten später das Kontor betrat, um sich Bescheid zu holen, bemerkte Spreemann, daß diese Zurückhaltung nicht nötig gewesen wäre.

Der junge Mann schüttelte ihm herzlich die Hand und sagte, daß Paulachens Stammbaum auf der Landstraße anfinge und seiner bei den Raubrittern. Er sehe nicht viel Unterschied darin. Wir werden eine Finanzaristokratie gründen, sagte er, denn für die nächsten Jahre wird wohl die einzige Waffe das Geld sein.

Spreemann hatte die zitternde Hand am Ohr, um besser hören zu können, und sein Kopf nickte beständig Beifall.

Sein neuer Enkel schien ein ganz scharmanter und liebenswürdiger Mann zu sein. Ein heller Kopf.

Und er nickte noch lächelnd vor sich hin, lange nachdem sich der junge Mann, die Hacken zusammenschlagend, mit respektvoller Verbeugung vor ihm verabschiedet hatte.

Als Christian eine Weile darauf hineinkam, weil er beunruhigt war, daß der Vater gar nicht wieder aus dem Kontor herauskam, klopfte Spreemann ihm gütig auf die Schulter und sagte nachsichtig:

»Wir werden auch für deine Kleine einen Grafen suchen, wenn es so weit ist. Warte nur ab, mein Sohn.«

Christian wurde von der ganzen Familie ein wenig bemitleidet. Annalise war zu stark geworden und gab in den teuersten Toiletten keine gute Figur ab.

Sie war zu hausmütterlich und hinter den Zeitansprüchen zurückgeblieben.

Sie fragte, wenn sie eingeladen war, stets nach den Rezepten der ihr vorgesetzten Speisen. Sie machte jeden, mit dem sie bekannt wurde, mit den Verdauungsschwierigkeiten ihres Jüngsten vertraut.

Ilka sagte, daß man, sobald Christians Frau den Mund öffne, die Mühle in Schöneberg klappern höre.

Trotzdem diese längst verschwunden war und an ihrer Stelle ein vier Stock hohes Mietshaus stand.

Und obwohl es doch für alle einmal ganz gut gewesen, daß diese Mühle einmal geklappert hatte.

Aber der Mensch muß manches vergessen können.

Annalise jedoch brachte es fertig, zu Paulas Hochzeit die goldene Münzenkette umzulegen, die sie inzwischen von ihrer Mutter geerbt hatte.

Ilka glaubte vor Verlegenheit versinken zu müssen, als ihre starke Schwägerin mit der schweren Halskette auf der wogenden Brust in den Kreis der neuen Verwandten von Adel trat.

Zum Glück hatte Ilka damals bei ihres Vaters Bankrott die Porträtsammlung seiner Wirtschafterin retten können. Niemand hatte sie haben wollen. Ilka aber hatte sich gesagt, daß es immerhin Handzeichnungen waren, die man in besseren Kreisen höher schätzte als Öldrucke.

Sie hatte sie zuerst in die Rumpelkammer gestellt.

Aber als sie ihre Wohnung vergrößerten, viele kahle Wände zu schmücken bekamen und Mahagonirahmen merkwürdigerweise wieder Mode wurden, hatte sie die alten Bilder wieder hervorholen und abstauben lassen und in dem halbdunklen Zimmer, das den Speiseraum und Salon verband, aufhängen lassen.

Paulachens neue Verwandten, die gar nicht wußten, daß man ohne Ahnen leben konnte, so wie es viele gibt, die gar nicht ahnen, daß man Brot ohne Butter essen kann, hielten diese getreuen Abbilder der ungetreuen Mamsells für Paulachens weibliche Vorfahren.

Niemand widersprach ihnen.

Man ist nicht verpflichtet, seine Verwandten um eine Freude zu bringen.

Außerdem liegt in jedem Irrtum ein Körnchen Wahrheit.

Schlußkapitel

Es ist nie gut, wenn man den Kopf zu etwas zwingt, wovon das Herz nichts wissen will.

Ilka machte sich Vorwürfe, daß sie ihren alten Vater verhindert hatte, der Hochzeit seiner Enkeltochter beizuwohnen.

Sobald sich das junge gräfliche Paar auf die Hochzeitsreise begeben hatte und ihre neuen Verwandten auf ihre Stammsitze zurückgekehrt waren, schrieb Ilka daher dem alten Slovitzka, daß ihr der Besuch ihres lieben Vaters für die nächsten Wochen sehr willkommen sein würde.

Slovitzka hatte in einem seiner seltenen Briefe den Wunsch ausgesprochen, die Seinen und das veränderte Berlin noch einmal wiederzusehen.

Er nannte sich jetzt Direktor und stand in irgendeiner Beziehung zu der Schweineausfuhr an der ungarischen Grenze. Näheres über seine Tätigkeit oder sein Amt wußte niemand. Er schrieb nur dann und wann, daß seine Geschäfte ausgezeichnet ständen, nur im Augenblick ein wenig gehemmt wären, so daß ihm einige hundert Mark sehr gelegen kämen.

Ilka oder Hans hatten sich daran gewöhnt, stillschweigend seiner Bitte nachzukommen.

Und ebenso waren sie sich ohne viele Worte einig geworden, daß sich als die beste Zeit für den immer wieder verschobenen Besuch des Herrn Direktors diese Sommerwochen eignen würden, wo alle Bekannte auf Reisen waren.

Man selbst wollte diesmal erst im Herbst fortgehen, denn Spreemann & Co. sollte wieder eine große Erweiterung erfahren. Neue Baupläne lagen in dem Kontor und beschäftigten die Köpfe.

Auch Vater Spreemann hatte aus diesem Grunde seine Abreise nach Nauheim ein wenig verschoben.

So sollte Slovitzka doch wenigstens einige der Familienmitglieder wiederfinden.

Er hatte gegen die Einladung seiner Kinder nichts einzuwenden gehabt.

Bald nachdem man ihm das Reisegeld geschickt hatte, war er da.

Er hatte sich sehr verändert. Er sah kleiner aus, ging gebückt und zog den rechten Fuß nach.

 

Auch sein Schnurrbart versuchte nicht mehr die Zeit zu täuschen. Er hatte seinen schwarzen Glanz verloren und vergessen und schillerte unter der feuchten Nase des Alten in bescheidenem Graugrün.

Slovitzkas Rede hatte jetzt einen singenden, böhmischen Akzent, was Spreemann sehr gefiel. Er hielt sich also nicht mehr für einen Berliner, für den ihn niemand mehr ansehen würde.

Aber er saß nicht ungern mit dem Alten zusammen, der sich noch auf Lieschens Napfkuchen besann und ihn rühmte.

Man hatte überhaupt so manche gemeinsame Erinnerungen.

Daß man auch den gräflichen Enkelsohn teilte, war Spreemann weniger angenehm.

Slovitzka rühmte sich damit, obgleich ihn diese ganze Sache nicht einen Pfennig gekostet hatte. Er also nach Spreemanns Meinung wenig Berechtigung dazu hatte.

Slovitzka aber sagte, daß die heiligen Familienbande nicht nach Geld und Ehre fragen, und klopfte sich dabei beteuernd auf den schwarzen Rock, den er von Hans bald nach seiner Ankunft erhalten.

Spreemann, dem bei diesen Worten wieder der neue böhmische Anstrich in Slovitzkas Wesen auffiel, sagte, daß doch Slovitzka, obwohl er kein Berliner wäre, starr vor Staunen über die gewaltige Entwicklung Berlins sein müsse.

Slovitzka strich sich die graugrünen Bartbüschel zu Seiten der nassen Nasenflügel.

Endlich konnte er dem Hochmut des andern Großpapas ein wenig auf den Rücken klopfen.

Er nahm eine Prise und sagte, daß er in Berlin nicht begraben liegen möchte.

»Warum nicht?« rief Spreemann, der sich sofort ereiferte.

Worauf Slovitzka antwortete, daß ihm Berlin zu geräuschvoll geworden sei.

Nun entspann sich eine heftige Debatte zwischen den beiden alten Männern, wobei Slovitzka eine ganze Flasche Kirschsaft austrank, trotzdem er nach jedem Schlucke schwor, daß nur der böhmische Klosterlikör etwas tauge.

Der Likör war Spreemann gleichgültig.

Berlin hatte es nie darauf abgesehen, den besten Weltlikör herzustellen.

Obwohl anzunehmen war, daß, sobald der Wille dazu da wäre, auch dieses Ziel bald erreicht sein würde.

Aber was Berlin an Fortschritt, Vergrößerung und Selbstentwicklung vor sich gebracht hatte, wollte er von diesem Böhmen anerkannt wissen.

Slovitzka verglich, in der stumpfen Hartnäckigkeit, die ihm Alter und Likör gegeben, alles mit Böhmen, Ungarn und seinem jetzigen Berufe.

Er sagte, daß Berlin noch lange nicht so groß wäre wie Böhmen und die Einfuhr neuer Berliner im Vergleich zur Schweineausfuhr aus Ungarn überhaupt nichts bedeute.

Spreemann verbat sich jeden Vergleich zwischen Berlinern und ungarischen Schweinen und verteidigte seine Vaterstadt mit dem Stolz eines alten Soldaten der Bürgerwehr und mit dem Mut eines jungen Kriegers.

Als der Kirschlikör den Böhmen endlich ins Schwanken gebracht hatte, nahm er ihm das Versprechen ab, schon am nächsten Tage den Rathausturm zu besteigen. Von dort oben wollte er ihm das neue Berlin vor Augen führen.

Man muß das Nützliche mit dem Angenehmen zu verbinden wissen.

Diese Turmbesteigung war schon seit langer Zeit Spreemanns heftiger Wunsch.

Doch hatten ihn seine Söhne stets an der Ausführung seines Planes zu hindern gewußt. Der vielen Stufen halber.

Mit der großen Geheimnistuerei, die Greisen und Kindern alle Unternehmungen erst reizvoll macht, setzte Spreemann nun seinen Plan ins Werk.

Slovitzka mußte in einem Café Unter den Linden warten, bis ihn Spreemann abholte, um mit ihm in einer Droschke zum Rathaus zu fahren.

Als Slovitzka die Höhe des Turmes sah, erklärte er sich bereit, die Größe Berlins schon hier unten im vollkommensten Maße anzuerkennen.

Spreemann aber war für Ehrlichkeit.

»Nicht hier,« sagte er. »Warten wir ab, bis wir oben sind.«

Und vorsichtig begannen sie die steinernen Stufen emporzuhumpeln. Nach einer Weile machte Slovitzka halt.

Er verpustete sich und sagte, daß dieses Unternehmen nichts für alte Leute sei. Zumal nichts für Spreemann, der doch weit über die Achtzig wäre. Jedes Kind könne ihm das nachrechnen.

Spreemann erwiderte, daß achtzig Jahre noch kein Alter wären. Was sollten dann erst die Leute sagen, die mehr als neunzig hinter sich hätten?

Ohne Slovitzka eines Blickes zu würdigen stieg er weiter, die Hand fest am Geländer.

Slovitzka wollte auch nicht als Krüppel hingestellt werden. Ächzend hinkte er nach.

Als er endlich aus dem dunklen Treppengewinde ins Freie trat, stand Spreemann schon oben in Sonne und Sommerwind. Den Hut in der Rechten. Als habe er eben tief vor jemandem gegrüßt.

Er zeigte stumm über das Eisengitter ins Weite.

Alte Augen erkennen Fernes besser als Nahes.

Selbst die matten Augen des müden Trinkers starrten staunend auf das große Siegesfeld hartnäckiger Arbeit und eisernen Fleißes, das sich da unten ausbreitete.

Die alten, schwerhörig gewordenen Ohren spürten doch das Keuchen rastloser Mühsal, das dort über den endlosen Reihen der hohen Häuser, den langen Fensterreihen, den nicht zu zählenden Dächern atmete.

Hörten tausende arbeitende Hämmer zu einem Schlage zusammenklingen, zu dem gewaltigen Pulsschlag der Zeit.

Schienen, Fabriken, Bahnhöfe, Kirchen, Häuser und eiserne Brücken waren dort unentwirrbar durcheinander geworfen. Wie ein einziger, ungeheuer großer Schmiedeofen rauchte und fauchte alles zusammengekettet im sonnigen Mittagsdunst.

Spreemann hatte die Hand fest um das Eisengitter gekrampft.

Er hatte Slovitzka und den Grund seines Hierseins vergessen.

Ein alter Invalide, der alle drei Kriege mitgemacht hatte, erklärte mit zahnlosem Mund das bunte, lebendige Bild. Lächelnd und stolz, wie wenn er selbst alle die Häuser, Bauten und Plätze zu diesem hübschen Panorama zusammengestellt hätte.

Da war die Friedrichstraße, wo man in seiner Jugend noch Stachelbeeren naschen konnte. Das winzige Viereck dort war der Dönhoffsplatz. Der einmal Gänsemarkt gewesen und wo jetzt der Freiherr vom Stein in Bronze stand. Was dort rauchte, war die Stadtbahn, die deutlich die Linie bezeichnete, wo einstmals die Grenzmauern strotzten. Ringsum wo die vielen Schornsteine wie die Lanzen eines Soldatenheers in den Himmel stachen, hatten sich einmal überall Landstraßen durch die Felder gezogen.

Spreemann nickte beständig mit dem Kopf.

Er sah, was er geahnt und doch nicht gekannt hatte.

So sah sie also aus, die Stadt seiner Enkel.

Sie war ihm fremd, wie seine Enkel. Die er doch liebte, weil sie seine Enkel waren. Weil irgend etwas an ihnen ihm doch vertraut schien.

Seine Blicke suchten die grüne Zeile der Linden, und seine Augen gingen vom Brandenburger Tor zum Schloß . . .

Hätte Slovitzka nicht Durst bekommen, hätte er das Heruntersteigen ganz vergessen. So aber erhielt der Invalide endlich sein Trinkgeld, nachdem er noch auf einen Trupp Arbeiter aufmerksam gemacht hatte, die wie ein Schwarm Krähen auf einem Dach mit vielen Stangen und Drähten hockten.

Bedächtig begann man den Abstieg. Langsam kam man dem Erdboden näher und näher.

Bei einer der letzten Stufen stürzte Spreemann plötzlich.

»Hoppla,« sagte Slovitzka und drehte sich um. Beim Heruntersteigen war er der erste gewesen. Aber Spreemann stand nicht wieder auf. Auch auf Slovitzkas ängstliche Frage, ob ihm etwas fehle, ob er sich weh getan, antwortete er nichts. Man hob ihn auf.

Zufällig hielt das neue Automobil eines bekannten Bankiers vor dem Rathaus.

Spreemann wurde hineingehoben.

Aber ehe seine Wohnung erreicht war, hatte er zu atmen aufgehört.

Christian erfuhr den traurigen Vorfall zuerst.

Er hatte gerade zum Hut gegriffen, um davonzustürzen, als die Tür des Kontors aufgerissen wurde und Hans hineintrat. Er hatte eine Rolle in der Hand, schlug Christian damit auf die Schulter und rief lachend und sprudelnd schnell:

»Der Plan ist perfekt, Junge. Wir können morgen mit dem Neubau beginnen. Übrigens habe ich Papas Plan mit dem Garten mitten im Haus tatsächlich aufgegriffen. Die Sache ist gar nicht dumm, gar nicht unausführbar und wird die Konkurrenz schlagen. Irgendwo müßte da eine künstliche Nachtigall singen. Na, das ist wieder dein Feld, du Bastler.«

Jetzt gelang es Christian, den Frohen zu unterbrechen.

Er murmelte ihm dumpf das Vorgefallene zu.

Die Rolle flog auf den Schreibtisch.

Beide Brüder jagten in einer Droschke davon.

Die Frauen standen schon weinend um des Toten Bett.

Im Nebenhause spielte ein Leierkasten.

»Dieses Gedudel sollte endlich verboten werden,« dachte Hans, als er mit zitternder Hand die Tür des stillen Zimmers aufdrückte.

Ilka küßte Hans und Christian. Dann fuhr sie in die Stadt, um für alle Trauerkleider zu bestellen.