Der Regengott und andere Erzählungen

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Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Hoch fliegen diese Hubschrauber, die silbernen kleinen Flugzeuge vielleicht noch höher – die sind so klein, es dünkt einen ganz seltsam, dass darin Menschen sind. Aber auf dieser Linde, was ist das schon für eine Höhe? Wäre er jünger, er würde mit einem Satz hinunterspringen, aber jetzt gehorchen ihm seine alten Knochen nicht. Ach, der Wind, er bläst am Boden entlang und höher, in kleinen Wirbeln. Fast wie bei der Landung des Hubschraubers. Der Wind hüllt alle in ein blaues Frühlingsgewand, so etwas wie Nebel oder Hitzedunst. Alles vibriert und rotiert, und durch dieses Windesblau sieht er unten Prancisius’ Sohn lächeln und Malenija herumrennen. Wozu durch die Gegend laufen? Wozu die Aufregung – der Alte geht nun in sich, ruht sich ein wenig aus und wird schon irgendwie aus dieser Lebenssituation, aus der überraschenden Lage herausfinden, die mehr auf dem Alter als auf Zufall beruht. Nur keine Gaffer, bitte. Der Daniokas soll schneller nach Hause gehen. Was steht er denn überhaupt da? Mit wem unterhält er sich? Mit einem unbekannten jungen Mann im karierten Hemd mit hochgekrempelten Ärmeln. Vielleicht hatte er ihn auch schon gesehen, wer kann sich schon an alle erinnern: Die Kinder wachsen heran, werden zu Männern, beenden die Schule, kehren aus der Armee heim, wie sollte man sie auch alle kennen? Und dann sind da auch noch die vielen wer weiß woher Zugezogenen, früher musste man nicht einmal die Tür abschließen, aber man versuche das heute mal. Jetzt kann man den Menschen nicht mehr trauen, die haben doch alle ein wenig einen an der Birne, laufen alle dem Geld hinterher, jeder versucht jeden übers Ohr zu hauen. Danius und der Unbekannte lachen. Und die Kinder sitzen im Gras. Auch sie lachen. Worüber lachen sie wohl? Wahrscheinlich über ihn, den alten Laurinavičius, dass er wie ein Storch in seinem Nest hoch oben auf dem Baum sitzt. Es war dumm gewesen, die Klettereisen hinunterzuwerfen, aber die stören nur im Lindengeäst, die würden ihm jetzt nicht helfen, wie sollte er die auch hier oben festbinden, wie mit den Klettereisen aus dem Geäst herauskommen? Da sitzt er nun, der Laurinavičius, hoch oben, sieht sich um und fragt sich, wozu er überhaupt auf den Baum gestiegen ist. So ist nun einmal sein Charakter, er kennt ihn ja, lernt aber nie daraus, vergisst stets etwas mitzubedenken, bald das Alter, bald die Kräfte. Aber was wäre das auch für ein Leben, wenn man alles in Erwägung zöge und sich vor allem und jedem behütete, nur dasäße und Tee tränke und nichts unternähme. Da wäre man ja tot. Er hätte nur noch eine Wahl: sich auf die Bahre zu legen und den Pfarrer zu rufen. So sah Laurinavičius auch heute Mittag, als er sich so wegen seines getigerten Katers aufregte, zum Fenster hinaus, lief im Hof herum (der verdammte Kater ist bis jetzt nicht wieder aufgetaucht), denn er konnte nicht einfach nichts tun und dasitzen. Und auf dem Hof der Nachbarn waren weder Bäume zum Zersägen noch zersägte zu sehen. Alle hatten schon zu Beginn des Frühlings für die Wärme im Winter gesorgt. Man muss Laurinavičius nicht darum bitten, seine Säge mit den zwei Griffen in die Hand zu nehmen, für die Nachbarn sägt er gratis und franko Brennholz, einfach so, nur, um nicht Däumchen drehen zu müssen. Wenn er nicht wäre, würde der eine oder andere Faulpelz vielleicht die Stämme aus dem Wald ein halbes Jahr faulen lassen, jetzt aber kommt der Alte und zerschnippelt sie mit seiner Säge. Langsam, ganz langsam schmilzt der Haufen dahin. Der Holzbesitzer hält es nicht mehr aus und legt selbst Hand an, nicht immer ist er zufrieden, aber man kann doch keinen alten Mann anschreien. Oder dann sieht Laurinavičius jemanden beim Holzspalten. Dann geht er hin und erzählt ihm, wie man das Holz richtig und gut spaltet und dabei auch noch möglichst wenig Kraft braucht. Er muss lachen, wenn er sieht, wie die Jungen mit der Axt weit ausholen und zuschlagen, doch der Klotz will einfach nicht in zwei Teile zerspringen – wahrscheinlich sind ihre Kniehöhlen schon ganz verschwitzt, aber der Klotz ist noch immer nicht gespalten. Man braucht doch für alles Grips und nicht nur Muskeln – ziele genau auf die Mitte, ins Zentrum des Marks. Er weiß genau, was er rät: Stets von oben, nicht vom dickeren Teil spalten, und wenn jemand ein zu dickes Scheit auf den Haufen werfen will, weist er ihn zurecht – es braucht doch einen Aufpasser, heute ist es vielen völlig schnuppe, wie sie das Holz spalten, ob das Scheit gut brennt oder nicht, sie denken nicht darüber nach, es kümmert sie nicht. Der eine oder andere wird gar böse, aber Laurinavičius ist das ziemlich egal – er brachte ihnen nichts Schlimmes bei, gewöhnte sie nicht an den Schnaps, nur ans sorgfältige Arbeiten, damit alles schön und gut herauskommt. Ekelhaft, wenn nach getaner Arbeit eine Unordnung zurückbleibt. Vielleicht sagt dann einer, er komme gerade von der Arbeit, sei müde, erledige das am nächsten Tag. Das hat der Alte noch nie begriffen: Wie kann man etwas auf morgen verschieben, wo man doch nicht wissen kann, ob man morgen auch aufwachen wird? So auch heute wieder. Als er die Gegend absuchte und darauf wartete, dass sein Kater zurückkehren würde, zog aus irgendeinem Grund eine Linde, die ganz nah bei der Straße emporragte, seinen Blick auf sich. Die unteren Äste wuchsen so krumm und unordentlich, und auch der Wipfel war nichts Halbes und nichts Ganzes und erreichte schon fast die Stromleitung. Laurinavičius hatte die am falschen Ort gepflanzte Linde, direkt an der Stromleitung, schon lange bemerkt, aber heute entschied er, dass er Ewigkeiten auf die Elektriker warten könne – er hatte es doch dem Vincas gesagt, und was war passiert? Nichts. Und was, wenn die Leitung kaputtgeht, wenn es einen Kurzschluss gibt, wenn die Kabel bei Sturm und Regen wild herumtanzen und Funken sprühen? Dann würden sie alle ohne Strom dasitzen und sagen: Da war nichts zu machen, man kann doch nicht alles voraussehen, der Strom ist doch Technik. Da zurrte der Alte seine Klettereisen fest, packte eine kleine Säge und stieg auf den Baum. Auf dem Weg nach oben beschnitt er die unteren Äste, dann kappte er die Spitze der Linde. Den ganzen Wipfel samt den Ästen, die auf den Kabeln lagen. Im Ast- und Blätterdickicht kam er mit den Klettereisen nur schwer voran und so warf er sie zur Erde. Und jetzt sitzt er auf dem Baum und kommt nicht mehr runter. Unten läuft Malenija hin und her und ruft ununterbrochen „Jesses Maria, Jesses Maria“. Man soll doch die Namen der Heiligen nicht so oft in den Mund nehmen. Das will er sagen, er möchte mit ihr schimpfen, nur kann er jetzt nicht laut rufen – eine Menschenmenge hat sich unten versammelt. Sieh mal einer an, der Laurinavičius ist zum Zirkusartisten geworden. Er ist schließlich nicht einfach so hinaufgeklettert – er hat Erfahrung. Vor ein paar Jahren hat er doch bei der Branienė eine Esche gefällt. Das hat er, niemand anders wagte das, denn die Esche wuchs ganz nahe bei der, man könnte gar sagen, fast in der Scheune, denn das Strohdach umarmte den Stamm geradezu. Die Esche wuchs und wuchs, war schon groß und breit, aber dann geschah irgendetwas und sie vertrocknete. Vielleicht eine Krankheit, vielleicht die Kälte, oder jemand hatte sie mit Säure begossen, wer weiß das schon, aber der gigantische Baum vertrocknete und ragte jahrelang wie ein Skelett zum Himmel. Die Rinde schälte sich, die Äste hatten sich über dem Scheunendach nach allen Seiten ausgebreitet, und was am schlimmsten war, über Strom- und Telefonkabel: Genau an dieser Stelle befand sich nämlich ein Schnittpunkt mehrerer Linien oder etwas in der Art, denn von allen Seiten führten Kabel dorthin. Da packte der Alte dann wie jetzt seine Klettereisen (seit damals besaß er sie), stieg, so hoch er konnte, hinauf und ließ vorsichtig erst einen Ast herunterfallen, dann den zweiten, dann den dritten. Nach und nach zersägte er die ganze Esche, vom Wipfel bis zum Boden, wobei er stets darauf achtete, dass nichts auf die Kabel fiele und er dem Schilfdach nicht schadete. Das ganze Städtchen schaute damals zu und nickte zustimmend. Was nickt ihr da? Könnt ihr denn keinen Baum entfernen? Der alte Laurinavičius, ja, der kann das. Der Mensch kann alles, wenn er nur den Kopf gebraucht, wie vorgesehen, und hartnäckig genug ist. Damals lachte Laurinavičius zufrieden, jetzt aber lachen sie über ihn. Über wen denn sonst? Vielleicht lachen sie ja auch gar nicht und es ist nur der Wind, der in ihren Gesichtern spielt, vielleicht kitzelt ja die Natur, ohne dabei zu erröten, all diese Menschen, Nachbarn und Freunde und auch Feinde.

Aber warum versammeln sie sich hier, als gäbe es hier etwas zu sehen? Sogar die Žvainienė, auch die kommt angekeucht, hat ihr Asthma vergessen, und mit ihr noch eine andere Frau. Ja, kommt nur alle angerannt, lauft nur, der Zirkus ist hier.

Da er die Gaffer nicht anschauen will, hebt der Alte den Blick – über den Bäumen zur Rechten ragt weiß der Kirchturm empor. Wie weiße Schafe hüpfen die Wolken von den Maiwinden getrieben an ihm vorbei. Der alte Laurinavičius bedauert, dass das alles schon so weit zurückliegt – das fast tägliche Emporsteigen der alten Wendeltreppe, das Dröhnen der Glocken. Auch heute läutet man die Glocken, lädt zum Gottesdienst, nur anders – jetzt bewegt Elektrizität die Glocke. Jetzt klingt sie immer gleich und irgendwie leblos. Rhythmisch und leblos. Bim, bim, bim. Wie ein riesiger Eimer.

„Da hast du dir aber wieder mal was ausgedacht“, hört Laurinavičius die Stimme seines Nachbarn Baliesius.

„Der Baliesius hat eine Leiter gebracht“, ruft von unten seine Malenija, „schau mal, ob du sie irgendwie zu packen kriegst.“

Wie sollte er auch, die unteren Äste hat er zurückgestutzt, die Leiter ist kurz, die reicht nur bis in den Dachstock. Der Alte spürt, dass sein Hintern hart wie Holz ist, versucht sich anders hinzusetzen, die eingeschlafenen Beine anders zu platzieren. Plötzlich verliert er beinahe das Gleichgewicht, eine Welle der Angst peitscht ihm ins Gesicht, das Herz fängt vor Angst an, wie wild zu schlagen, mit Unterbrechungen.

 

„Jesses, fall nur nicht runter!“, hört er die Stimme seiner Frau rufen. „Pass auf, bleib ruhig sitzen, der Danius vom Prancisius hat Vincelis angerufen, die Feuerwehr kommt.“

Die Feuerwehr kommt, sieh mal einer an, sie werden ihn wie eine Katze von der Linde holen. Nein, er wird sich nicht wie ein kleines Kind vom Baum heben lassen, wie ein abgenutztes Ding. Das Herz in seiner Brust flattert, dann beruhigt es sich wieder, wird ganz leicht. Der Alte steht im Geäst auf, hebt die Beine ruhig über einen krummen Ast – alles in Ordnung, er ist noch gar nicht so alt, nicht so ungelenk. Und wenn schon … Zieht man zehn Jahre ab, würde er wie sein getigerter Kater flink vom Baum klettern, obwohl auch der einst im Baum stecken blieb. Plötzlich zerzaust der Wind Laurinavičius’ Haar, wirbelt durch das Geäst. Das Hemd des Alten flattert wild.

Das ist der Wind!

Das ist der Maienwirbel!

Der Alte würde gern mit ihm davonfliegen.

Aber was ist das, das durch das Heulen des Windes an seine Ohren dringt?

Die Feuerwehr.

Die Feuerwehr schimmert riesig und rot zwischen den Bäumen hindurch.

Nein, erst hört er die Sirene. Sie heult so laut, dass gar die Fenster im Städtchen erzittern. Natürlich ist das Absicht. Vincelis macht Radau. Um sich über den Alten lustig zu machen – Achtung!, eine wichtige Meldung, ich hole den Blödmann von Laurinavičius von der Linde herunter. Die Menge teilt sich, die Feuerwehr bleibt seitlich neben dem Baum stehen, Vincelis machte die Sirene aus, steigt aus und sagt etwas zu Laurinavičius, aber der hört nichts, nur das Pfeifen des Windes. Dann bildet der Feuerwehrmann mit den Händen einen Trichter vor dem Mund und brüllt.

Und plötzlich spürt Laurinavičius, wie der Wind ihn emporhebt. Ja, in die Lüfte – das Hemd empfängt den Wind wie ein Segel, wie ein Drachen. Der Alte bekommt es mit der Angst zu tun, er hält sich an einem Ast fest, doch dann fasst er sich ein Herz: Er wollte doch schon immer fliegen, ist noch nie geflogen, jetzt aber ist er dazu entschlossen. Die werden staunen! Wozu die Feuerwehr rufen, wozu all der Lärm, der alte Laurinavičius ist selbst auf den Baum gestiegen und kann doch so lange dort oben hocken, wie es ihm gefällt, und dann wieder selbst heruntersteigen. Oder herunterfliegen – nach eigenem Gutdünken. Der Alte lässt den Lindenast los und erhebt sich ganz langsam, ganz ohne Eile in die Lüfte, die Maienwirbel tragen ihn. Er lacht glücklich, er freut sich, als er sieht, dass unten alle verstummen, so ein Wunder haben sie noch nie gesehen, sie lassen die Arme sinken, den Mund vor Staunen weit offen. Der Alte denkt nicht daran, wie er landen oder wohin er fliegen wird, das kommt ihm unwichtig vor. Er erhebt sich über die Linde hinaus, fast hätte er die Stromleitung berührt, er erschrickt ein wenig, doch dann gibt er sich erneut dem Wind hin und fliegt immer höher. Die ganze Umgegend tut sich in ihrer vollen Schönheit vor seinem Blick auf. Alles ist hier, alle Pfade, an einige kann er sich kaum mehr erinnern. Auch die Kirche. So weiß, das Dach so rot – ein herrlicher Anblick für den Herrn des Hauses, denkt Laurinavičius bei sich. Er hätte weinen können, doch der Wind trocknet seine Augen.

Vögel fliegen vorbei. Schnelle und glückliche Tauben.

Löwenzahnflaum fliegt vorbei. Winzig, wie kleine Fallschirme.

Die Zeit fliegt vorbei. Die vergessene und wieder erwachte Jugend.

Der Mond fliegt vorbei. Die gewetzte Sichel des Halbmonds.

Ist das ein Wind, denkt Laurinavičius, ist das ein Wind … Ach Malenija, wenn du wüsstest, dass du mit mir fliegen könntest. Jetzt weiß Laurinavičius, jetzt weiß er genau, was sein Aleksas fühlt, wenn er mit dem Hubschrauber fliegt.

Was noch fliegt vorbei? Sein getigerter Kater. Gut, dass er am Leben ist, das liebe Dummerchen. Herrgott, war das ein Wind, sogar seinen Kater hat er gepackt und wirbelt ihn herum – als wäre die Physik außer Kraft gesetzt.

Die Leute stehen da und staunen, die Münder weit geöffnet. Die Köpfe in den Nacken geworfen, sie atmen kaum. Laurinavičius sieht sie an und lächelt. Ihm kommt das merkwürdig vor – was tun sie nur hier? Warum sind sie hier zusammengekommen? Wegen eines einfachen fliegenden Menschleins, das den Iltissen das Fell abzieht, das sich um alle kümmert, da jemand das tun muss?

Was sehen sie, woran denken sie, voller Staunen und Ernst? Warum winken sie jetzt und wozu raten sie Vincelis, der die rote Feuerwehrleiter mit den Beinen umklammert. Wen holt er da vom Baum herunter? Wer ist der Alte mit dem Hemd, aufgeblasen wie ein Segel?

Laurinavičius sieht, wie der alte Mann mit großer Mühe aus der Linde klettert, wie die Feldscherin dem glatzköpfigen Alten zu Hilfe eilt. Er sieht, wie sich die Nachbarn über diesen alten, unbekannten Mann beugen. Er sieht, wie jener wieder zu sich kommt und leer dreinblickt. Man fragt ihn etwas. Offenbar antworten die Nachbarn.

Schön, alles von oben zu betrachten. Und gut. Der Mond, dieser Frühlingsmond, lässt Leben und Kraft auf und ab wogen. Trägt sie mit den Winden fort.

Ach, die Maienwirbel!

Die Rallye des blauen Abends

Wir warteten. Saßen auf der mächtigen, vornübergebeugten Korbweide und warteten. Weit unter unseren baumelnden Beinen, unter der alten Weide, befand sich eine Straße mit einem tiefen Straßengraben, an dessen Hang dieser Baum wuchs, dessen Rinde wir mit unseren Armen, Beinen und Hintern schon tüchtig abgerieben hatten. Das war unser Geheimversteck, aus dem wir Kinder die auf der Straße vorbeigehenden Menschen beobachteten, die unter uns hindurchtauchenden Autos und Fahrradfahrer mit Kirschkernen bewarfen. Die Kirschen pflückten wir gleich hier: Über die schaukelnden Äste gelangten wir zum Punkt, wo sich die Weide mit Raškevičius’ gewaltigem Kirschbaum verflocht, der voller Beeren, Vögel und im Wind wehender Vogelscheuchen war.

Heute waren wir besonders still. Ich saß da und ließ die Beine baumeln, auch Gintas schwieg, und sogar Rimvis, der nicht ruhig sitzen kann. Wir warteten. Das ganze Städtchen wartete: Niemand ging oder fuhr, sogar die Vögel und Hunde auf den Höfen schwiegen. Vor einem rußgeschwärzten Haus saß auf einer niedrigen, mit grünem Moos und gelblichen Flechten überwachsenen Bank der alte Šeikis, die Hände des Flieders wogten über ihm auf und ab wie Fächer – auch er sagte fast nichts, brüllte nicht, drohte nicht, sondern nuschelte nur etwas in den Bart und paffte seine Papirossa der Marke „Kasbek“, während seine Hände verschränkt auf einem Stock mit einer Beule lagen.

Wir saßen da, beobachteten den Rand des verstummten Städtchens. Fast wortlos spähten wir die Gegend ab wie die Spatzen aus dem Nest, ein jeder in seine Gedanken versunken. Ich habe heute zum vierten Mal „Schnee auf dem Kilimandscharo“ gelesen, und da ich dieses traurigste aller gelesenen Bücher einfach nicht vergessen konnte, dachte ich über Nick Adams und über den wahnsinnigen Boxer Eddy nach, stellte mir vor, ich wäre im Zug, der in den Westen rast – ich wollte genauso frei sein wie sie. Dann kam mir plötzlich wieder in den Sinn, dass Mutter einkaufen war, und ich verspürte großen Hunger. Das Eigelb der Sonne, das am dunkelblauer werdenden Vorabendhimmel brutzelte, schwebte schon in die dunkelgrünen Bäume des Friedhofs voller Vogelnester und Ängste herab. Die Straße tauchte unter unserer Weide hindurch, bog nach Westen, einen Hang hinunter, verzweigte sich dann plötzlich und stieg dann erneut einen Hügel empor, und zwischen den beiden Zweigen erstreckte sich wie eine Insel im Fluss der alte Friedhof. Hinter der leicht zerfallenen Mauer dösten schwarz gewordene, flechtenüberwachsene Grabsteine, Denkmäler mit Aufschriften in Litauisch und Polnisch, bedrängt von Flieder, Akazien, verwildertem Salbei, Jasmin und Brennnesseln. Jetzt dachte ich über die Frühlingsfluten nach, die über die Senke zwischen den beiden Straßenabschnitten hereinbrachen, die Frauen ertränkten, die die Gräber zurechtmachten, über die Gruben (hier holten die Frauen den weißen, sauberen Sand, mit dem sie die Wege bestreuten), die über den kleinen Damm der Landstraße drangen, die Gräber in der Nähe der Friedhofsmauer überschwemmten. Wie schwer, dachte ich, würden es wohl die Bewohner dieser Gräber, die polnischen Adligen und anderen Unbekannten haben, wenn sie am Ende der Tage aus der glitschigen, feuchten Erde steigen sollten, wie schrecklich musste es doch für sie sein, in den mit Schmelzwasser überschwemmten Gräbern zu liegen.

Wir warteten. Unser Warten war fröhlich und feierlich, wie die ganze Stille dieses dunkelblauen Abends. Zur Linken des Friedhofs, da, wo die dem Städtchen entronnene Landstraße sich an den Fluss der Autobahn lehnte, entzündete sich auf dem Hügel ein Holzhaufen. Die Männer des Städtchens brachten trockene Äste aus dem Kiefernwäldchen und warfen sie in die Flammen. Von unserem Versteck aus sahen sie aus wie Ameisen. Die Ameisen warteten auch.

Das Feuer erinnerte mich wieder an den Hunger. Heute war Donnerstag, fiel mir ein, da wurde frischer Fisch in den Laden geliefert, und Mama briet ihn jetzt, nachdem sie ihn erst in Mehl gewendet hatte. Der Fisch duftete, das Öl brutzelte. Donnerstag ist mein Lieblingstag, ich vergöttere gebratenen, im Mund zergehenden Fisch. Jeder Bissen Fisch ist ein Teil des Geheimnisses des Meeres, das ich in meinem Körper hüte: Merkwürdig zu wissen, dass Tiere zu mir werden, die das Gold versunkener Schiffe gesehen haben. Jetzt aber wollte ich trotz meines großen Hungers nicht nach Hause. Ich wartete geduldig, zusammen mit dem ganzen Städtchen, zu dem auch ich gehörte.

Von dort, wo der Holzstoß brannte, rannte Hals über Kopf ein winziges Menschlein in unsere Richtung. Das war Algis. Er war zwei Jahre jünger als wir, und obwohl wir ihn nicht in unser Versteck auf der Weide ließen („Damit er nicht zu Boden plumpst“, wie Rimvis sagte), vertrieben wir ihn auch nicht wie die anderen Kleinen. Er war ein ordentlicher Junge. Und sein Onkel Almantas, den Algis allerdings nicht mit eigenen Augen gesehen hatte, wohnte seit vielen Jahren irgendwo in Russland, vielleicht gar in Kamtschatka, und Algis hatte uns einige Male Fotos gezeigt, die der Onkel ihnen zugeschickt hatte. Auf einem davon war ein großer, bärtiger Mann mit geschultertem Gewehr neben einem erlegten Bären zu sehen, auf einem anderen derselbe Mann mit einem riesigen Fisch in der Hand (ich dachte dann immer, dass wohl Nick Adams solche Forellen gefangen hatte).

Mit den Händen fuchtelnd, kam der kleine Algis außer Atem am von Dahlien belagerten Zaun des Raškevičius an, warf den Kopf in den Nacken und rief: „Es ist so weit! … Es geht los! … Artūras auf seiner ‚Jawa‘! … Er ist zurück! … Direkt! … Durch den Wald! … Man hat ihn gesehen!“

Wir sahen einander an wie drei alte Uhus, und Rimvis, bemüht, seine Aufregung nicht zu verraten, sagte betont cool: „Wissen wir. Haben eine Uhr.“

Rimvis hatte wirklich eine Uhr, doch Algis begriff offenbar nicht, was die Uhr damit zu tun hatte. Er stand noch eine Weile mit dem Kopf im Nacken und offenem Mund da, blinzelte ein paarmal mit seinen großen Augen, wandte sich um und los ging’s – zurück zum großen Feuer.

„Artūras, Artūras … da sieh mir mal einer an!“, sagte Gintas und spuckte zu Boden.

Wie wir alle hasste er Artūras, nannte ihn nur „Specki“ und fürchtete ihn zugleich wie wir alle. Nur der kleine Algis unterhielt sich wie ein Freund mit Artūras, ohne Angst, ganz ruhig, denn Specki verteidigte seinen kleinen Freund immer und überall: Sie sahen merkwürdig aus zusammen – der Schrecken der Schule, der Neuntklässler Artūras, und der Erstklässler Algis, das schweigsame Kind mit den traurigen Augen.

Wir gaben uns Mühe, ruhig zu wirken, doch die von Algis überbrachte Nachricht beschleunigte unseren Puls im Nu – schon bald, nicht mehr lange warten: Gleich würden wir die farbigen, geflügelten Autos erblicken, ihr Brüllen hören, sie würden unter unserem Versteck hindurchbrausen, unter uns hindurch, und wenn die anderen sich damit brüsteten, was sie gesehen hatten, dann könnten wir ihnen entgegnen: „He, wir haben die Autos mit Kirschsteinen beschossen!“

Ich spitzte die Ohren und lauschte, mit dem einzigen Wunsch, als Erster das Motorengeheul zu hören. Plötzlich stand Rimvis auf, hielt sich an einem dünnen Ast der Weide fest und wandte sich dem Städtchen zu (von dort mussten unsere heiß ersehnten Rennwagen kommen). Mit einer Geste bedeutete er uns zu schweigen und erstarrte mit offenem Mund.

„Hört ihr das?“, flüsterte er. „Ich höre etwas!“

Wir hörten es alle! Das tiefe, gedämpfte Motorengeräusch kam wie ein von den Wolken getragener Donner immer näher. Wir warteten angespannt, Raškevičius’ Hühner erhoben die Köpfe, der Hund kam aus seiner Hütte, der Wind legte sich. Plötzlich brachen wir alle zusammen wie ein Chor in Gelächter aus: Um die Kurve tauchte zwischen den Pappeln und Ahornen des Städtchens hervor ein Mähdrescher der Marke „Niwa“ auf. Er fuhr über den Asphalt der schmalen Straße des Städtchens – groß, rot und ungelenkig, das genaue Gegenteil dessen, was wir erwartet hatten. In der Kabine saß der Schafskopf Geniukas, ein seltsamer Mann, dem die Dummheit ins Gesicht geschrieben stand, und ein anständiger Trinker, der, als man ihn nicht zur Armee nahm, den Traktorfahrern klagte: „Und warum auch habe ich gesagt, dass ein Kilo Nägel mehr wiegt als ein Kilo Federn! Wenn ich das Gegenteil gesagt hätte, hätten sie mich genommen!“ Die Kinder des Städtchens bewarfen ihn, wenn er mit dem Mofa vorbeifuhr, stets mit Eicheln, Kastanien, Kieselsteinen, beschossen ihn mit Vogelbeeren. Geniukas fuhr zwar Traktor, aber auf dem Mähdrescher hatte ihn noch keiner gesehen, doch jetzt war er ein richtiger „Mähdrescherpilot“!

 

Der Mähdrescher fuhr auf unsere Weide zu. Wir warteten stets sehnsüchtig auf die Durchfahrt großer Maschinen unter unserem Baum, der Mähdrescher aber war ein Vergnügen der besonderen Art, denn seine Kabine streifte die Weide beinahe. Geniukas fuhr langsam, und als der rote Metallberg unter uns war, klopfte Rimvis ein paarmal kräftig mit den Füßen aufs Kabinendach. Geniukas galt als ziemlich boshaft und war wie ein Kind schnell beleidigt: Der Mähdrescher hielt in einigen Metern Entfernung an, aus der Kabine stieg unter Brüllen und wüsten Drohungen der Fahrer.

„Wart nur, wart nur, du heimatloser Kleinadel, Zaščižinskas! Ich werde dich mit der Knute bearbeiten, dich wie ein Donner vom Baum holen!“ Warum er wohl immer nur den Rimvis anschrie, während er Gintas und mich nicht zu sehen vorgab?

„Fahr zur Hölle!“, entgegnete Rimvis in aller Kürze.

„Geniukas ist ein Dummerchen!“, fügten Gintas und ich hinzu und beschossen den frischgebackenen Mähdrescherfahrer mit Kirschsteinen.

Der Mähdrescher stand genau auf der Kreuzung und versperrte den von uns so ersehnten Rennwagen einen Teil der Straße.

„Fahr schon, fahr, Schwachkopf!“, rief Rimvis, „du Idiot hast den Weg versperrt!“

Mir schien, Geniukas müsse das Herz aus der Brust springen – so wütend war er. Seine Stimme kam außer Kontrolle und so verstand man kaum mehr, was er uns da entgegenschrie. Es war zum Grölen. Noch lustiger sah die Sonne des immer dunkelblauer werdenden Himmels aus, die Geniukas’ Kopf wie ein Heiligenschein umgab und sein Gesicht in eine unergründliche Dunkelheit tauchte – so mussten wohl die Gesichter der Apostel ausgesehen haben.

„Ich bringe dich um!“, brüllte der heilige Apostel, „ihr Bastarde!“

„Selber Bastard!“, erwiderten wir.

Im gleichen Augenblick war ein merkwürdiges Keuchen hinter uns zu hören, das uns überraschte und erschreckte. Geniukas freute sich so über seinen neuen Status – er hatte jetzt einen Mähdrescher! – und schien so wütend auf uns zu sein, dass er offenbar nichts gehört hatte. Er war der einzige Mensch auf der Welt, der nicht wusste, dass heute der Startschuss zur Rallye fallen würde. Wir wandten uns alle drei entsetzt zum Städtchen um und verfolgten mit vor Angst weit offenen Mündern, wie an den Dahlien und am Flieder am Straßenrand vorbei, rot wie der Schnee nach dem Schlachten, ein Rennwagen angerauscht kam. Ein wahrhaftiger Rennwagen, denn er raste in einem Wahnsinnstempo über die Straße! Ich schloss die Augen, als er unter unserem Baum hindurchflitzte, und sah nicht einmal mehr, wie er mit Geniukas zusammenstieß, erst nach einem Augenblick, der wie eine Ewigkeit erschien, hörte ich es krachen. Da öffnete ich die Augen und sah den umgekippten Mähdrescher im Straßengraben, den seltsam mitten auf dem Asphalt breit daliegenden Geniukas, der wohl aus der Fahrerkabine geschleudert worden war, und den roten Wagen, der langsam durch die Luft flog und Purzelbäume schlug. Er flog erst über die von den Frauen gebuddelten Sandgruben, dann zwischen den alten, moosüberwachsenen Trauerweiden hindurch und prallte schließlich auf die Friedhofsmauer. Eine zähflüssige und an der Haut klebende Stille packte uns. Und erst dann flogen aus den Friedhofsbäumen in Scharen die Saatkrähen und Dohlen auf. Geniukas stand langsam auf und brach urplötzlich in ein schluchzendes Jammern aus.

„Was wird jetzt nur! Was wird jetzt nur! Was wird jetzt nur!“

Wir rutschten, so schnell wir konnten, den Baumstamm hinunter. Ich sah noch den alten Šeikis langsam wie eine Schildkröte von seiner Bank aufstehen und den Specki auf seiner „Jawa“ vom Hügel mit dem Feuer in unsere Richtung sausen.

„Was wird jetzt nur?! Was wird jetzt nur aus mir?!“, jammerte Geniukas noch immer, als wir am Mähdrescher vorbeirannten, und ich spürte mein Herz genauso schlagen wie diese verzweifelte Frage.

Als wir vom Straßendamm sprangen und an den Sandgruben vorbeiliefen, hörte ich Rimvis mit keuchender Stimme rufen: „Das ist mal was! Habt ihr gesehen, wie er geflogen ist?!“

Unweit des Metallhaufens, der gerade erst mit einem Affenzahn über die Straße unseres Städtchens geflitzt war, hielten wir an. Ich glaubte zu träumen, denn ich erblickte einen kleinen flachsblonden Jungen, der um den Wagen herumtaumelte. Er war weiß wie ein kleiner dreijähriger Engel … Dann sah ich eine Frau, die auf dem Rücken lag, und Dampf, der langsam aus ihrem Mund stieg. Vom Hügel kamen die Männer angerannt. Unter ihnen war auch Specki, der uns etwas zurief. Als er bei uns ankam, drehte er mich weg, sodass ich auf die andere Seite schaute, schubste mich, damit ich von hier wegginge. Ich leistete keinen Widerstand, obwohl ich ihn, da ich sein blasses und verzerrtes Gesicht gesehen hatte, nicht im Geringsten fürchtete.

Jetzt schaute ich die Straße an, das Städtchen, unsere Trauerweide, Šeikis, der es ganz eilig hatte, Geniukas, der die Hände hinter dem Kopf verschränkte, und plötzlich sah ich sie – die blauen Rennwagen, die am Mähdrescher vorbeiflogen, an uns – wie Wolken, wie Schäfchen. Schön waren sie, glitten lautlos und scheinbar leicht über dem Boden vorüber, als würden sie gar nicht zu dieser Welt gehören.

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