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Eine unfreiwillige Rekrutierung

November 2020

Dark Moon Creek, Minnesota

Bernart Dierolf langweilte sich.

Und das war noch nie gut gewesen, das wusste er selbst. Nicht gut für ihn, eben weil er sich langweilte, und zwangsläufig auch nicht gut für seine Umwelt, da er in einer solchen Stimmung nach Abwechslung suchte und das meistens zu Ärger führte.

In seiner derzeitigen Lage war das eher lästig.

Seit einem Jahr wohnte er jetzt in der ehemaligen Jackson-Hütte, die ihren Namen irgendwie nicht loswerden wollte, obwohl sie inzwischen seiner Tochter Hannah O’Brian, gebürtige Riemann, gehörte.

Der Name und auch die Dauer seines Aufenthalts störten ihn nicht weiter. Er sah diesen Ort eh nur als Durchgangsstation an. Rudelführer Tucker O’Brian hatte ihm deutlich gesagt, dass er ihn erst ziehen lassen würde, wenn er davon überzeugt war, dass Bernart Dierolf keinen Ärger mehr machen würde. Aber natürlich war allen klar, dass er nur blieb, weil er es selbst so wollte. Dass er es eine Zeitlang sogar genossen hatte, sich nicht mehr vor anderen Wölfen verstecken zu müssen, würde er natürlich niemandem verraten. Es war zwar ärgerlich, dass er vom alten Kontinent verbannt worden war, doch dafür lebte er und hatte die Chance, noch viele Jahre mit Hannah zu verbringen. Und mit Tucker O’Brian. Leider.

Dierolf schnaufte unmutig und hob das Gesicht zur Sonne. Er hockte auf einer Holzbank vor dem Haus, während er seine düsteren Gedanken sortierte. Dies war sein Lieblingsplatz. Er hatte die Bank selbst zusammengebaut und an die sonnenreichste Stelle vor der Hütte gestellt. Im Laufe des Jahres war sie jeden Monat mit dem Sonnenstand gewandert. Und jetzt im November musste man jede Minute davon ausnutzen.

Der Gedanke an O’Brian war da eher störend.

Er mochte den Mann. Keine Frage. Und das lag nicht nur daran, dass Tucker O’Brian seine Tochter geheiratet hatte und jetzt sein verdammter Schwiegersohn war. Ehrlich gesagt gab es wohl kaum einen besseren Ehemann für die temperamentvolle Hannah. O’Brian war ein knurriger, besserwisserischer und kompromissloser Bastard und würde Hannah niemals fallen lassen, davon war Dierolf fest überzeugt. Allerdings wurmte es ihn gewaltig, dass dieser Jungspund einen Hauch dominanter war als er selbst und ihn das auch immer wieder spüren ließ. Normalerweise hätte er sich schon längst verkrümelt und diesen Kontinent erkundet, doch da war eben noch Hannah.

Sie genossen es, nach langen Jahren der Trennung wieder zusammen zu sein. Und er konnte ihr noch eine Menge beibringen, was frau besser wissen sollte, wenn sie einen Rudelführer als Ehemann hatte. Wölfe tickten in manchen Dingen eben doch anders als Menschen. Und die ersten, die das zu spüren bekamen, waren normalerweise ihre menschlichen Frauen.

Zu seiner Erheiterung schien Hannah den Rudelführer allerdings bestens im Griff zu haben. Dafür war sie eben doch zu sehr seine Tochter.

Er grinste zufrieden vor sich hin und überlegte, wie er O’Brian als Nächstes ärgern konnte. Ob er den Kids beibringen sollte, wie man auch eine Wolfsnase austrickste? Die kleinen Biester waren immer wieder bemüht, ihren Anführer mit dummen Sprüchen und Bildern zu ärgern, ohne dabei erwischt zu werden, scheiterten aber regelmäßig. Kinderspiele, doch sehr unterhaltsam für alle Dorfbewohner. O’Brian spielte mit. Er erwischte jeden, aber seine Strafen fielen immer milde aus und zeugten von erzieherischer Konsequenz.

Dierolf musste zugeben, dass er selbst mit Sicherheit nicht so viel Geduld gezeigt hätte. Aber er war ja auch kein Rudelführer. Eigentlich auch kein echtes Rudelmitglied. Nur ein geduldetes. Die meisten akzeptierten ihn und einige der Dorfbewohner halfen ihm, wenn es nötig war. Lediglich zu Theo und Ethan hatte sich so etwas wie eine Freundschaft entwickelt.

Theo war ein junger Wolf mit einer Leidenschaft für Automotoren. Seit einiger Zeit bastelten sie miteinander an einer alten Harley herum, die Dierolf auf einem Schrottplatz aufgetan hatte. Das schweißte zusammen.

Ethan, Koch und Verwalter der Siedlung, hatte ihn anfangs erst misstrauisch begutachtet, dann aber gegrinst und ihm auf die Schulter geschlagen.

„Freut mich, Wolf. Ich hab das Gefühl, du wirst unsere Langeweile vertreiben. Kannst du kochen? Ich will ein paar deutsche Rezepte ausprobieren, aber Hannah war da bisher eher keine Hilfe.“

Bernart Dierolf hatte gegrinst und genickt. Dass seine Tochter miserable kochte, war kein Geheimnis. Er selbst kochte ganz passabel und so hatten die Männer schnell einen Draht zueinandergefunden.

Aber mehr Freundschaften ließ er nicht zu. Er wartete lieber ab.

Seine Ohren zuckten und er lauschte konzentriert in die Höhe. War das ein Hubschrauber? Er flog Richtung Dark Moon Creek. Vermutlich wieder Besuch aus der Ranger-Zentrale. Ab und zu kam dieser Kriegerwolf Mort Byers vorbei, um seine Frau zu besuchen. Vor einigen Monaten war er Vater von einem strammen Jungen geworden, der alle Anzeichen in sich trug, ein genauso beeindruckender Krieger zu werden wie sein Vater. Seitdem kam Byers öfters, als es den Bewohnern von Dark Moon Creek vermutlich recht war. Ein Grund mehr, heute nicht ins Dorf zu laufen. Kriegerwölfe waren anstrengend und Mort war dazu noch ein Kaliber für sich. Dierolf hatte nicht schlecht gestaunt, als er diesem Wolf das erste Mal begegnet war. Im Laufe seines langen Lebens hatte er schon viele Fellträger getroffen. Mort Byers war mit Abstand der Größte, und das Aggressionspotenzial des Kriegers ließ jedes Mal Dierolfs Instinkte aufjaulen. Keine Frage, von diesem Ranger hielt er sich besser fern.

Und Byers Partner, dieser Henry, war noch spezieller.

Henry Graves. Er hatte den Namen schon einmal vor vielen Jahrzehnten gehört. In Europa. Das war noch zu Zeiten gewesen, als man ihn selbst nicht gejagt hatte.

Ein Blick hatte ihm genügt. Henry Graves war der zweitdominanteste Wolf, dem er je begegnet war. Und das hieß schon was. Er selbst war schließlich weit herumgekommen. Und die Intelligenz, die in den grünen Augen stand, war ihm Warnung genug. Niemals würde er diesen Krieger unterschätzen, das nahm er sich fest vor.

Noch besser, er lief ihm gar nicht mehr über den Weg.

Er schloss die Augen und überlegte, welches der Kids das meiste Potenzial hatte, O’Brian so richtig zu nerven.

Ein Automotor riss ihn aus seinen Überlegungen. Den Motor kannte er. Er hatte ihn schon oft mit Theo repariert.

Langsam stand er auf und sah dem Wagen angespannt entgegen. Es kam selten jemand vorbei. Und wenn, dann waren es meistens Hannah oder ihr nervender Ehemann. Selbst die Besuche von Theo und Ethan konnte er an einer Hand abzählen.

Der Wagen hielt kurz vor ihm. Theo saß am Steuer und grinste ihn schief an. Er wirkte nervös, was Dierolf nicht wunderte, als eine weitere Person auf der Beifahrerseite ausstieg.

Bernart Dierolf murmelte einen leisen Fluch. Von allen Wölfen auf dem Planeten musste er ausgerechnet diesem über den Weg laufen! Aber wenn er ehrlich war, war das nur eine Frage der Zeit gewesen.

Schweigend wartete er ab. Theo wendete den Wagen und gab mehr Gas, als nötig war. Dierolf konnte es ihm nicht verdenken. Am liebsten hätte er auch Fersengeld gegeben. Aber das ließ sein Stolz nicht zu.

Niemand würde ihn jemals von hinten sehen, auch nicht Chief Kale Bryan, Kriegerwolf und Anführer der Minnesota-Rangers.

„Hallo Bernart, lange nicht gesehen.“

Dierolf vermied es, in die stechenden Augen zu sehen. Er hatte vor einigen Jahrzehnten ein halbes Jahr mit Bryan in der französischen Fremdenlegion verbracht und bereits am ersten Tag hatte der Krieger klargestellt, dass er Widerspruch nicht duldete. Bis heute hatte Bernart keinen Wolf getroffen, der dominanter war als Kale Bryan. Dummerweise hatte dieser in jener früheren Zeit rangmäßig auch noch deutlich höher als Bernart gestanden und damit gab es keine Chance, seinen Anweisungen zu entgehen. Und Bryan war schon damals ein harter Knochen gewesen. Dierolf hatte unter ihm Blut und Wasser geschwitzt und ihn permanent verflucht.

„Von mir aus hätte es länger sein können“, knurrte Dierolf seine Antwort und starrte auf den breiten Brustkorb, der sich vor ihm aufgebaut hatte.

Bryan lachte leise mit einem spöttischen Unterton.

„Hast du ernsthaft geglaubt, dass du mir entgehst? O’Brian hat dich erstaunlich lange ruhig gehalten, aber wir wissen beide, dass das kein Dauerzustand ist.“

„Was willst du?“

„Dich!“

Das war eine deutliche Ansage. Dierolf ballte die Fäuste.

„Verdammt, Bryan, ich bin kein ...“

„Es gibt keine Alternative, Bernart.“

Der Chief klang beinahe sanft, aber Dierolf wusste, dass das täuschte. An diesem Kriegerwolf war nicht eine Zelle weich.

„Du wirst für mich arbeiten. Punkt. Alles andere lasse ich nicht gelten, und jeder Rudelführer hier in den Staaten wird bei diesem Thema hinter mir stehen. Dafür hast du bereits zu viel Ärger angezettelt.“

Dierolf schluckte hart. Dass ihn seine Vergangenheit irgendwann einholen würde, war ihm immer klar gewesen, aber dass er ausgerechnet bei Bryan landen musste ...

Das war echt nicht fair!

„Fuck, Bryan, ich könnte ...“

„Nein, kannst du nicht! Pack deine Sachen, du kommst gleich mit.“

Einem Kale Bryan widersprach man einfach nicht.

Dierolf stieß einen deftigen Fluch aus und wirbelte herum.

 

Wütend stapfte er in seine Hütte. Ein Rucksack war schnell gepackt. Viel besaß er ohnehin nicht. Um den Rest würde sich hoffentlich seine Tochter kümmern.

„Kann ich mich wenigstens von Hannah verabschieden?“, fragte er, als er wieder nach draußen trat.

Chief Bryan erwartete ihn mit verschränkten Armen. Er nickte knapp, drehte sich um und lief los. Dierolf entglitt ein weiterer Fluch und rannte hinterher.

Es war lange her, dass er mit Kriegerwölfen gelaufen war, und damals war er in deutlich besserer Form gewesen. Aber seinen Willen besaß er noch und der hielt ihn knapp hinter Bryan, auch wenn er wusste, dass er das am nächsten Tag mit Sicherheit bereuen würde. Überanstrengte Muskeln schmerzten bestialisch.

*

Dies war das erste Mal, dass Dierolf eine Zentrale von Kriegerwölfen betrat. In Europa war er zwar mit Kriegern gelaufen, doch das Hauptquartier der Europe Security hatte er nicht von innen gesehen. Chief Martinak hatte ihm noch nie richtig vertraut.

Und Chief Bryan? Der leitete die Minnesota-Ranger seit einigen Jahrzehnten und wie zu hören war, hatte er die Krieger sehr gut im Griff. Was Dierolf nicht wunderte, aber ziemlich wurmte.

Die Zentrale lag mitten im Wald, im Norden Minnesotas. Etwa vierzig Meilen von Dark Moon Creek entfernt. Nur eine befahrbare Straße führte hierher. Dafür war rund um die Anlage ein umzäunter, schwer gesicherter Bereich angelegt, der Platz für mehrere Transporthubschrauber bot. Und dort waren sie gelandet.

Das Gebäude war wirklich eindrucksvoll. Oberirdisch befanden sich die Fahrzeughalle und diverse Lagerräume, die vollgestopft mit Fahrzeugen, Maschinen und Kisten waren. Mit einem Fahrstuhl fuhren sie nach unten. Die wichtigsten Räumlichkeiten waren unterirdisch angelegt. Dierolf zählte sechs Untergeschosse.

Zunächst ging es in Bryans Büro.

Vor dessen Tür stand ein großer Schreibtisch, an dem eine äußerst attraktive Kriegerwölfin saß, die ihn interessiert musterte.

„Gib Morgan Bescheid, Betty“, befahl Bryan im Vorbeigehen. „Wir haben ein neues Mitglied.“

Dierolf verzog unwillkürlich das Gesicht, was ein äußerst gehässiges Lächeln in der Miene der Wölfin erscheinen ließ.

„Aber mit Vergnügen, Boss“, säuselte sie und griff nach einem Hörer.

Morgan war ein typischer Krieger: Riesig, breit, Finsterblick. Ein echter Sonnenschein also. Aber daran würde Dierolf sich wohl gewöhnen müssen. Er hatte noch keinen Krieger getroffen, der eine herzliche Art in sich trug.

Stoisch ließ Dierolf Morgans Musterung über sich ergehen.

„Du weißt, dass ich deine Entscheidungen selten in Frage stelle, Boss, aber bist du sicher, dass ein Regelbrecher hier reinpasst?“

Bryan hob fragend die Augenbrauen und nickte dann auffordernd zu Dierolf.

„Erzähl deinem zukünftigen Ausbilder, welche Regeln du gebrochen hast.“

Dierolf schnaufte ärgerlich. „Nur, dass ich meine Familie nicht in ein Rudel gesperrt habe. Alles andere ist erstunken und erlogen.“

„Wölfe lügen nicht“, wandte Morgan ein.

„Habe ich gerade die Unwahrheit gesagt?“, kam sofort die Gegenfrage. Morgan runzelte die Stirn. Die Antwort war klar. Dierolf hatte die Wahrheit ausgesprochen. Wölfe konnten das problemlos erkennen.

„Geh davon aus, dass der Ex-Rudelführer aus Deutschland, Albin Bolender, eine Menge Zeit investiert hat, um Bernart Dierolf schlecht dastehen zu lassen. Beinahe hätte es geklappt“, erklärte Bryan. „Abgesehen davon ist es die einzige Möglichkeit, unseren Wolf hier im Auge zu behalten.“

Er schenkte Dierolf ein wölfisches Grinsen.

„Und zufällig weiß ich in etwa, was für Potenziale in ihm schlummern. Er mag nicht die körperlichen Fähigkeiten eines Kriegers haben, aber allein sein sturer Dickschädel wird ihn mithalten lassen.“

Morgan zuckte die Schultern. „Wie du meinst. Also Komplett-Ausbildung?“

„Die Grundkenntnisse hat er. Ich schätze, ein wenig Auffrischung und Fitnesstraining werden erst einmal reichen.“

Dierolf verkniff sich ein Aufatmen. Noch wusste er nicht, was Auffrischung und Fitness bei nordamerikanischen Kriegerwölfen bedeutete.

Er sollte es schnell herausfinden.

Nachdem er seine kleine Wohnung im dritten Untergeschoss bezogen hatte, orderte Morgan ihn auch schon in die Trainingsebene.

Und Dierolf erfuhr, dass seine derzeitige Fitness bei Weitem nicht ausreichte, um diesen Krieger zufrieden zu stellen.

Unter den Augen einiger anderer Ranger wurde er dermaßen zusammengefaltet, dass er abends wie tot ins Bett fiel und den kommenden Tagen nur mit einem ganz miesen Gefühl entgegensah.

Zum ersten Mal verfluchte er seine Entscheidung, Europa den Rücken zuzukehren. Möglicherweise wäre eine Hinrichtung besser gewesen. Andererseits, er ballte die Fäuste, dann hätte er auch keine Zeit mehr mit Hannah verbringen können und sein Tod hätte sehr viel Leid in ihr geweckt.

Nein, er hatte sich entschieden und würde den Mist hier durchstehen.

In einem hatte Bryan recht. Er trug in sich den Willen zu überleben. Egal in welcher Situation. Und so ein paar verdammte Kriegerwölfe würden ihm das nicht ausreden!

Am nächsten Morgen stand ein grimmig blickender Wolf vor Morgan. Und er gab alles.

Abends nickte der Trainer ihm anerkennend zu.

„Ich revidiere meine Meinung. Der Boss hat wohl recht. Du bist ein Kämpfer. Morgen wirst du beim Training der Jungs mitmachen. Mal sehen, wie lange du durchhältst.“

Dierolf biss die Zähne zusammen.

Und wie er durchhalten würde!

Ein Zwangsurlaub

Ende Juni, 2021

Dornbach nahe Nürnberg, Deutschland

„Das ist jetzt ein schlechter Witz! Oder?“

Tiger starrte seinen President ungläubig an.

Big Man, National President des Road Bastards OMC, lümmelte sich lässig hinter dem riesigen Schreibtisch auf einem äußerst breiten Sessel und grinste ihn gehässig an.

„Mein Sohn, ich scherze nie, das solltest du doch wissen.“

„Ich bin nicht dein Sohn“, knurrte Tiger, obwohl Big Man in all den Jahren, die sie sich kannten, für ihn wohl zu einer etwas verqueren Art von Ersatzvater geworden war. Sie verband keine leibliche Verwandtschaft, aber in den letzten Jahren hatte Big Man ihn oft um seine Meinung gefragt und protegiert. Dazu kamen immer kniffligere Aufgaben und Einsätze, die nie ungefährlich waren. Es schien so, als würde der President der Road Bastards ihn testen wollen. Wofür auch immer. Aber vor allem lagen sie auf der gleichen Wellenlänge. Manchmal hatte Tiger sogar den Eindruck, dass sie sich nur ansehen mussten, um zu wissen, was im Kopf des anderen vor sich ging.

Tiger betrachtete sein Gegenüber aufmerksam. Der President war in den letzten Jahren sichtlich gealtert. Klar, übermäßiger Alkohol, hemmungsloser Konsum von Junk-Food und ungebremster Sex mit jungen, willigen Biker-Fangirls hinterließen ihre Spuren, obwohl Big Man behauptete, das würde ihn jung halten. Er war deutlich massiger und langsamer als früher, auch wenn er immer noch wie ein Dampfhammer zuschlagen konnte. Sein rechter Haken war in der Bikerszene legendär.

Doch Tiger ließ sich nicht so leicht täuschen.

Sein Boss wurde alt. Seine Bewegungen, sein körperlicher Zustand, alles deutete darauf hin. Trotzdem loderte immer noch das aggressive Feuer in ihm, das die Road Bastards zusammenhielt.

Tiger wollte gar nicht darüber nachdenken, was passierte, wenn Big Man einmal nicht mehr sein würde. Der alte Teufel war der intelligenteste Stratege, den er je kennengelernt hatte. Big Man hatte nur knapp zehn Jahre gebraucht, um aus einem Haufen lockerer Motorradclubs einen eingeschworenen Verein zu machen, der sich über die Gesetze der üblichen Bevölkerung kaputtlachte und nach eigenen Regeln lebte. Zugegeben, nicht gerade gesetzeskonforme Regeln, aber das störte niemanden in ihren Reihen. Im Gegenteil. Tiger mochte es, den Gesetzeshütern eine lange Nase zu drehen, und ihnen immer einen Schritt voraus zu sein.

Etwas, das er mit Big Man teilte.

Deswegen glaubte er tatsächlich, sich verhört zu haben.

„Ich soll Deutschland verlassen? Fuck, Boss, das ist echt ein schlechter Scherz.“

„Sorry, Junge, aber es muss sein. Gestern stand die geballte Staatsmacht vor meiner Tür und wollte wissen, wo du dich aufhältst. Angeblich hast du vor drei Wochen den Sohn eines Staatsanwaltes ins Koma geprügelt. Es gibt einen Zeugen und einen äußerst angepissten Vater, der Blut sehen will.“

Tiger stöhnte leise, konnte aber nicht verhindern, dass ein breites Grinsen über sein Gesicht zog. An den Knaben erinnerte sich immer noch gerne. Dieser Großkotz hatte doch tatsächlich die Dämlichkeit besessen, ihn einen kriminellen Wichser zu nennen, der mit Sicherheit bald im Knast landen würde. Möglicherweise würde dieser Milchbubi recht behalten. Aber für den Ausdruck in seinen Augen, als Tiger ihm die Faust ins Gesicht gepflanzt hatte, wäre es das auf jeden Fall wert.

Big Man seufzte auf seine typisch theatralische Art.

„Tiger, ich will ja nicht behaupten, dass ich dich nicht verstehe. Vermutlich hätte ich dem Kerl den Schädel eingeschlagen und die Kosten für die lebenserhaltenden Maßnahmen würden die Krankenkassen deutlich weniger belasten, aber ich will meinen besten Mann nicht im Knast haben. Es wird etwas Zeit brauchen, bis wir die Situation bereinigt haben, und bis dahin wirst du den Kopf einziehen und von der Bildfläche verschwinden. Das ist übrigens ein Befehl!“

Tiger stieß ein unwilliges Schnaufen aus, auch wenn er das Kompliment durchaus verstanden hatte.

„Du weißt, dass ich viel von dir halte, Tiger“, fuhr Big Man fort. „Ehrlich gesagt, denke ich, dass du der Einzige in unserem Verein bist, der in der Lage ist, die ganze Scheiße hier zu überblicken.“

Innerlich stimmte Tiger ihm natürlich zu, trotzdem wandte er ein: „Da sind noch Sliver und Balboa ...“

Jetzt schnaufte Big Man empört.

„Das ist nicht dein Ernst. Balboa ist ein hervorragender Kämpfer, klar, aber dumm wie Bohnenstroh. Und Sliver ist zwar schlau, aber nicht hart genug.“

„Sie sind beide Presidents und bei ihren Leuten beliebt“, konterte Tiger.

„Was nicht für die Chapter spricht“, knurrte Big Man. „Aber egal, das ist heute nicht unser Thema. Du wirst Deutschland verlassen! Keine Sorge, wir verbinden das Ärgerliche mit dem Nützlichen. Ich schlage die guten alten Vereinigten Staaten vor. Da gibt es ein paar Outlaws, mit denen ich gerne den Kontakt intensivieren möchte.“

Er listete einige Biker-Clubs auf. Von den meisten hatte Tiger noch nie etwas gehört. Die, die er kannte, weckten jedoch sein Interesse. In dem Punkt hatte Big Man recht. Eine Annäherung konnte geschäftlich durchaus von Vorteil sein.

„Und wie stellst du dir das vor? Soll ich als Lonesome Rider über die Highways brettern und in Bikerhintern kriechen?“

„Besprich das mit deinen Jungs. Im Moment ist es, bis auf deine Anklage, recht ruhig hier. Die anderen MCs haben anscheinend begriffen, dass sie uns besser keinen Ärger machen.“

Tiger musste spontan grinsen. Dass ihre Konkurrenz stillhielt, war wohl hauptsächlich ihm und seinen Nomads zu verdanken. Ihm und dem politischen Geschick von Big Man.

„Grins nicht so selbstgefällig.“ Big Mans Stimme riss ihn aus seiner Erinnerung. „Verpiss dich und sieh zu, dass deine Anwesenheit in Germany in kürzester Zeit endet.“

Tiger murmelte einen leisen Fluch und verließ den Raum.

„Und bring mir gefälligst ein Souvenir mit“, klang es hinter ihm her.

„Du mich auch“, knurrte er zurück und stiefelte die Treppe hinunter in den Hauptraum.

Der Laden war rappelvoll. Überall flegelten Kuttenträger herum, viele mit einem aufgedonnerten Girl in den Armen. Tiger ignorierte das schamlose Treiben um sich herum und steuerte auf einen Ecktisch zu, an dem seine Männer hockten.

Das Nomad-Chapter.

Mit ihm zusammen sieben Mann stark und immer unterwegs. Es gab wohl kaum einen Fleck in Deutschland, den sie noch nicht angesteuert hatten, kein Clubhaus, das sie nicht kannten. Zumindest was die Häuser ihrer Verbündeten anging.

 

Ein Leben auf der Straße, das anstrengend aber auch aufregend war. Sie hatten es sich ausgesucht und liebten es genau so. Und es schweißte sie zusammen. Jeden Tag ein bisschen mehr.

Runners grüne Augen fixierten ihn als erste, aber das war nichts Neues. Dieser verfluchte Bastard hatte zweifellos die schärfsten Sinne von allen hier im Raum.

„Tja, Nomads“, knurrte er und ließ sich auf einen freien Stuhl fallen. „Wir haben da ein Problem. Obwohl, eigentlich habe nur ich eines.“

Damit besaß er die geballte Aufmerksamkeit der sechs Nomads.

„Die Bullen suchen nach mir, wegen diesem Großmaul von vor drei Wochen.“

„Dem Milchbubi?“, fragte Lincoln nach. Er war erst Mitte zwanzig, also im etwa gleichen Alter wie der Staatsanwaltssohn. Ihn würde man allerdings nicht als Milchbubi bezeichnen. Seine große und breite Figur unterstrich nur seine grimmige Miene.

Tiger nickte und griff nach der halbvollen Flasche Bier vor seiner Nase.

„Yep, irgendjemand hat sich als Zeuge zur Verfügung gestellt. Der Pres will, dass ich in die Staaten gehe und da Sight Seeing betreibe. Ich soll ihm ein Souvenir mitbringen.“

Er setzte die Flasche an und leerte sie in einem Zug.

Sie starrten ihn sprachlos an. Schließlich brach Flash das Schweigen.

„Das ist jetzt nicht dein Ernst. Und was ist mit uns? Sollen wir hier auf dich warten und Däumchen drehen?“

Er war der Jüngste in der Truppe und erst seit zwei Jahren dabei. Als Tiger ihn das erste Mal zu Gesicht bekommen hatte, konnte er ihn nicht ernst nehmen. Flash war einfach viel zu hübsch. Sein freundliches Gesicht wurde von blonden Locken umrahmt und machte ihn noch jünger, als er eigentlich war. Es gab kein Biker Girl, das ihm widerstehen konnte, das war von vorneherein klar gewesen. Doch Tiger hatte schnell bemerkt, dass in dem Kleinen eine Menge mehr steckte, als es den Anschein hatte.

Flash war nicht besonders groß und nicht so breit gebaut wie der Rest ihrer Truppe, doch er war ungemein wendig und schnell. Dazu kam, dass er schlau war. Tiger hatte begeistert zugesehen, wie der vermeintlich leicht zu besiegende Junge einen seiner Gegner erst verbal fertig machte und dann mit wenigen gezielten Tritten und Schlägen auf die Bretter schickte. Seitdem war Flash dabei. Tiger hatte es noch keine Sekunde bereut. Auf den Jungen war Verlass und er war Biker mit Leib und Seele. Im Moment wirkte er deutlich angepisst.

Und da war er nicht alleine.

Alle sahen Tiger an, als hätte er den Verstand verloren.

Er stieß einen theatralischen Seufzer à la Big Man aus, auch wenn er sich über die Reaktion seiner Männer freute.

„Jungs, ihr werdet es überleben. Sucht euch einen netten MC mit hübschen Girls und vögelt euch meinetwegen das Hirn raus. Mit etwas Glück bin ich nur ein paar Wochen weg.“

Der Ausdruck in ihren Augen war wirklich bemerkenswert. Wenn Blicke töten könnten, wäre er wohl umgefallen.

„Wer hat dir in dein verdammtes Gehirn geschissen?“, grollte Ork, der eindeutig hässlichste Mann in ihrer Truppe. „Du glaubst doch nicht im Ernst, dass wir dich alleine Urlaub machen lassen, und wir hängen hier rum und langweilen uns!?“

Tiger grinste süffisant.

„Also als Langeweile würde ich das nicht bezeichnen. Ihr habt die Aussicht auf unzählige Stunden heißen Sex mit willigen Bikermuschis. Ich hingegen werde stundenlang mit meiner Harley dem Sonnenuntergang entgegenfahren, Staub schlucken, jede Nacht in einem anderen MC abhängen, nur fremde Gesichter vor mir haben und Englisch quatschen müssen.“

„Fuck“, murmelte Liberty. „Das ist sowas von unfair.“

Er war der Mechaniker in ihrer Truppe und Tiger wusste zufällig, dass Liberty schon immer davon geträumt hatte, eine Tour über die endlosen Highways der USA zu machen.

„Hat Big Man gesagt, dass du alleine fahren musst?“

Klar, dass die Frage von Flash kam. Der Knabe erkannte immer sofort, wo er nachhaken musste.

Tiger grinste ihn an.

„Nein. Er hat gesagt, dass ich mit euch darüber reden soll.“

Ork schnaufte verächtlich, während die anderen ihn empört ansahen. Nur Runner verschränkte die Arme und wirkte besorgt. Tiger ahnte warum, aber das musste warten. Zunächst wollte er seine Männer in Spur bringen.

„Es ist ein Arbeitseinsatz. Wir sollen Kontakte auffrischen und neue knüpfen.“

In allen Gesichtern las er jetzt Zufriedenheit und in sich selbst spürte er die beruhigende Bestätigung, dass er sich auf seine Männer verlassen konnte. Keiner würde zurückbleiben. Sie gehörten nun einmal zusammen.

Entgegen seinen sonstigen Gewohnheiten nahm Tiger für die kommende Nacht kein Mädchen mit in sein Zimmer. Wie er erwartet hatte, klopfte es spät am Abend.

Runner trat wortlos ein und warf sich auf einen der wackligen Stühle. Die Gästezimmer des MCs waren nur mit dem Notdürftigsten ausgestattet. Stabiles Mobiliar gab es selten.

„Das wird Probleme geben“, verkündete er.

Tiger hob die Hände in einer unschuldigen Geste.

„Sorry, aber nicht meine Entscheidung. Wenn Big Man hustet, führt man besser seine Anweisungen aus.“

„Du wirst es Wulf melden müssen, und der wird es an Chief Martinak weiterleiten.“

Tiger hob die Schultern. „Und? Wo ist das Problem? Du wirst dabei sein. Ork auch. Wir sind eine Einheit und das wissen deine Leute.“

Runner verdrehte die Augen. „Verdammt, Tiger, es geht darum, dass die USA-Wölfe nicht eingeweiht sind. Lediglich O’Brian und Bryan wissen, dass du und Ork von der Existenz der Wölfe Kenntnis haben.“

„Nun ja“, grinste Tiger. „Das macht das Ganze doch umso spannender. Du weißt, dass wir bisher den Mund gehalten haben. Und ich zumindest habe nicht vor, das zu ändern. Und Ork würde sich eher die Zunge abbeißen, als dich in die Pfanne zu hauen. Also was soll das Problem sein?“

„Das Problem ist, dass es drüben deutlich mehr Wölfe gibt als hier.“

„Mag sein, aber soweit ich das verstanden habe, verteilt sich das. Die Wahrscheinlichkeit, dass wir auf welche treffen, ist daher eher gering.“

„Du kennst meine Meinung zu Wahrscheinlichkeiten“, grollte Runner. „Ich hätte zum Beispiel nie geglaubt, dass Martinak dich und Ork am Leben lässt. Die Wahrscheinlichkeit tendierte gegen Null. Trotzdem sitzt du noch hier.“

„Ich habe eben ein einnehmendes Wesen“, grinste Tiger.

Runner schnaubte nur.

Natürlich wusste Tiger, dass sein Bruder recht hatte. Inzwischen war er bereits einige Male vom Chief der Europe Security kontaktiert worden. Dieser Mann war ein knallharter Vertreter seiner Art und ihm war durchaus bewusst, dass er diesem riesigen Wolf körperlich unterlegen war, obwohl er selbst mit seinen beinahe zwei Metern Körpergröße kein Zwerg war.

Kriegerwölfe waren nun mal eine Hausnummer für sich.

Es quälte ihn mehr, als er gedacht hätte, dass er Big Man nichts von seinen neuen Bekannten erzählen durfte. Seit er und Ork vor einem Jahr erfahren hatten, dass sein bester Mann ein Werwolf war, plagte ihn das schlechte Gewissen, nichts verraten zu dürfen. Doch Martinaks Drohung war unmissverständlich gewesen. Erwähnte Tiger diese Tatsache, würde Bikerblut fließen, und ihm war nur zu bewusst, dass auch seine kampferprobten Männer keine Chance gegen ein Rudel Kriegerwölfe hatten.

Also hielt er den Mund und nahm möglichst unauffällig Aufträge von Martinak entgegen. Meistens handelte es sich um Angelegenheiten, die Ork, Runner und er selbst problemlos allein ausführen konnten. Das Erkunden diverser Örtlichkeiten, das Überbringen von Informationen oder Päckchen und einmal auch das Einschüchtern eines kriminellen Kerls, der offenbar an einen Wolf Drogen vertickt hatte. Nichts Aufregendes also, und bisher hatte er den Rest seiner Truppe heraushalten können. Doch ihm war bewusst, dass sich das jederzeit ändern konnte.

„Ich werde die beiden informieren“, lenkte er ein. „Aber Tatsache ist, dass ich Big Man nicht davon abbringen kann. Also werde ich den Schwanz einziehen und in die Staaten reisen. Auch wenn mich das ankotzt.“

Runner nickte. Er wirkte beruhigter. „Glaub nicht, dass ich das nicht nachvollziehen kann. Aber ich denke, wenn du zuerst mit Wulf redest, hast du gute Karten, dass er dir mit Martinak helfen wird. Er mag dich irgendwie, obwohl er unsere Geschäfte zum Kotzen findet.“

Tiger grinste breit. „Nun ja, er selbst ist ja auch kein Sonnenschein. Immerhin hat er den vorherigen Rudelführer beinahe umgelegt.“