Wandlerin

Tekst
Autor:
Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Erstkontakt der unangenehmen Art

Morton, Illinois

Es war mitten in der Nacht als Erdil und Leo das Haus erreichten, in dem sie Karina Wells vermuteten.

Offiziell wohnte hier eine Carol Vaughan, und zwar bereits seit vier Jahren. Carol Vaughan galt als beliebt an der örtlichen High School und hob sich bisher allenfalls durch ihre Unauffälligkeit hervor. Erdil hatte während des Flugs die alten Fotos von Karina Wells mit dem Lehrerbild der High-School-Homepage verglichen und war zum gleichen Schluss gekommen wie Freaky, alias Martin Hicks. Karina Wells trug vor ihrer Entführung lange, blonde Haare, war etwa eins achtzig groß, schlank und durchaus attraktiv. Carol Vaughans Bild zeigte braunes, stufig geschnittenes Haar. Ihre Personalakte bezeugte die gleiche Größe wie von Karina Wells, doch ihre Schultern waren breiter, nahezu athletisch. Die Gesichter ähnelten sich sehr. Beide hatten braune Augen. Doch Carols Gesichtszüge waren hagerer, schärfer ausgeprägt. Und während Karina meistens fröhlich und freundlich der Linse entgegensah, blickte Carol ernst und verschlossen.

Erdil hatte das Bild lange betrachtet. In ihm war kein Zweifel, dass diese Personen identisch waren. Und die Unterschiede ließen sich sehr gut nachvollziehen. Die Erlebnisse dieser Frau hatten mit Sicherheit ihre Spuren hinterlassen.

Jetzt betrachtete er das Haus, in dem Carol Vaughan wohnte. Es war eines der kleineren Gebäude in diesem Viertel und eingeschossig. Rundherum ragten die Nachbarhäuser auf, alle deutlich größer und moderner.

Erdil wusste, dass das Haus zwei Eingänge besaß. Nach hinten ging es in einen winzigen Garten hinaus. Trotz der nächtlichen Stunde brannte noch Licht im Schlafzimmer.

„Sie ist wohl noch wach“, brummte Leo ihm ins Ohr.

Erdil nickte knapp. Offensichtliches kommentierte er ungern.

Ihm wäre es lieber gewesen, wenn sie die Frau im Schlaf überrascht hätten. Doch noch länger warten wollte er auch nicht.

„Du überwachst den Hinterausgang“, befahl er. „Ich werde klingeln und versuchen, mit ihr zu reden. Wenn sie flieht, halte sie fest. Aber sei vorsichtig, sie soll sehr stark sein.“

Leo schnaufte verächtlich, nickte aber und setzte sich in Bewegung.

Erdil sah ihm ärgerlich hinterher. Leo war ein guter Mann, doch er dachte selten weit genug. In seiner Vorstellung waren Frauen nicht stark, sondern schutzbedürftig.

Das war ein Fehler, wusste Erdil. Er hatte in seinem langen Leben schon viele starke Frauen kennengelernt. Exzellente Kämpferinnen, gegen die er nur schwer bestehen konnte. Zumindest in seinen jüngeren Jahren.

Von Karina Wells wussten sie im Prinzip gar nichts. Nur, dass sie auf der Flucht war. Wäre er selbst in ihrer Situation, würde er dafür sorgen, kein leichtes Opfer zu sein. Es gab viele Möglichkeiten, sich körperlich fit zu halten und das Kämpfen zu lernen, ohne großartig aufzufallen. Von Carol Vaughan war nichts in der Richtung bekannt, doch das hieß noch lange nicht, dass sie harmlos und hilflos war.

Er gab Leo ein paar Minuten Zeit, sich in Position zu bringen. Dann ging er langsam über die Straße auf das kleine Haus zu.

Die Klingel war schrill und ließ ihn unwillkürlich zusammenzucken. Gespannt lauschte er nach Geräuschen.

Leise Schritte klangen auf. Erst zügig, doch dann wurden sie langsamer. Erdil schluckte einen Fluch hinunter.

Ihr Geruch war überall wahrnehmbar und eindeutig. Noch nie war er ihr so nahegekommen. Er musste sich zwingen, ruhig zu bleiben. Doch wenn er sie witterte, konnte sie auch seinen Geruch wahrnehmen. Ob sie diesen zuordnen konnte?


Karina verharrte wenige Meter vor der Haustür und witterte nervös nach dem Besucher. Der Geruch war ihr fremd. Und doch auch wieder nicht. Draußen vor der Tür stand ein ihr unbekannter Mann, der nicht nur nach Testosteron und Adrenalin stank. Es dauerte einige Sekunden, bis sie erkannte, was sie verwirrte. Von ihm ging ein eigentümlicher Geruch aus, der sie an Asche erinnerte.

Sie selbst trug ihn auch.

Seit sie zu einem Monster geworden war.

Angst kroch in ihr hoch. War dieser Mann ein Monster so wie sie? Jagte er sie? Seine Ausdünstungen ließen darauf schließen. Männer stanken genau so, wenn sie kurz vor einem Kampf standen.

Die Erkenntnis, dass sie aufgeflogen war, ließ sie kurz die Augen schließen. Ein verzweifelter Laut entglitt ihr.

Langsam bewegte sie sich wieder rückwärts zum Schlafzimmer, ohne die Haustür aus den Augen zu lassen.

Ein lauter Fluch von draußen ließ sie zusammenzucken. Eine Sekunde später zersplitterte die Haustür mit einem Krachen.

Karina drehte sich um und rannte los, quer durch die große Wohnküche zur Hintertür.

Kaum hatte sie diese aufgerissen, da nahm sie auch schon den zweiten Mann wahr, der gerade auf sie zu hechtete. Er war etwas größer als sie und von athletischer Gestalt. Und er bewegte sich sehr schnell.

Ihre Sinne erkannten sofort, dass vor ihr kein normaler Mensch stand. Sein Infrarotbild war gedämpfter und die Hitzeverteilung in seinem Körper völlig untypisch für einen Menschen.

Und auch er trug diesen Asche-Geruch an sich.

Zögern war keine Option. Mit jedem Schritt mehr nahm sie Fahrt auf. Sie versuchte gar nicht erst, ihrem Angreifer auszuweichen. Mit geballten Fäusten rannte sie ungebremst in ihn hinein.

Ihr Schlag traf punktgenau sein Kinn. Gleichzeitig krachte ihr Bein in seinen Schritt.

Die Augen des Mannes glommen gelb auf und mit einem Ächzen ging er in die Knie, um dann langsam nach hinten zu kippen.

Gerade noch rechtzeitig vernahm sie den Luftzug des Schlags, der sie von hinten treffen sollte, und wich zur Seite aus, direkt in den zweiten Hieb. Er traf sie hart gegen die rechte Schulter und ließ sie nach vorne taumeln. Beinahe wäre sie über den am Boden liegenden Mann gestolpert. Es gelang ihr gerade so, sich abzurollen und wieder auf die Beine zu springen.

„Bleib stehen!“

Die Stimme klang hart und unbarmherzig. Karina wirbelte herum und starrte den Mann an. Sein Gesicht war im Dunkeln nicht zu erkennen, doch seine Augen flammten in einem bekannten Gelb. Er war größer als sie und seine Körperspannung verriet den Kämpfer.

Nur für einen Moment überlegte Karina, ob sie tatsächlich aufgeben sollte. Vor ihr stand ein Krieger, das spürte sie instinktiv, und sie selbst hatte nie kämpfen gelernt. Vielleicht war sie ihm an Kraft überlegen, doch ihre Angst überwog. Alles an ihm, sein Geruch und seine Haltung, wirkten bedrohlich.

In dem Moment, in dem sie sich zur Flucht entschloss, sprang er vor. Es gelang ihr nur knapp, ihm auszuweichen. Er war unglaublich schnell. Schneller noch als sein Mitstreiter, der immer noch am Boden lag. Seine Bewegungen waren fließend und kontrolliert. Sie sah den Schlag erst im letzten Moment und reagierte beinahe zu spät. Die Faust streifte ihre Schläfe und ließ sie zurücktorkeln.

Eine Hand umfasste ihren Knöchel und brachte sie zu Fall. Der zweite Mann rappelte sich mit einem ächzenden Fluch hoch, während er versuchte, sie an sich heranzuziehen.

Mit einem verzweifelten Schrei schwang sie das andere Bein herum und traf ihn an der Brust. Er flog mit einem wütenden Brüllen etliche Meter weit nach hinten. Gerade noch rechtzeitig rollte sie herum, um dem Tritt des Zweiten zu entgehen. Wieder trat sie zu, mit all ihrer Verzweiflung.

Erdil sah das Bein auf sich zu kommen und drehte sich instinktiv zur Seite. Doch diese Frau war so verdammt schnell, dass sie ihn trotzdem erwischte. Ein höllischer Schmerz schoss durch seine Hüfte und er wurde heftig herumgewirbelt.

Die Wucht des Treffers ließ ihn, ebenso wie Leo, einige Meter über den Boden schlittern und raubte ihm schlichtweg den Atem. Es dauerte etliche Sekunden, bis er sich wieder aufrichten konnte.

Von Karina Wells war nichts mehr zu sehen.

Mit einem Wutschrei torkelte er zu Leo, der sich ebenfalls bemühte, auf die Beine zu kommen.

„Zur Hölle“, keuchte Leo. „Dieses Weib hat echt ‘nen Tritt drauf.“

„Du sagst es“, knurrte Erdil mit deutlicher Frustration in der Stimme. Seine Hüfte schmerzte immer noch abscheulich und ließ ihn humpeln. Keine Chance, Karina Wells zu verfolgen.

„Shit“, fluchte er und stützte sich schwer atmend mit den Händen auf seinen Oberschenkeln ab. „Dieses Miststück ist wirklich stark.“

„Und schnell“, legte Leo nach. „Die ist losgerannt wie der Teufel.“

„Verdammt!“ Erdil richtete sich auf. „Wir hatten sie schon!“

Leo grinste ihn schräg an.

„Das bist du nicht gewöhnt, nicht wahr? Ich ehrlicherweise auch nicht. Dass ein Weib so stark ist, ist echt nicht normal.“

Erdil konnte ihm nur zustimmen. Diese Niederlage kratzte arg an seinem Selbstbewusstsein. Karina Wells hatte ihn allein durch Körperkraft ausknocken können. Und ihre Bewegungen und ihre Ausdünstungen hatten ihm sofort verraten, dass sie solche Auseinandersetzungen nicht gewöhnt war. Eine ausgebildete Kämpferin war sie definitiv nicht.

 

Daher war es umso frustrierender, dass ihr trotzdem die Flucht gelungen war.

„Wir brauchen Hilfe!“ Leo sprach aus, was Erdil ebenfalls durch den Kopf geschossen war. Doch es schmeckte zu sehr nach Niederlage, diese Worte in den Mund zu nehmen.

„Immerhin waren wir noch nie so nahe an ihr dran“, grinste Leo und rieb sich die schmerzende Brust. „Zur Hölle, mir ist noch nie dermaßen die Luft weggeblieben.“

„Ist was gebrochen?“

„Ich glaube nicht, aber es war knapp daran.“

Ob diese Frau all ihre Kraft eingesetzt hatte? Oder hatte sie sich zurückgehalten? Erdil griff zu seinem Smartphone. Es hatte keinen Zweck zu warten. Karina Wells Spuren waren so frisch wie nie. Sie durften sie nicht wieder verlieren.


Sie rannte sprichwörtlich um ihr Leben. Hinaus in die Nacht, über die Straßen, durch Gärten und Höfe, bis ihre Lungen brannten. Erst dann wurde Karina langsamer. Irgendwann blieb sie schließlich vornübergebeugt stehen und rang nach Atem.

Nur kurz blitzte Triumph in ihr hoch. Sie hatte es geschafft, diesen Männern zu entkommen! Und das, ohne dass jemand nennenswert verletzt worden war. Ihr Hochgefühl hielt nicht lange an und wurde von Verzweiflung abgelöst.

Wieder war sie auf der Flucht. Und wieder würde sie bei null anfangen müssen. Keine Kleidung, kein Geld und keine sichere Identität mehr.

Karina ballte entschlossen die Fäuste. Was sie einmal geschafft hatte, würde auch ein zweites Mal gelingen. Doch zunächst musste sie Abstand zu ihren Verfolgern schaffen. Alles andere würde sich ergeben. Ob sie es wagen konnte, bei dem gleichen Mann neue Papiere zu kaufen wie vor fünf Jahren? Das barg gewisse Risiken in sich. Allerdings konnte es dauern, bis sie einen anderen Fälscher fand, da ihr schlichtweg die Kontakte zu solchen Leuten fehlten. Damals hatte sie einfach nur das Glück gehabt, in einer heruntergekommenen Bar an dem richtigen Tisch zu sitzen. Pierre Gaubert besaß anscheinend den passenden Riecher, was potenzielle Kunden anging, und hatte sie ungeniert angesprochen. Karina hatte seine schmierige Art nicht gemocht und die Preise, die er verlangte, waren horrend.

Keine Frage, Pierre Gaubert besaß neben Menschenkenntnis auch Geschäftssinn – und wenig Skrupel, beides zu seinem Vorteil zu nutzen.

Karina hatte damals keine Wahl. Also zahlte sie und betrat ihr neues Leben als Carol Vaughan.

Doch jetzt ... Sie sah an sich herunter. Ihr Outfit würde sie wieder verändern müssen. Barfuß und in einen kurzen Pyjama gekleidet erregte sie mit Sicherheit Aufsehen.

Für einen Moment überlegte sie, ob sie heimlich zurückkehren sollte, um zumindest das Notwendigste einzupacken. Aber der Gedanke an die beiden großen Männer ließ sie diese Idee sofort wieder verwerfen. Noch einmal würden die nicht so leicht zu überrumpeln sein. Und sie machte sich nichts vor: Es war pures Glück gewesen, dass sie allein durch ihre Kraft und Schnelligkeit entkommen war.

Sie stieß einen Seufzer aus. Also würde sie wieder stehlen müssen. Etwas, was sie hasste wie die Pest.

Doch dieses Mal würde sie organisierter vorgehen. Sie war wild entschlossen, jedes Diebesgut bei passender Gelegenheit zu ersetzen.

Nun, ihr erstes Ziel war klar: Entkommen.

Entschlossen trabte sie los.

Shadow Riders

August 2021

Mitten in den USA

An die Vereinigten Staaten von Amerika würde er sich gewöhnen können. Tiger genoss es, den Fahrtwind zu spüren, während sie die schnurgerade Fahrbahn entlang brausten. Die Weite der Landschaft war beeindruckend und die Straßen schienen nie ein Ende zu nehmen.

Gelegenheit genug, die Gedanken schweifen zu lassen.

Seit etwa drei Wochen kurvten sie quer durch die Staaten. Die grobe Richtung war westwärts, doch seine Liste der MCs, die sie abklapperten, zwang sie immer wieder zu Kursänderungen. Entsprechend abwechslungsreich gestaltete sich die Fahrt, und die Stimmung der Road Bastards war ziemlich gut.

Auch Bernart Dierolf hielt sich wacker. Für einen Hobby-Biker fuhr er einen heißen Reifen und scheute kein Wagnis. Nun, wenn man Wolf war, konnte man sich wohl einige Risiken leisten. Tiger hatte sich inzwischen an den Gedanken gewöhnt, dass es Werwölfe gab. Das hieß aber nicht, dass er diese Biester sympathisch fand.

Runner war sein Bruder. Das war klar. Ihm vertraute er, wenn nötig, auch sein Leben an. Doch die Kriegerwölfe in Europa waren ein anderes Kapitel. Sie waren eindeutig gefährlich und lebten nach eigenen Regeln und Moralvorstellungen. Nun ja, das taten die Road Bastards natürlich auch. Weswegen sie vermutlich so gut mit den Wölfen zusammen arbeiteten. Freundschaft verband sie aber keinesfalls. Sie respektierten sich, das war auch schon alles.

Bernart Dierolf war ihm dagegen immer noch ein Rätsel. Dieser Wolf war genauso knurrig und brummig wie Runner und strahlte eine düstere Seite aus, die Tiger noch nicht ergründen konnte. Runner hatte ihm verraten, dass Dierolf ein Außenseiter in seinem Volk war, und lange Zeit von seinen Artgenossen gejagt wurde. Außerdem war er wohl ziemlich alt. Runner hatte ihn auf über dreihundert Jahre geschätzt, und Tiger würde dem nicht widersprechen. In den Augen des Wolfes konnte man lesen, dass er schon viel erlebt und mit Sicherheit auch durchlitten hatte.

Trotzdem wirkte er nicht verbittert oder lebensmüde.

Aber er hielt Abstand. Und beobachtete.

Tiger fing an, Dierolf trotz seiner Rätselhaftigkeit zu mögen. Zumal dieser sich nahtlos in die Hierarchie und die Aktivitäten der Outlaws einfügte. Die Jungs genossen es, den „Alten“ zu piesacken, und drückten ihm sämtliche ungeliebten Arbeiten auf. Er schluckte es ohne Murren, so wie es sich für einen angehenden Prospect gehörte. Manchmal hatte Tiger sogar den Eindruck, dass der Wolf sich amüsierte.

Er war gespannt, ob das so bleiben würde. So manch gestandener Mann hatte schon nach wenigen Wochen aufgegeben und die Anwärter-Zeit abgebrochen. Oder sie schlichtweg nicht überlebt. Dierolf traute er es zu, durchzuhalten. Der Mann wirkte wie einer, der, einmal angefangen, alles durchzog. Egal wie. Und das imponierte Tiger.

Bisher war der Wolf auch in den MCs gut angekommen. Er hatte sich bei Bedarf ein Mädchen gekrallt, einige Schlägereien mühelos überstanden und war respektvoll geblieben. Gute Voraussetzungen für ein Leben bei den Bastards.

Das Einzige, was nervte, war, dass Dierolf inoffiziell Babysitter spielte. Er mischte sich nicht in die Geschäfte der Bastards ein, doch für Tigers Geschmack bekam er trotzdem zu viel mit.

Kriminalität war auch bei Wölfen nicht erwünscht, das hatte Tiger von Chief Martinak mehrfach unter die Nase gerieben bekommen. Natürlich hielt ihn das nicht davon ab, seinen Geschäften trotzdem nachzugehen. Sie waren schließlich Teil seines Jobs. Doch je weniger die Wölfe erfuhren, desto besser.

Und Bernart Dierolf war ein Unsicherheitsfaktor, da gab er sich keinen Illusionen hin. Je mehr der Wolf erfuhr, desto mehr Ärger konnte er machen. Aber noch war Tiger nicht eingefallen, wie er seinen „Babysitter“ unauffällig loswerden konnte. Und Runner war in dem Fall auch keine Hilfe, zumal er sich mit Dierolf immer besser verstand. Die zwei Wölfe hatten zunächst Abstand gewahrt. Aber das Zusammenfahren schweißte automatisch zusammen und die beiden schienen sich inzwischen zu respektieren.

Tiger warf einen Blick auf sein Navi. Zwei Stunden Fahrt lagen noch vor ihnen. Zeit für einen Tankstopp.

Bei dem nächsten Hinweisschild gab er das entsprechende Handzeichen. Kurze danach fuhren sie auf den ausgewiesenen Rastplatz, direkt vor die Zapfsäulen.

Wie immer fielen sie auf. Neugierige, vor allem aber furchtsame Blicke glitten über die Biker.

Tiger nickte Dierolf zu, während er abstieg, und grinste dabei zufrieden. Doch, es war äußerst angenehm, wieder einen Anwärter in seiner Truppe zu haben.

Bis auf Dierolf marschierten alle Richtung Shop.

Der Wolf fing kommentarlos an, die Maschinen zu betanken.

Eine halbe Stunde später waren die Bikes mit Sprit und die Biker mit Kaffee abgefüllt.

Auch Dierolf konnte einen Becher der schwarzen Plörre ergattern, mit dem er sich sofort wieder nach draußen verzog, um auf die Bikes aufzupassen. Zwar war es äußerst unwahrscheinlich, dass irgendjemand es wagen würde, den Motorrädern zu nahe zu kommen, aber Tiger ging kein Risiko ein. Die Gepflogenheiten dieses Landes waren ihm noch zu fremd, und sie konnten sich keinen unnötigen Ärger leisten.

Runner stieß ihn von der Seite an und zeigte mit dem Kinn nach draußen.

Tiger folgte seinem Blick und erhob sich dann langsam.

Bernart Dierolf hatte seine lässige Haltung verloren und stand wachsam mit verschränkten Armen vor den Bikes. Jetzt sah Tiger auch den Grund für seine Anspannung.

Acht schwere Motorräder rollten auf die Zapfsäulen zu. Ihre Fahrer wirkten wie aus einem finsteren Bikerfilm. Schwarzes Leder von oben bis unten, schwarze, geschlossene Helme und eine ebenso schwarze Kutte. Auf dem Rücken stand der Schriftzug „Shadow Riders MC“. Das Logo darunter zeigte einen schwarzen Harleyfahrer auf weißem Grund. Tiger vermisste die Orts-Kennzeichnung. Ob das auch Nomads waren? Ein wanderndes Chapter?

„Fuck!“, murmelte Runner neben ihm.

„Warum?“

„Wölfe!“, kam die leise gezischte Antwort.

Tiger hob überrascht die Augenbrauen. „Alle?“

„Sieht so aus!“

Runner wirkte ebenso überrascht wie er selbst.

Der Clubname sagte Tiger nichts, was nicht viel heißen musste. MCs gab es wie Sand am Meer. Allerdings bezweifelte Tiger, dass es viele Clubs gab, deren Mitglieder aus Werwölfen bestanden. Auch Runners Gesicht ließ ihn das bezweifeln.

Inzwischen waren auch die anderen Nomads aufmerksam geworden und sie stiefelten geschlossen nach draußen.

Dass Ärger in der Luft lag, rochen sogar Menschennasen.

Die Shadow Riders waren mittlerweile abgestiegen und hatten sich vor Dierolf aufgebaut. Dieser ließ sich ganz offensichtlich nicht davon einschüchtern, was ihm in Tigers Augen einen weiteren Pluspunkt einbrachte. Ohne ein Wort stellte er sich neben Dierolf und verschränkte ebenfalls die Arme. Runner begab sich auf Dierolfs andere Seite, während die restlichen Nomads sich hinter ihnen positionierten.

Niemand sprach ein Wort, aber die Luft war geschwängert mit Aggressivität und Misstrauen. Eine gefährliche Mischung.

Schließlich zog sich der Anführer der Biker den Helm vom Kopf und Tiger blickte in wolfsgrüne Augen. Die anderen Biker folgten dem Beispiel.

Tiger zwang sich, nicht zu blinzeln. Runner hatte tatsächlich recht (nicht, dass er es eine Sekunde bezweifelt hätte). Alle Biker hatten Wolfsaugen. Und alle wirkten, freundlich ausgedrückt, ziemlich angefressen. Der President der Truppe ließ seinen Blick zwischen Runner, Dierolf und Tiger schweifen und schien unentschlossen zu sein, wen er anzusprechen hatte.

„Ich bin Tiger“, nahm dieser ihm schließlich die Entscheidung ab. „President der Nomads von den Road Bastards. Gibt es irgendein Problem?“

„Sag du es mir“, knurrte der andere zurück. Seinen Patches auf der Kutte hatte Tiger längst entnommen, dass vor ihm Storm, President der Shadow Riders und ein ganz böser Junge stand. Patches waren da sehr informativ, wenn man sie lesen konnte. Genauso war für Storm zu sehen, dass Tiger auch kein Waisenknabe war. Zumindest was die Menge an Patches anging, waren sie sich ebenbürtig. Und dass sich beide zu den Outlaws zählten, war ebenso ersichtlich.

Storm war groß. Nicht ganz so groß wie Tiger, aber er kam nahe heran. Breite Schultern und dicke Oberarme verrieten, dass er kein leichter Gegner sein würde. Der President trug lange schwarze Haare und einen genauso schwarzen Zottelbart. Das Misstrauen quoll aus jeder seiner Poren.

 

„Wir haben keins“, grinste Tiger und hielt dem Blickduell stand.

„Was machen deutsche Bastards hier?“

„Wir sind geschäftlich unterwegs.“

Das war nicht gelogen, und Tiger wusste, dass der Wolf vor ihm das riechen konnte. In diesem Fall sehr praktisch. Ansonsten ziemlich lästig.

Storm sah zu Runner und Dierolf.

„Und was machen die beiden bei euch?“

„Runner ist schon seit Jahren unser Bruder. Und Dierolf ...“ Tiger warf einen amüsierten Blick zu Bernart. „Nun, er versucht sich seit ein paar Tagen als Biker.“

Storm sah auf die Tätowierungen an Dierolfs Armen und stieß ein genervtes „Fuck“ aus, was Tiger noch breiter grinsen ließ. Offensichtlich hatte der Biker jetzt erst erkannt, dass vor ihm ein Ranger stand. Er wirkte nicht gerade glücklich darüber. Tiger hatte vollstes Verständnis dafür.

Er beugte sich vor.

„Sagt dir der Name Martinak was?“

Dierolf murmelte einen leisen Fluch, der irgendwie nach „Biker-Idiot“ klang.

Storm ließ eine Augenbraue nach oben wandern.

„Du meinst nicht zufällig den Chief der Europe Security?“

„Genau den. Er hat mir höchstpersönlich die Erlaubnis erteilt, einen Trip durch euer reizendes Land zu machen. Und Chief Bryan hat ebenfalls zugestimmt.“

Storm sah zu Dierolf, der nicht eine Miene verzog. Dann blickte er zu den anderen Nomads, die mit verkniffenen Gesichtern die Shadow Riders im Blick behielten.

Tiger war klar, dass er ein gefährliches Spiel betrieb. Bis auf Ork waren seine Männer ahnungslos. Den Namen Martinak kannten sie zwar, die Hintergründe jedoch nicht. Und es war eindeutig besser, wenn das auch so blieb.

Allerdings wirkten die Shadow Riders hochgradig nervös. Vermutlich weil zwei Wölfe mit ihm fuhren. Sicher war er sich aber nicht. Also galt es herauszufinden, was Storms Problem war. Und dieser sah das offenbar genauso.

„Ich schätze, wir sollten reden.“ Storm wies mit dem Kinn zu einer Bank, die einsam auf dem Parkplatz stand. Weit genug weg, um selbst Wolfsohren auszuschließen.

Tiger nickte und die beiden Männer stiefelten nebeneinander los. Zu Tigers Erleichterung blieb Dierolf zurück.

Guter Mann. Er beschloss, dem Wolf bei nächster Gelegenheit mindestens ein Bier zu spendieren.

Sie hockten sich einander gegenüber und starrten sich wieder an.

Diesmal brach Storm das Schweigen. „Jetzt bin ich echt gespannt.“

Tiger grinste dünn. „Kann ich mir vorstellen. Also gut. Ich fasse mich kurz. Seit etwa eineinhalb Jahren weiß ich, dass Runner Wolf ist.“

„Und du lebst noch, weil ...?“

„Ork und ich haben ihm und seinem Rudel geholfen, ein paar miese Frauenschänder zu stellen. Martinak war davon zumindest so angetan, dass er uns eine Chance eingeräumt hat. Ab und zu übernehmen wir für ihn Drecksarbeit, dafür lässt er uns in Ruhe.“

„Was ist mit deinen anderen Männern?“

„Die sind ahnungslos.“

Storm hob zweifelnd die Augenbrauen. „Und du glaubst, das bleibt so?“

Tiger zuckte mit den Schultern. „Bis jetzt hat es funktioniert. Alles andere wird sich zeigen.“

„Und was macht der Ranger in deiner Truppe?“

„Dierolf?“ Tiger stieß ein amüsiertes Grunzen aus. „Er spielt für die Dauer unseres Aufenthalts den Babysitter. Euer Chief Bryan traut mir wohl nicht allzu sehr. Aber ich will mich nicht beschweren. Der Mann scheint in Ordnung zu sein. Und er erfüllt seine Pflichten als Anwärter tadellos.“

Storm entglitt ein ungläubiges Schnauben.

„Anwärter? Im Ernst? Fuck, das höre ich zum ersten Mal. Normalerweise machen die Kerle so einen Scheiß nicht mit. Zumindest die Krieger nicht.“

„Ich vermute mal, ihr seid keine Freunde.“

Storm verzog das Gesicht. „Wohl wahr.“

„Wenn die Ranger so drauf sind wie Martinaks Leute, kann ich das sehr gut verstehen.“

„Also gut, das wäre geklärt. Jetzt verrate mir noch, was du in den Staaten zu suchen hast.“

Tiger lehnte sich zurück und betrachtete seine Fingernägel.

„Nun, sagen wir mal so. Ich muss für einige Zeit ein paar Meilen zwischen mich und das Good Old Germany legen. Eine hervorragende Gelegenheit, um alte Geschäftskontakte aufzumöbeln und neue zu knüpfen. Mein Pres, Big Man, hat mir entsprechende Vollmachten erteilt.“

„Big Man, hmm?“ Offenbar kannte Storm den Namen und er wirkte beeindruckt. „Hab gehört, dass dieser Bastard ein ziemlich abgefuckter Arsch ist.“

Tiger lächelte schmal.

„Mag sein. Aber er ist ein ausgesprochen intelligenter abgefuckter Arsch. Und zufällig mein Boss.“

„Sorry, aber wenn du kein Problem damit hast für einen abgefuckten Arsch zu arbeiten, was sagt das dann über dich aus?“

„Na was wohl?“ Tigers Lächeln verzog sich zu einem breiten Grinsen. „Ich habe mir sagen lassen, dass ich ein noch größerer Arsch sein kann. Aber jetzt weißt du das Wichtigste von mir. Was ist mit dir und deinen Jungs? Probleme mit den Rangers?“

Es war ein Schuss ins Blaue, aber er saß.

Storm verzog wieder das Gesicht.

„Wir sind definitiv keine Freunde“, gab er dann zu. „Unsere Babysitter tauchen ab und zu auf und machen Stress. Nichts, womit wir nicht klarkommen.“

Das glaubte Tiger ihm sofort. Ihm war nicht entgangen, dass die Mitglieder der Shadow Riders schwerstes Kaliber waren. Dafür hatte er eine gute Nase. Mit Sicherheit hatten alle eine Menge Dreck am Stecken. Das machte sie geradezu sympathisch. Er bohrte nicht weiter nach. Wölfe waren ein misstrauisches Volk, das hatte er inzwischen gelernt. Und noch waren sie keine Freunde.

„Wo wollt ihr als Nächstes hin?“, fragte der Rider.

„Den Rebel Corps einen Besuch abstatten.“

„Geschäftspartner?“

„Noch nicht. Aber was nicht ist, kann ja vielleicht werden. Kennst du die Jungs?“

„Hab nur von Memphis, ihrem Pres gehört. Hat nen hohen Frauenverschleiß und steht auf Whiskey.“

Tiger entglitt ein amüsiertes Auflachen. „Hört sich an, als könnte Big Man ihn mögen. Ich werde es wohl bald wissen. Was ist mit euch? Habt ihr ein Ziel?“

„Kein Clubhaus, kein Ziel.“

Storm schien nachzudenken. Seinem Gesicht sah man es nicht an, doch in den grünen Augen las Tiger umso mehr. Der Mann vor ihm war hochgradig neugierig.

„Normalerweise gehen mir andere MCs am Arsch vorbei“, meinte der Rider schließlich. „Aber dass Kerle wie du mit der Erlaubnis der Chiefs Geschäfte tätigen, ist mir ehrlich gesagt ein Rätsel. Wissen die wirklich, was du hier treibst?“

Wieder musste Tiger grinsen. Das reichte, um Storm auflachen zu lassen.

„Dachte ich‘s mir doch. Und dieser Dierolf? Peilt er die Situation?“

Tiger sah zu besagtem Wolf, der mit finsterer Miene und verschränkten Armen die beiden Presidents nicht aus den Augen ließ. Als sich ihre Blicke trafen, hob Dierolf nur kurz den Mittelfinger. Auch Storm entging das nicht.

„Anscheinend schon“, grinste er. „Aber du solltest ihm nicht trauen. Ranger sind verdammt beschissene Moralapostel.“

Tiger zuckte die Schultern. „Ich schätze mal, er ist ein Sonderfall. Wenn du mehr wissen willst, frag Runner. Der kann dir eine Menge Storys über Bernart Dierolf erzählen. Der Mann scheint in Europa eine Legende zu sein.“

„Und warum ist er hier?“

Wieder hob Tiger die Schultern. „Hat sich wohl mit so ziemlich jedem Leitwolf angelegt. Die wollten ihn loswerden. Und da er seit kurzem der Schwiegervater von Tucker O’Brian ist, hat es ihn irgendwie hierher verschlagen.“

„Fuck!“ Der Rider sah ihn ungläubig an. „Du redest nicht von dem Tucker O’Brian?“

„Ich kenne nur einen“, antwortete Tiger trocken. „Und der ist Rudelführer in Minnesota.“

„Fuck“, wiederholte Storm. „Der Mann ist eine Legende.“

„Möglich, das kannst du wohl besser beurteilen. Ich habe ihn nur kurz getroffen. Vermutlich verdanke ich ihm sogar mein Leben. Runner meint, dass er Martinak dazu gebracht hat, Ork und mich nicht zu Frischfleisch zu verarbeiten.“ Er verzog das Gesicht zu einer grimmigen Miene. „Nicht, dass ich es ihm leicht gemacht hätte.“

Storms Neugier war jetzt deutlich zu erkennen. Er lehnte sich zurück und betrachtete Tiger mit verkniffener Miene.

„Okay“, meinte er schließlich. „Ich gebe zu, das klingt interessant. Ein Outlaw, der Kriegerwölfen eine lange Nase dreht und mit Legenden auf Du und Du steht. Das schreit geradezu nach Ärger. Ihr braucht nicht zufällig noch ein paar Fremdenführer?“

Tiger konnte ein zufriedenes Grinsen nicht unterdrücken.

Halleluja. Das versprach interessant zu werden. Wenn er sich nicht täuschte, genossen diese Wölfe einen einschüchternden Ruf bei den örtlichen MCs. Mit ihnen im Gefolge würde er mit Sicherheit schneller das Vertrauen anderer Outlaws gewinnen. Und das hieß: weniger Zeiteinsatz und weniger Stress.

„Ich denke, Fremdenführer kann man nie genug haben.“

Er streckte ihm die Hand hin und Storm schlug ein. Sein Händedruck war schmerzhaft, aber Tiger verzog keine Miene. Solange es bei dieser Art von Kräftemessen blieb, war alles bestens.