Schlaflos

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Mit der Schlaflosigkeit fing es an, als ich mit Ende zwanzig mein Studium abgeschlossen hatte und wegen der neuen Arbeit von Bergen nach Oslo gezogen war. Morgens ging ich zur Arbeit, nachmittags probte ich mit einer meiner beiden Musikbands, abends war ich mit Freunden unterwegs. An den Wochenenden schrieb ich an meinem ersten Roman. Mein soziales Netzwerk war groß, meine Ambitionen riesig und dann traf ich auch noch Line.

Ich wohnte in einer kleinen, schmuddeligen, aber dafür eigenen Zweizimmerwohnung, ganz am Ende des Trondheimsveiens. Ich erinnere mich, wie sehr ich diese Wohnung liebte, auch wenn ich heute daran denken muss, dass dort meine Schlaflosigkeit ihren Anfang nahm. In dem kleinen Schlafzimmer, auf einem Boxspringbett von IKEA, lag ich nächtelang wach, hörte die letzte Tram, die nachts um eins vorbeiratterte, und die allererste morgens um fünf. Danach saß ich zitternd auf der Bettkante und war von einer unerklärlichen Unruhe erfüllt. Es war nichts Schlimmes passiert und würde auch nicht passieren. Ich würde genau dasselbe machen wie am Tag zuvor: mich duschen, anziehen, mir die Zähne putzen und zur Arbeit gehen, wo ich für das interne Informationsblatt der norwegischen Post Artikel schrieb. Die allergrößte Dramatik dieses Jobs bestand darin, Fotos von der Übergabe der riesigen Checks für die Angestellten des Monats zu knipsen. Wovor hatte ich Angst? Warum konnte ich nicht schlafen? Ich schaute in den Spiegel: Nichts davon zu sehen, dass ich die ganze Nacht über wach gelegen hatte. Und die Tage nach diesen schlaflosen Nächten verliefen überraschend gut. Und in der nächsten Nacht würde ich mit Sicherheit ja wieder schlafen können.

Doch ich konnte nicht mehr schlafen, es ging nichts mehr. Kein Schlaf – zwei, drei, vier Nächte hintereinander weg! Ich war so überrascht über dieses plötzliche Ausbleiben des Schlafes, dass ich es allen Bekannten erzählte, die mir über den Weg liefen, so wie nach einem Überfall auf offener Straße: Ich habe die beiden letzten Nächte nicht schlafen können! Wirklich wahr! Und ich habe keine Ahnung, warum!

Aber ich wollte auch gar nicht wissen, warum ich nicht schlafen konnte, ich wollte einfach nur schlafen. Ich ging wieder zum Arzt, dieses Mal zu einem anderen, der mir aber auch nur Schlaftabletten verschrieb. Was könnte denn noch helfen? Schlaftabletten waren das Einzige, das uns beiden einfiel – natürlich würde ich Tabletten nehmen müssen. Und anfangs halfen sie auch. Imovane, Apodorm, Stilnoct. Ich ging zum Arzt und bekam mein Rezept. Hatte ich die Tabletten aufgebraucht, schrieb mir ein Freund, der gerade sein Medizinstudium abgeschlossen hatte und nun zugelassener Arzt war, abends und am Wochenende neue Rezepte aus. Ab und an bekam ich von Freunden Schlaftabletten, die sie noch zu Hause rumliegen hatten. Wenn mein Pillendealer keine Zeit hatte, mich zu treffen, verabredeten wir ein Versteck, wo ich die Pillen einsammeln konnte. Ich hatte die Fantasie und die Überredungskunst eines Pillenjunkies. Ich konnte mir immer Tabletten beschaffen, versuchte aber auch immer, nicht durchblicken zu lassen, wie verzweifelt ich war. Einmal verabredete ich mich mit einer Freundin, die erzählt hatte, sie hätte noch eine Tablette bei sich zu Hause. Ich hatte drei Nächte hintereinander nicht schlafen können, es gab keine Alternative. Sie musste verreisen, also überredete ich sie, bevor sie losfuhr, die Tablette in einer Plastiktüte unter die Müllcontainer vor der Haustür zu legen. Ich lief im Sturzregen durch die Stadt zum vereinbarten Platz, legte mich auf den Boden und suchte so lange unter den Müllcontainern nach der Plastiktüte, bis ich sie fand. Glücklich lief ich nach Hause und hatte dabei die ganze Zeit meine Hand in der Hosentasche um den Blister gekrampft, der noch eine einzige Tablette enthielt.

Eine kleine Tablette nur und schon konnte ich nachts schlafen. Hatte ich am nächsten Tag in Bestform zu sein, konnte ich mich mit einer der kleinen Schlaftabletten begnügen. Als ich mein erstes Buch herausbrachte, ging es in der Nacht vor einem Interview gar nicht ohne Schlaftabletten. Ich hatte riesige Angst davor, wie ein Zombie dazuhocken, ich wollte als smart, cool und wach rüberkommen. Und ich wollte auf den Fotos gut aussehen. Das war in der Zeit, in der ich mir noch nicht eingestehen wollte, dass meine Schlafstörungen nicht aufhören wollten. Für mich waren die Schlafstörungen eine Extrabürde, die ich eine Weile tragen, aber eines Tages würde abwerfen können. In der Zwischenzeit versuchte ich, das anderen gegenüber so gut wie möglich zu verheimlichen und durchzuhalten. Also schluckte ich eine Schlaftablette, schlief fest, schlief lange und war am nächsten Tag ausgeruht.

Das war zu gut, um auch auf lange Sicht zu funktionieren. Die Tabletten verloren nach und nach an Wirkung und hatten am Ende gar keine mehr. Stattdessen wurde ich wirr und apathisch und mein Mund trocken.

Schlafmittel bringen keinen natürlichen Schlaf. Untersuchungen haben gezeigt, dass Menschen, die nur mit Schlaftabletten schlafen können, nicht genug jener tiefsten Gehirnwellen erzeugen, die Auskunft über die Tiefe und Qualität des Schlafes geben können.1 Schlaftabletten greifen die Rezeptoren an, die die Gehirnzellen daran hindern, Impulse auszusenden. Schlaftabletten, genau wie Alkohol, betäuben, darauf lässt sich kein Lebensstil aufbauen. Und dann gibt es auch noch all die anderen ungewollten Nebenwirkungen von Schlaftabletten, über die ich mir, als ich abhängig war – und abhängig war ich wirklich –, nicht im Klaren war: Schlaftabletten können vergesslich machen. Man macht Sachen, ohne sich darüber voll bewusst zu sein. Das Reaktionsvermögen kann am Tag darauf eingeschränkt sein, man kann zu einer Gefahr für den Straßenverkehr werden. Wenn man die Schlaftabletten dann absetzt, schläft man mitunter schlechter als vor Beginn der Einnahme. Und es kann noch schlimmer kommen. Eine große amerikanische Studie verglich 10.000 Patienten, die Schlaftabletten nahmen, um schlafen zu können, mit 20.000 anderen, die keine nahmen.2 Diejenigen, die Schlaftabletten einnahmen, hatten eine 4,6-prozentige Wahrscheinlichkeit, während der zweieinhalbjährigen Testphase zu sterben. Die Sterblichkeitsrate wurde größer, je mehr Tabletten man einnahm. Die Studie zeigte auch, was frühere Untersuchungen bereits angedeutet hatten, dass es einen Zusammenhang zwischen dem Verbrauch von Schlaftabletten und Krebserkrankungen gibt. Diejenigen, die Schlaftabletten einnahmen, hatten eine 30–40 % höhere Wahrscheinlichkeit, an Krebs zu erkranken!

Schlaftabletten funktionieren nicht und können mich das Leben kosten. Doch obwohl ich das jetzt weiß, hätte ich sie trotzdem genommen, wenn ich gewusst hätte, dass sie helfen. Ein Mensch, der drei Tage lang nichts zu essen bekommen hat, würde doch auch egal was essen, nur um keinen Hunger mehr haben zu müssen – und das trotz aller Warnungen zu den möglichen Nebenwirkungen, oder? Wenn man nicht schlafen kann, tut man wirklich alles, um doch nur ein paar Stunden schlafen zu können. Sie brauchen bloß die halbe Million Norweger – bei einer Bevölkerung von 5,2 Millionen – zu fragen, die heutzutage Schlaftabletten einnehmen, um schlafen zu können. Und der Verbrauch steigt. Von 2000 bis 2010 stieg der Verbrauch an Schlafmitteln allein in Norwegen von 6,9 % auf 11,1 %.3

Ich weiß nur von einem einzigen Menschen, der so wie ich an chronischer Insomnie leidet, aber fast alle anderen, die ich kenne, haben irgendwann einmal Schlaftabletten genommen. Und man braucht dafür nicht einmal, so wie ich, unter Müllcontainern herumzusuchen. Ein Freund von mir nahm das erste Mal während eines Krankenhausaufenthaltes Schlaftabletten – und nimmt sie immer noch. Jedes Mal, wenn er wieder alle aufgebraucht hat, loggt er sich auf der Internetseite seines Hausarztes ein, schreibt als Stichwort nur Schlaftabletten, und schon bekommt er sein Rezept. Nachgefragt wird nicht.

Auch wenn die Wirkung nachließ, nahm ich aus reiner Verzweiflung auch die folgenden zwei Jahre noch Tabletten. Einmal versuchte ich, die Schlaftabletten auszusetzen, um das System wieder auf null zu stellen und den Körper auf eine neue Runde vorzubereiten, aber das funktionierte nicht. Ich probierte auch sogenannte Einschlaftabletten, die noch weniger Wirkung hatten, aber nicht weniger belastende Nebenwirkungen. Die Medikamente arbeiteten nun gegen mich. Mein Gehirn hatte Stopp signalisiert. Nach drei Jahren Insomnie musste ich die Tabletten absetzen. Ohne sie ging es mir besser – auch wenn ich in der Zeit danach noch schlechter schlief. Das wiederum ließ mich sehr schnell nach anderen Dingen suchen, die meinem Schlaf helfen konnten. Aber bloß keine Schlaftabletten mehr, dachte ich. Es ist nun mehr als zwölf Jahre her, seit ich das letzte Mal Medikamente genommen habe, um schlafen zu können. Sollte ich nun wieder damit anfangen?

3

Bald ist es Nacht. Ich telefoniere mit einem Freund, der Arzt ist und dessen bessere Hälfte ebenfalls Schlafstörungen hat. Er hat mir schon mal geholfen, mit Ratschlägen und Rezepten. Ich fasse meine Krankengeschichte zusammen und lese ihm Abschnitte aus dem Beipackzettel vor.

»Wovor hast du Angst?«, fragt er mich.

»Das Medikament ist für psychisch Kranke. Ich will einfach nur schlafen! Ich möchte nichts nehmen, was mich irgendwie verändert.«

»Der Arzt hat dir ein Medikament in einer sehr niedrigen Dosierung verschrieben. Das solltest du probieren. Du hast nichts zu verlieren.«

Ich schlucke eine der kleinen Tabletten um halb elf, das ist viel zu früh am Abend für mich. Ohne Hilfsmittel würde ich um diese Zeit nicht schlafen können. Aber ich denke mal, wenn ich schon schummele, dann kann ich genauso gut versuchen, einen langen Schlaf rauszuschlagen. Ausnahmsweise gehe ich mal zusammen mit Line schlafen; sie schließt bald die Augen und wird ruhig. Das war eine der ersten Sachen, die ich von ihr kennenlernte, nämlich was für ein gutes Verhältnis zum Schlaf sie hatte und wie viel Schlaf sie brauchte. In den Phasen, in denen ich normal schlafen kann, scheint sie aber sogar noch doppelt so viel Schlaf zu brauchen wie ich. Jetzt schaue ich zu, wie sie einschläft, … jetzt kommt das leichte Zucken, als würde sie über eine Schwelle stolpern. Sie liegt in ihrer Lieblingshaltung mit gekreuzten Armen auf der Seite. Die Bettdecke verdeckt die untere Hälfte des Gesichts, lediglich die Nase schaut raus. Mucksmäuschenstill. Sie schläft und wird das auch noch viele weitere Stunden tun. Sie ist auf einer nächtlichen Reise, die jeder Schlafende unternimmt und die aus verschiedenen Abschnitten oder Schlafphasen zusammengesetzt ist: Zuerst die Einschlafphase, das Dösen zwischen Wachsein und Schlaf, dann die Leichtschlafphase, in der sie die Hälfte der Nacht verbringen wird. Das ist das Schlafniveau, zu dem wir jedes Mal, wenn wir von einer Schlafphase in die nächste wechseln, zurückkehren. Wir schlafen. Nach der ersten halben Stunde gehen wir in die Tiefschlafphase, den sogenannten Deltaschlaf über. In der Tiefschlafphase ist das Tor der Sinne zu. Ob die Kinder nun jammern oder nach uns rufen, Line würde nicht wie ich aus dem Bett hochfahren, denn ich scheine fast nie Tiefschlafphasen zu haben. Im Tiefschlaf bewegen sich die Augen nicht, die Muskeln entspannen sich zunehmend, das Gehirn ändert seinen Rhythmus und arbeitet nun in langsamen und tiefen Wellen, den sogenannten Deltawellen, die 0,5 bis 3 Zyklen pro Sekunde ausmachen. Das könnte man mit den sich bewegenden Wellen eines Schwimmbeckens vergleichen. Wenn das Becken voller Leute ist, die sich viel bewegen, entstehen viele kleine Wellen. Sind da weniger Leute, die sich auch noch weniger, aber im gleichen Takt bewegen, entstehen weniger, aber dafür höhere Wellen.4 So arbeitet unser Gehirn, wenn die Reize der Außenwelt des Nachts ausgeschaltet werden. Nach dem Tiefschlaf, der circa anderthalb Stunden andauert, gleiten wir wieder für einige Minuten zurück in den Leichtschlaf, bevor der REM-Schlaf oder Traumschlaf einsetzt, der sich wiederum von den anderen Schlafphasen unterscheidet: Die Gehirnwellen werden wieder kleiner und kürzer, die Augenbewegungen schneller, die Atemzüge unruhig und die Muskeln erschlaffen. Nachdem wir uns eine Weile in der ersten von mehreren REM-Schlafphasen befunden haben, wiederholt sich der Zyklus: Leichtschlaf, Tiefschlaf, Leichtschlaf, REM-Schlaf, Leichtschlaf, Tiefschlaf, Leichtschlaf, REM-Schlaf. Wachen wir nachts auf, dann höchstwahrscheinlich irgendwann zwischen diesen Phasen, die sich bis zum Aufwachen wiederholen. Diese sind jedoch nicht gleich lang. Je näher wir dem Punkt des Aufwachens kommen, desto kürzer werden die Tiefschlafphasen und desto länger die REM-Schlafphasen. Fast den gesamten Tiefschlaf bekommen wir in der ersten Nachthälfte. Kurz vor dem Aufwachen durchlaufen wir die längsten REM-Phasen.

 

Line schläft. Ich selbst liege hellwach da, blicke in den dunklen Raum und warte auf eine mich ereilende äußere Macht – von einem Pharmakonzern entwickelt und in einer Fabrik hergestellt –, die mich in den Schlaf befördern soll. Ohne das Wissen um eine kleine blaue Pille, die gerade dabei ist, sich in meinem Körper aufzulösen und ihre Wirkstoffe ins Blut und in mein Gehirn zu befördern, wäre ich schon längst wieder aufgestanden. Ich will die medizinische Wirkung nicht behindern, also lese ich nicht auf meinem iPad oder höre Musik oder schaue mir einen Film an. Stattdessen tue ich etwas, was ich schon jahrelang nicht mehr gemacht habe: Ich liege einfach nur da und warte.

Bald schon erfasst mich eine Schwere, die mich auf die Matratze und das Kopfkissen drückt. Meine Arme und Beine werden schwer, die Augen fallen mir zu und ich werde in so etwas wie Schlaf hineingezogen.

Schlaf ist nicht nur ein Grundzustand des Menschen, sondern dort beginnt und endet auch alles. Im Schlaf beginnen unsere Herzen das erste Mal zu schlagen, für die meisten hören sie auch im Schlaf wieder auf zu schlagen. Der Schlaf liegt wie Airbags um unsere Existenz und stellt die barmherzigen Pausen in unserem Dasein dar. Der wache Teil unseres Lebens gründet sich auf dem schlafenden. Dennoch scheinen Kopf und Geist alles daranzusetzen, die beiden Teile voneinander getrennt zu halten. Der zum Schlaf Bereite schließt die Tür, zieht die Vorhänge zu, macht das Licht aus und rollt sich unter einer Decke zusammen. Das Gesicht wird zugedeckt, die Augen schließen sich, so als ob der wachen Umwelt gegenüber nichts verraten werden sollte.

Seit wann existiert Schlaf? Heute wissen wir, dass alle Tiere, sogar Insekten, schlafen, doch war das schon immer so? Würmer entstanden vor über 500 Millionen Jahren während der kambrischen Explosion; anscheinend schliefen sie auch ab und zu.5 Wie die Dinosaurier schliefen, wissen wir nicht, auch wenn man Fossilien gefunden hat, die ruhende Dinosaurier gewesen sein könnten. Mei long Schlafender Drache auf Chinesisch – ist eines der bekanntesten Fossilien, ein Vogel-Dinosaurier aus der Kreidezeit, der in einer Körperhaltung gefunden wurde, die an heutige ruhende Vögel erinnert: der Kopf unter die Flügel gesteckt, die Hinterbeine unter dem Körper eingezogen.

Vor 14 Millionen Jahren noch schliefen alle Säugetiere für kürzere Perioden, oft nur jeweils für Minuten. Die Pierola-Affen (lat. Pierolapithecus catalaunicus), vielleicht Vorfahren sowohl der Menschen als auch der großen Menschenaffen, lebten auf der Iberischen Halbinsel und gehörten zu den ersten Primaten, die sich in den Baumwipfeln Nester bauten. So konnten sie sich vor den unten auf dem Boden lauernden Gefahren schützen und die Nächte durchschlafen. Das war der Beginn des langen, zusammenhängenden, nächtlichen Schlafs.6 Später lernten die Arten, die sich zu Menschen weiterentwickelten, das Feuer zu kontrollieren, und waren damit in der Lage, in Sicherheit und für längere Zeit auf dem Boden zu schlafen. Die Suche unserer Vorfahren nach einem nächtlichen Schlaf ohne Gefährdungen von außen bewirkte eine neue Richtung in der Evolution. Mit einem längeren Schlaf bekam man auch eine höhere Schlafqualität. Besonders der hohe Anteil an REM-Schlaf, das heißt Traumschlaf, hat zu heute wiedererkennbaren menschlichen Eigenschaften beigetragen: viele und komplexe Gefühle, Empathie, aber auch hoch entwickelte kognitive Fähigkeiten, ein gutes Erinnerungsvermögen und Kreativität. Man kann sogar behaupten, dass uns erst der zusammenhängende Schlaf – weit mehr als andere Dinge – zum Menschen gemacht hat.

Und doch scheint die Grenzlinie zwischen unseren Stunden im Wachzustand und denen, die wir im Schlaf verbringen, so unüberwindlich. Wie in den Tod, so können wir auch in den Schlaf nichts mit hineinnehmen oder mit herausbringen. Nachdem wir eine Mahlzeit zu uns genommen haben, können wir uns an alles erinnern: wie wir uns an den Tisch gesetzt haben, wie das Essen und die Getränke aufgetragen wurden, das Aussehen, den Duft und Geschmack der einzelnen Gerichte, wovon wir uns genommen haben, wie viel wir uns auf den Teller gelegt haben, was wir mochten, was nicht. Der Schlaf jedoch ist im Augenblick des Erwachens schon vergessen. Wir erinnern uns noch daran, wie müde wir waren, als wir ins Bett gingen, sind jetzt jedoch nicht mehr müde. Wir wissen, dass Zeit vergangen ist, wir haben jedoch keine Erinnerung an den Schlaf. Wo sind wir gewesen? Was haben wir gemacht? Es gibt keine Spuren am Körper, es gibt auch überhaupt keine anderen, um genau zu sein. Betrachten wir nur die Geschichte der Menschheit: Alles, was wir heute wissen, basiert auf dem Wachzustand des Menschen. Über den Schlaf und die Nacht wissen wir fast nichts.

Wir können uns an Träume erinnern, doch wenn wir sie nicht bewusst verarbeiten, sind die Eindrücke in Minuten hinweggeschwemmt. Die Eigenschaft des Schlafes, alle Spuren zu verwischen, zieht sich bis in den Wachzustand hinein. Die letzten Minuten vor dem Einschlafen werden, während wir schlafen, aus der Erinnerung gelöscht. Die Forschung zeigt, dass der Erinnerungsverlust während des Schlafes rückwirkende Kraft besitzt.7 Während des Einschlafens wurden Versuchspersonen kurze Wortgruppen vorgespielt. Diejenigen, die 30 Sekunden nach dem Einschlafen wieder geweckt wurden, konnten sich noch immer daran erinnern, was sie vor dem Einschlafen gehört hatten. Diejenigen aber, die erst nach 10 Minuten wieder geweckt wurden, vermochten das nicht. Einige von ihnen erinnerten sich auch nicht mehr an das, was sie noch 10 Minuten vor dem Einschlafen gehört hatten. Dass wir uns nicht an den Moment des Einschlafens und den kurz davorliegenden Zeitraum erinnern, kann auch erklären, warum wir uns nicht an kurzes nächtliches Aufwachen erinnern.

Der undurchdringliche Aspekt des Schlafes scheint auch die Fantasie rund um das Thema in Grenzen gehalten zu haben. Die Mythologie hat stets die wichtigsten Fantasien der Menschen widergespiegelt. Rund um Sex, Krieg, Tod und Rausch entstanden Götterwelten. Mythen über den Schlaf gibt es dagegen nur wenige. In der altnordischen Mythologie gibt es keinen Gott des Schlafes, das Einzige, was dem nahekäme, wäre die Riesin namens Natt (Nacht), ein sogenanntes Trollweib. Jede Nacht reitet sie auf ihrem Pferd Rimfakse, das seinen Speichel in Form von Morgentau auf dem Gras hinterlässt, über den Himmel. In der griechischen Mythologie gibt es zumindest einen eigenen Gott des Schlafes: Hypnos.8 Hypnos ist der Zwillingsbruder von Thanatos, dem Gott des friedlichen Todes. Das sagt etwas darüber, wie die Griechen den Schlaf einordneten. Der Gott des Schlafes lebt in seiner Höhle in Erebos, einem – laut griechischer Mythologie – Land in ewiger Finsternis, jenseits der Pforten zur aufgehenden Sonne. Vor Hypnos’ Höhle wachsen Mohnblumen und auf dem Kopf trägt er einen Kranz aus Mohnblumen. Weil Hypnos es nicht mag, von Geräuschen geweckt zu werden, gibt es in der Höhle weder knarrende Pforten noch Türen. Einer der fünf Flüsse der Unterwelt, der Fluss des Vergessens, fließt an Hypnos’ Höhle vorbei. Von dort aus kann der Gott des Schlafes nicht erkennen, ob es Tag oder Nacht ist, was ihn jedoch nicht daran hindert, jede Nacht, zusammen mit seiner Mutter Nyx, der Göttin der Nacht, an den Himmel zu steigen. In späteren europäischen Sagen kommt der Schlaf in Gestalt eines kleinen Mannes, der aus einem Sack magischen Sand in die Augen der Menschen streut, damit sie einschlafen und träumen können. In Skandinavien nennt man ihn Jon Blund oder Ole Lukkøye, auf Deutsch Sandmann und auf Englisch sandman. Er steht für das Träumen, nicht das Schlafen oder den Schlaf. Man versteht schnell, warum die Fantasie des Menschen den Traum vorzieht. Der Schlaf an sich ist handlungsleer, er ist die Pause, der leere Zwischenraum. Im Schlaf sind wir alle uns selbst überlassen. Allein in unseren Träumen handeln und fühlen wir, und durch diese Handlungen und Gefühle üben wir Mitmenschlichkeit. Allein in unseren Träumen können wir einander sehen.

Doch um träumen zu können, muss man zunächst erst einmal schlafen können.