Handbuch Ius Publicum Europaeum

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4. 1918–2009: Das Jahrhundert der Verfassungsgerichte

163

Zwischen 1918 und 1999, im Laufe einer von allerlei Unterbrechungen begleiteten Entwicklung, wird Europa buchstäblich von Verfassungsgerichten bevölkert. Dies ist wohl die Hauptneuerung, die das vorige Jahrhundert zur Verfassungskultur Europas beigetragen hat. Mit Sicherheit hat Europa parallel dazu fundamentale Fortschritte bei der Konstitutionalisierung seiner politischen Gemeinschaften auf nationaler Ebene erzielt. Idee und Praxis der demokratischen rechtsstaatlichen Verfassung wurden während dieser Zeit in Europa erst möglich gemacht. Es ist dennoch nicht zu übersehen, dass diese Errungenschaften in der Verfassungsgerichtsbarkeit ihren unersetzlichen Verfechter gefunden haben.

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Aus Gründen, die in engem Zusammenhang mit der Geschichte des Kontinents stehen, nahm dieser Verfechter die Form eines einzigartigen Gerichts an. Das war jedenfalls immer der Fall, wenn die Aufgabe, der Verfassung Normativität zu verleihen, ein bestimmtes Maß an Entschlossenheit und savoir faire verlangte. Aus der Perspektive der europäischen Implikationen der normativen Verfassung werden die Verfassungsgerichte das Abenteuer des Jahrhunderts bleiben.

IV. Gesamtrückblick: Das Evolutionäre der Verfassungsgerichtsbarkeit in Europa

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Evolution ist kein Markenzeichen der Verfassungsgerichtsbarkeit, weder in Europa noch anderswo. Die verschiedenen Bausteine des Rechtsstaates sind alle prinzipiell entwicklungsbedingt. Nun besitzt diese evolutionäre Beschaffenheit des Rechtsstaates im Falle der Verfassungsgerichtsbarkeit eine eigene Dichte, die es erlaubt, in Europa von einer evolutiven Identität der Verfassungsgerichtsbarkeit zu sprechen. Der Vergleich mit der europäischen Integration wäre hier nicht ganz unangebracht. So wie Integration per se evolutiv ist, so ist auch auf seine eigene Weise das Konzept der Verfassungsgerichtsbarkeit in Europa evolutiv. Diese evolutive Identität hat die Ausformungen der gerichtlichen Garantie der Verfassung diesseits des Atlantiks während der beiden Jahrhunderte ihres Bestehens begleitet. Im Grunde genommen war das Ganze nichts weiter als der lange evolutive Marsch zur Normativität der Verfassung in Europa.

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Im Laufe dieser europäischen Entwicklung kann der Kern des mos Europaeum, d.h. die konzentrierte Normenkontrolle, kaum in Zweifel gezogen werden. Seit 1920, vor allem aber seit 1945, bis zum heutigen Tage breiten sich Verfassungsgerichte wie ein Ölfleck in Europa unaufhaltsam aus. Das Organ, das zum Schutz der Verfassung geschaffen wurde, hat sich seinerseits mit einer eigenen Funktion, der Interpretation der Verfassung, ausgestattet. Aus rechtsvergleichender Sicht hat sich das europäische System der Normenkontrolle zum weltweit akzeptierten Modell entwickelt. Kaum eine andere Institution ist so europäisch wie diese.

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Die letzte Episode dieser Evolution bilden die Sturmböen der Europäisierung. Alle nationalen Verfassungsgerichte haben sie durchlitten, wie sie auch in ihrer eigenen Geschichte erzählen können. Das kombinierte Handeln der beiden supranationalen Gerichtshöfe verschont wenige der seit jeher anerkannten Grundsäulen der Verfassungsgerichtsbarkeit europäischer Prägung‚ das Verwerfungsmonopol an erster Stelle.

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Die Verfassungsgerichtsbarkeit – das kann zum jetzigen Zeitpunkt ohne weiteres festgestellt werden – hat in Europa eine Geschichte hinter sich. Die Frage ist jedoch, ob sie auch, angesichts der europäischen Konkurrenten, eine Zukunft hat. Dies ist jedoch keine Frage, die Gegenstand dieser Darstellung war, unabhängig von der Frage, ob in den vorhergehenden Darlegungen Anhaltspunkte für etwaige Antworten identifiziert werden könnten. In diesem Sinne kann davon ausgegangen werden, dass die nationalen Verfassungsgerichte angehalten sind, neue – und dazu gewagte – Schritte im Rahmen ihrer ständigen Evolution vorzunehmen, wenn auch das Endergebnis ungewiss sein mag.[285] Wohl möglich ist dies nicht das einzige Problem der Verfassungsgerichtsbarkeit in Europa. Es sei dennoch am Ende dieser Darstellung erlaubt, einer Überzeugung Ausdruck zu verleihen: dass die Verfassungsgerichtsbarkeit europäischer Prägung zu einem acquis constitutionnel von schwer zu übertreibenden Ausmaßen beigetragen hat. Dabei hat sie sich als ein unersetzbarer Akteur bei der Entstehung einer europäischen Verfassungskultur erwiesen. Dank dieses Verfassungserbes sollte sich Europa den aktuellen Herausforderungen gegenüber keineswegs wehrlos fühlen.

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Constance Grewe

§ 111 Die Verfassungsgerichtsbarkeit in ex-Jugoslawien in der Perspektive des europäischen Rechtsraums

I. Einleitung1 – 11

1. Ältere Vergangenheit: Der historische Kontext Jugoslawiens3 – 6

 

2. Jüngste Vergangenheit: Der mittel- und osteuropäische Transformationskontext7 – 9

3. Die Zukunft: Der europäische Rechtsraum10, 11

II. Europäischer Rechtsraum, sozialistische Rechtskultur und die transformatorische Rolle der Verfassungsgerichtsbarkeit12 – 24

1. Rechtskultur und Verfassungsgerichtsbarkeit13 – 17

2. Die sozialistische Rechtskultur und ihre (Un-)Vereinbarkeit mit dem europäischen Rechtsraum18 – 24

III. Die rechtliche Ausgestaltung der Verfassungsgerichte: jugoslawisches Erbe oder/und Aufbruch zum europäischen Rechtsraum?25 – 68

1. Die Verfassungsgerichte als Institutionen26 – 42

a) Zusammensetzung30 – 33

b) Wahlverfahren und Mandat34 – 40

c) Ausführung der Verfassung durch ein Gesetz oder eine Geschäftsordnung des Gerichts?41, 42

2. Verfassungsgerichtliche Verfahrensarten43 – 55

a) Abstrakte Normenkontrolle44 – 51

aa) Der historische Hintergrund45 – 48

bb) Die gegenwärtigen Regelungen49 – 51

b) Konkrete Normenkontrolle52

c) Die Verfassungsbeschwerde53

d) Die anderen Verfahren54

e) Die Praxis der Verfahrensarten55

3. Die Entscheidungen und ihre Rechtsfolgen56 – 68

a) Der historische Hintergrund56 – 58

b) Die gegenwärtigen Ausgestaltungen verfassungsgerichtlicher Entscheidungen59 – 68

aa) Das Zustandekommen der verfassungsgerichtlichen Entscheidungen59 – 63

bb) Die rechtlichen Wirkungen64 – 68

IV. Umfang und Grenzen des Verbunds im europäischen Rechtsraum69 – 134

1. Die Rolle der Verfassungsgerichte im nationalen politischen Kräftespiel72 – 112

a) Aktivismus als politische Opposition74 – 88

aa) Oppositionelle Strategien: allgemeine Trends im Kosovo und in Bosnien-Herzegowina77 – 79

bb) Gefolgschaftstreue Strategien: allgemeine Trends in Serbien, Mazedonien und Montenegro80 – 82

cc) Zwischen Aktivismus und Zurückhaltung: allgemeine Trends in Kroatien und Slowenien83 – 88

b) Aktivismus als Beitrag zur Transformation89 – 101

aa) Wichtige Inhalte im Hinblick auf verfassungsrechtliche Grundsätze90 – 95

bb) Politisch brisante Fragen96 – 101

c) Öffentliche Wahrnehmung und Legitimierung102 – 112

aa) Das gerichtliche Ansehen103 – 109

bb) Was tragen die Verfassungsgerichte selbst zu ihrer Legitimation bei?110 – 112

2. Die Rolle der Verfassungsgerichte im europäischen Rechtsverbund113 – 134

a) Auslegungsmethoden und juristisches Denken: zum Wandel der Rechtskultur114 – 119

aa) Art, Stil und Methoden der Auslegung115 – 117

bb) Urteilsstil118, 119

b) Das Verhältnis zum Völker- und Europarecht: Umsetzungs- und Übersetzungsfunktionen120 – 134

aa) Die EMRK122 – 124

bb) Das EU-Recht125 – 134

V. Schlussbemerkung135 – 138

Bibliographie

Allgemeine Hinweise


Abkürzungen:
BiH Bosnien-Herzegowina
EGMR Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte
EMRK Europäische Menschenrechtskonvention
JZ Juristenzeitung
Kos Kosovo
Kro Kroatien
Maz Mazedonien
Mon Montenegro
RS Republika Srpska
Ser Serbien
Slo Slowenien
V-BiH Verfassung Bosnien-Herzegowinas
V-Kos Verfassung des Kosovo
V-Kro Verfassung Kroatiens
V-Maz Verfassung Mazedoniens
V-Mon Verfassung Montenegros
V-Ser Verfassung Serbiens
V-Slo Verfassung Sloweniens
VGG Verfassungsgerichtsgesetz
VGGKos Verfassungsgerichtsgesetz Kosovo
VGGKro Verfassungsgerichtsgesetz Kroatien
VGGMon Verfassungsgerichtsgesetz Montenegro
VGGSer Verfassungsgerichtsgesetz Serbien
VGGSlo Verfassungsgerichtsgesetz Slowenien
VGBiH Verfassungsgericht Bosnien-Herzegowina
VGKos Verfassungsgericht Kosovo
VGKro Verfassungsgericht Kroatien
VGMaz Verfassungsgericht Mazedonien
VGMon Verfassungsgericht Montenegro
VGSer Verfassungsgericht Serbien
VGSlo Verfassungsgericht Slowenien
ZP Zusatzprotokoll
ZaöRV Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht

Verfassungen und Gesetze

 

Verfassungen:

Verfassung Bosnien-Herzegowina vom 14.12.1995:

https://www.legislationline.org/download/action/download/id/3203/file/BiH_Constitution_1995_amended2009_en.pdf [Englisch, zuletzt geändert: 2009]

Verfassung Kosovo vom 9.4.2008:

http://www.kryeministri-ks.net/repository/docs/Constitution1Kosovo.pdf [Englisch, zuletzt geändert: 2008]

Verfassung Kroatien vom 21.12.1990:

http://verfassungen.eu/hr/verf90-i.htm [Deutsch, zuletzt geändert: 2010],

https://www.usud.hr/sites/default/files/dokumenti/The_consolidated_text_of_the_Constitution_of_the_Republic_of_Croatia_as_of_15_January_2014.pdf [Englisch, zuletzt geändert: 2014]

Verfassung Mazedonien vom 17.11.1991:

https://www.sobranie.mk/the-constitution-of-the-republic-of-macedonia.nspx [Englisch, zuletzt geändert: 2014]

Verfassung Montenegro vom 22.10.2007:

http://www.wipo.int/edocs/lexdocs/laws/en/me/me004en.pdf [Englisch, zuletzt geändert: 2007], http://www.skupstina.me/images/documents/constitution/amendments_I_to_XVI_to_the_constitution_of_montenegro.pdf [Englisch, zuletzt geändert: 2013]

Verfassung Serbien vom 30.9.2006:

http://www.wipo.int/wipolex/en/details.jsp?id=7378 [Englisch, zuletzt geändert: 2006]

Verfassung Slowenien vom 23.12.1991:

http://www.verfassungen.eu/sl/verf91-i.htm [Deutsch, zuletzt geändert: 2013], http://www.us-rs.si/media/constitution.pdf [Englisch, zuletzt geändert: 2013]

Verfassungsgerichtsgesetze:

Rules of procedure Bosnien-Herzegowina in der Fassung vom 27.11.2014:

http://www.ccbh.ba/osnovni-akti/pravila-suda/uvod/?title=uvod&second=true

VGG Kosovo vom 16.12.2008:

http://www.confeuconstco.org/en/congress/congress-XVI/Law_of_the_Constitutional_Court_of_Republic_of_Kosovo_-_E.pdf

VGG Kroatien vom 3.5.2002:

https://www.usud.hr/en/constitutional-act

Rules of procedure Mazedonien vom 9.11.1992:

http://www.ustavensud.mk/domino/WEBSUD.nsf

VGG Montenegro vom 27.10.2008:

http://www.ustavnisud.me/ustavnisud/skladiste/blog_2/obajava_105/fajlovi/Law on the Constitutional Court of Montenegro.pdf

VGG Serbien vom 28.11.2007 in der Fassung vom 14.12.2015:

http://www.ustavni.sud.rs/page/view/en-GB/237-100030/law-on-the-constitutional-court

VGG Slowenien vom 15.7.2007:

http://www.us-rs.si/media/constitutional.court.act.full.text.pdf

Gerichtliche Entscheidungen:

Die Entscheidungen der Verfassungsgerichte sind, soweit sie ins Englische übersetzt wurden, auf den Websites der jeweiligen Gerichte zu finden:


Bosnien-Herzegowina: www.ccbh.ba/?lang=en
Kosovo: www.gjk-ks.org/en
Kroatien: www.usud.hr/en
Mazedonien: www.ustavensud.mk/?page_id=5228&lang=en
Montenegro: www.ustavnisud.me/ustavnisud/index.php
Serbien: www.ustavni.sud.rs/page/home/en-GB
Slowenien: www.us-rs.si/en

I. Einleitung[*]

1

Ganz unterschiedliche Entwicklungslinien haben zur Entstehung der europäischen Verfassungsgerichtsbarkeit beigetragen.[1] In Jugoslawien und seinen Nachfolgestaaten scheinen viele dieser Linien zusammenzulaufen. Die föderale Struktur spielte im ehemaligen Jugoslawien offenbar keine bedeutende Rolle,[2] die Spannung zwischen staatlicher und gesellschaftlicher Organisation war wesentlich wichtiger. Für die heutigen Verfassungsgerichte kommt dem föderalen Faktor höchstens in Bosnien-Herzegowina, dem einzig noch verbliebenen föderalen Staat,[3] Bedeutung zu. Dagegen kann die Verfassungsgerichtsbarkeit und ihre Transformationsrolle in allen ex-jugoslawischen Staaten als Reaktion auf autoritäre Herrschaft gedeutet werden. Die dritte auf die Integration im Europarat[4] abstellende Entwicklungslinie ist hier ebenfalls einschlägig. Der Übergang zur Demokratie sollte auch in ex-Jugoslawien die Zugehörigkeit zu Europa und zum europäischen Rechtsraum signalisieren. Gleichzeitig sollte nicht übersehen werden, dass die Einrichtung von Verfassungsgerichten im post-kommunistischen Mittel- und Osteuropa so selbstverständlich erschien, dass diese Institution in der Lehre kaum problematisiert wurde.[5] Jedenfalls spielen hier normativistische Anliegen wie der von Kelsen befürwortete Stufenbau der Rechtsordnung, auf den sich die Einrichtung eines Verfassungsgerichts gründen sollte, eine untergeordnete Rolle. Insofern ist es auch nicht verwunderlich, dass es ein „Modell“ der europäischen Verfassungsgerichtsbarkeit, das den Vergleich der sieben ex-jugoslawischen Verfassungsgerichte erheblich erleichtern würde, nicht gibt.[6] Die gegenwärtige Landschaft der Verfassungsgerichtsbarkeit ist im Gegenteil durch zahlreiche Differenzierungen und neuere, teilweise aus anderen Rechtsordnungen übernommene, Entwicklungen gekennzeichnet.[7]

2

Um sowohl die nationalen Eigenheiten zu respektieren als auch die Gemeinsamkeiten der ex-jugoslawischen Verfassungsgerichte zu unterstreichen, muss der Vergleich daher einen Mittelweg suchen. Dieser kann in einer Zusammenschau von Vergangenheit und Zukunft gefunden werden, wobei die Vergangenheit im historischen Kontext und die Zukunft im Mitwirken am europäischen Rechtsraum verkörpert ist.