Handbuch Ius Publicum Europaeum

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III. Die rechtliche Ausgestaltung der Verfassungsgerichte: jugoslawisches Erbe oder/und Aufbruch zum europäischen Rechtsraum?

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Es ist nicht immer leicht, die nunmehr geltenden Vorschriften über die Verfassungsgerichtsbarkeit entweder dem historischen Erbe oder dem Transformationsprozess zuzuordnen, so zahlreich und unterschiedlich sind die Aspekte der Verfassungsgerichtsbarkeit. Dabei sind vor allem die Unabhängigkeit, Legitimität und Autorität der Gerichte fördernde Faktoren wesentlich. Dies möchte ich hier näher anhand der institutionellen Stellung (1.), der Kontrollbefugnisse (2.) und der Entscheidungen (3.) ausführen.

1. Die Verfassungsgerichte als Institutionen

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In den ehemals jugoslawischen Staaten ist die Verfassungsgerichtsbarkeit wesentlich älter als in den anderen mittel- und osteuropäischen Ländern. Diese lange Tradition hat dazu geführt, dass viele der heute noch geltenden Regelungen aus jugoslawischem Erbe stammen. Ein kurzer historischer Überblick soll deshalb als Einleitung für die nähere Erläuterung der gegenwärtigen institutionellen Gestalt dienen.

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Ausschlaggebender Grund für die Errichtung eines Verfassungsgerichts im Bund und den sechs Republiken der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien durch die Verfassung von 1963[42] war, wie bereits erwähnt, die Einführung der Selbstverwaltung. In einem sozialistischen Staat, wo die Einheit der politischen Macht hochgehalten wird, mutet diese Lösung höchst heterodox an und wurde auch von der Lehre zum Teil heftig angegriffen. Doch verfocht nicht nur Kardelj, der verfassungsrechtliche „Chef-Ideologe“, die Idee der Verfassungsgerichtsbarkeit,[43] sie hatte auch durchaus praktischen Erfolg und wurde nach der Reform von 1971 durch die Verfassung von 1974 weitgehend bestätigt.

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Das Bundesverfassungsgericht, ein Verfassungsorgan der SFRJ, bestand zunächst aus elf Bundesrichtern, die vom Staatspräsidenten vorgeschlagen und vom Bundesrat gewählt wurden. Dies galt auch für die Wahl des Vorsitzenden. Die Gesamtzahl der Bundesverfassungsrichter wurde auf vierzehn erhöht, nachdem die autonomen Provinzen ab 1971 ihr eigenes Verfassungsgericht erhalten hatten. Sie wurden von nun an von den Republiken (zwei aus jeder Republik) und den Provinzen (einer aus jeder Provinz) bestellt. Außerdem wurde das Rotationssystem für den Gerichtsvorsitz eingeführt, der ab 1981 im Jahresturnus wechselte. Das Richtermandat betrug acht Jahre,[44] wobei die Hälfte der Richterstellen alle vier Jahre neu besetzt wurde. Von den Kandidaten wurde keine besondere berufliche Qualifikation verlangt. Eine Absetzung war nur in abschließend aufgeführten Fällen möglich. Ganz offensichtlich war die Unabhängigkeit[45] des Gerichts unzureichend gesichert: Zum ersten wegen der Kontrolle durch die Partei und der Parteimitgliedschaft der Richter; zum zweiten konnte die dezentralisierte Richterbestellung zur Abhängigkeit der Bundesverfassungsrichter von der Republik oder Provinz führen, die sie ernannten.

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Die Frage, worin sich die heutigen Lösungen in den ex-jugoslawischen Staaten von diesem historischen Modell unterscheiden, erscheint umso wichtiger, als die institutionelle Ausgestaltung der Verfassungsgerichtsbarkeit einen besonders bedeutenden Faktor für die Vitalität und damit die Legitimierung der Verfassungsgerichte bildet. Wie sind also die Zusammensetzung der Verfassungsgerichte, das Richterwahlverfahren, das richterliche Mandat und seine Ausführung geregelt?

a) Zusammensetzung

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In der Mehrzahl der ex-jugoslawischen Länder besteht das Verfassungsgericht aus neun Richterinnen und Richtern; nur in Kroatien und Serbien ist die Anzahl höher.[46] Besonders zu erwähnen sind unter diesem Gesichtspunkt die Frage der ethnischen Zugehörigkeit bei der Zusammensetzung der Gerichte, in gewisser Weise ein Erbe der Vergangenheit, sowie die hybriden Gerichte in Bosnien-Herzegowina und im Kosovo, die in Zusammenhang mit dem Transformationsprozess zu sehen sind.

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Die Frage der Ethnizität beeinflusst die Zusammensetzung der Verfassungsgerichte im Kosovo[47] und in Mazedonien[48] naturgemäß weniger als die des bosnischen Verfassungsgerichts.[49] Im Kosovo stammen in der Regel zwei und in Mazedonien drei der Richter aus den nationalen Minderheiten. Die bosnische Regelung dagegen zeigt eine enge Verwandtschaft mit der jugoslawischen Verfassung von 1974. In Bosnien-Herzegowina werden heute vier der sechs nationalen Richter vom Parlament der Föderation Bosnien und Herzegowina und zwei vom Parlament der Republika Srpska (RS) bestellt. Das zentralstaatliche Parlament spielt bei der Richterwahl keine Rolle, auch wenn seine Gesetze vom Verfassungsgericht geprüft werden können. Damit besteht die Gefahr einer Abhängigkeit des Gerichts von den Gliedstaaten, die zwar womöglich durch die lange Amtszeit bis zum Erreichen der Altersgrenze von 70 Jahren[50] etwas gemildert wird, aber doch die schwache Position des Zentralstaats unterstreicht. Außerdem wirkt sich diese Regelung auf die ethnische Zusammensetzung aus, da es sich bei den aus der Föderation gewählten Richtern regelmäßig um zwei Bosniaken und zwei Kroaten handelt, während die beiden in der RS Gewählten Serben sind. Das Resultat ist sowohl eine beachtliche Politisierung als auch eine ethnische Polarisierung, die bei politisch wichtigen Entscheidungen immer wieder zum Tragen kommt.[51] Und doch wird dieses jugoslawische Erbe oft als Element oder gar als Voraussetzung des Transformationsprozesses angesehen.[52] Es gehört heutzutage unzweifelhaft zum Kern der bosnischen Verfassung.

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Im Gegensatz dazu stellt sich die Hybridität als Element der Internationalisierung der kosovarischen und der bosnischen Verfassung dar. Die Präsenz internationaler Richter wird von der bosnischen Verfassung ausdrücklich vorgeschrieben, während sie im Kosovo lediglich in die verfassungsrechtlichen Übergangsregelungen[53] aufgenommen wurde und seit 2018, als das Mandat von vier Richtern endete, nicht mehr besteht. In beiden Ländern kommen bzw. kamen bis 2018 zu den sechs nationalen Richtern drei internationale hinzu. Letztere werden in Bosnien-Herzegowina vom Präsidenten des EGMR in Konsultation mit der bosnischen Präsidentschaft, im Kosovo durch den internationalen Zivilrepräsentanten nach Konsultation mit dem Präsidenten des EGMR ernannt.

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In beiden Ländern fallen die Stellungnahmen zum Einfluss der internationalen Richter und deren Beitrag zur Unabhängigkeit und Legitimierung des Gerichts unterschiedlich aus. Zwar wird jeweils die Expertise internationaler Richter und die Idee des pouvoir neutre unterstrichen, gleichwohl scheint nunmehr die Meinung vorzuherrschen, dass die nationalen Richter inzwischen in der Lage sind, allein das Ansehen und die Autorität des Gerichts zu wahren.[54] In Bosnien-Herzegowina ist der Wunsch nach einem rein national besetzten Verfassungsgericht wesentlich stärker ausgeprägt als im Kosovo, obwohl in der bosnischen Verfassung Hybridität und Ethnizität so eng miteinander verbunden sind, dass es schwierig – bzw. unmöglich – ist, sozialistische Kontinuität und demokratische Transformation auseinander zu halten. Im Kosovo hingegen, wo zwar seit 2018 keine internationalen Richter mehr im Verfassungsgericht sitzen, war die internationale Beteiligung immer angesehener als in Bosnien.

b) Wahlverfahren und Mandat

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In der Perspektive des europäischen Rechtsraums und vom demokratischen Gesichtspunkt aus scheint die Wahl durch das Parlament, wenn möglich sogar mit einer qualifizierten Mehrheit, erstrebenswert.[55] Gleichwohl führt dieser Wahlmodus fast unausweichlich zu einer beträchtlichen Politisierung der Gerichte. Dies gilt auch in Bezug auf die Verfassungsgerichte ex-Jugoslawiens, denn mit Ausnahme von Serbien und dem Kosovo haben sich alle ehemaligen jugoslawischen Staaten für eine parlamentarische Richterwahl entschieden.

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Die Richterwahl findet teilweise nach alten jugoslawischen Rezepten statt. Das heißt zum einen, dass die jeweiligen Vorschriften nichts oder wenig über die Auslese der Kandidaten und deren fachliche Kompetenzen aussagen und dass zum anderen für die Wahl eine einfache Mehrheit vorgesehen ist. Letzteres ist der Fall in Slowenien, Bosnien-Herzegowina und Mazedonien. Derzeit (November 2018) sieht der berufliche Hintergrund der Verfassungsrichterinnen und -richter in Slowenien, Bosnien-Herzegowina und Mazedonien folgendermaßen aus: Von den neun slowenischen Richterinnen und Richtern kommen sechs aus der Rechtswissenschaft, zwei aus der Richterschaft und eine Richterin war zuvor in der Justizverwaltung tätig. Drei der sechs nationalen Mitglieder des bosnischen Verfassungsgerichts waren im öffentlichen Dienst, vor allem in der Justiz und den Parlamenten beschäftigt, einer ist Professor, ein anderer war Justizminister und Richter in der Menschenrechtskammer,[56] der sechste war in Privatunternehmen und als Rechtsanwalt tätig. Von den internationalen Mitgliedern des Gerichtshofs kommen zwei aus der Richterschaft und einer aus der Rechtswissenschaft. Das mazedonische Gericht hat bis 2018 mit nur sechs statt neun Mitgliedern[57] funktioniert, ist aber gegenwärtig wieder voll besetzt; davon haben sechs einen Hintergrund in der Justiz, eines in der parlamentarischen Verwaltung, eines als Professor und eines im diplomatischen Dienst.

 

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In Montenegro und Kroatien wurden kürzlich die Regelungen zur Richterwahl reformiert. Die Auslese der Kandidaten wird insbesondere durch Anhörungen sowie Anforderungen bezüglich der beruflichen Qualifikation – wie viel Erfahrung, welcher berufliche Hintergrund – sehr viel deutlicher vorgegeben. Ferner ist jeweils eine Zweidrittelmehrheit im Parlament für die dreizehn kroatischen und die sieben montenegrinischen Richterinnen und Richter vorgeschrieben. Nähert sich diese Art der Regelung deutlich den europäischen Standards, so ist doch zu beachten, dass die hier interessierenden Staaten noch keine konsolidierten Demokratien sind und dass infolgedessen der politische Druck intensiv sein kann. So erklärt sich wohl, dass das kroatische Parlament mehrmals nicht in der Lage war, die notwendige Mehrheit zur Wahl zu erreichen und das Verfassungsgericht über immer weniger Richterinnen und Richter verfügte. Kurz vor seinem mutmaßlichen Kollaps mangels Besetzung konnten im Juni 2016 gleich zehn Personen erneut oder erstmalig ins Richteramt gewählt werden, so dass das Gericht jetzt mit dreizehn Mitgliedern besetzt ist. Ob es nunmehr gelingen wird, der Politisierung Einhalt zu gebieten, scheint allerdings fraglich. Zurzeit (2018) amtieren sechs ehemalige Politikerinnen und Politiker und sechs Richterinnen und Richter bzw. Anwältinnen und Anwälte sowie ein Rechtswissenschaftler; sechs von ihnen besitzen einen Doktortitel und einer ist Professor. Mehrere Skandale ohne Konsequenzen für die betroffenen Verfassungsrichterinnen und -richter haben im Übrigen das Ansehen des Verfassungsgerichts beschädigt.[58] Der berufliche Hintergrund der montenegrinischen Verfassungsrichterinnen und -richter stellt sich 2018 folgendermaßen dar: eine Richterin und ein Richter, zwei Politiker, eine Referentin und ein Referent im Verfassungsgericht und ein Professor, der gleichzeitig Führungsstellen in der Industrie bekleidete.

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Im Kosovo und in Serbien gilt ein anderes Bestellungsverfahren. Im Kosovo wurden zunächst vier und jetzt sieben nationale Verfassungsrichter im Zusammenwirken von einer Zweidrittelmehrheit im Parlament mit dem Staatspräsidenten ernannt. Die beiden übrigen aus den Minderheiten kommenden Richter werden von einer einfachen Mehrheit, jedoch mit Zustimmung der Mehrheit der die Minderheiten repräsentierenden Abgeordneten gewählt (sogenannte „Badinter-Mehrheit“). Von diesen sind derzeit (2018) drei Professoren, die als Diplomat und Regierungsberater aktiv in der Politik mitgewirkt haben, zwei waren als Juristinnen in NGOs oder internationalen Organisationen beschäftigt, einer war Rechtsberater der Regierung und verschiedener internationalen Organisationen, einer war Rechtsanwalt, Richter und Minister, einer war Staatsanwalt und die Präsidentin sowie ein Richter waren im diplomatischen Dienst und in der Rechtsberatung in einer NGO tätig; der serbische Richter war Referent am Verfassungsgericht und in der Zollverwaltung tätig, ihm droht eine Gefängnisstrafe in Serbien wegen Korruption.[59] Die Karrieren der bis 2018 amtierenden internationalen Richterin bzw. des internationalen Richters[60] sind beeindruckend: sie waren beide sowohl in ihrem Heimatland an Gerichten als auch in der Rechtswissenschaft tätig und arbeiteten bereits davor im Ausland an internationalisierten und internationalen Gerichten.

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Die serbische Lösung stellt eine bedeutsame Ausnahme dar. Italien ist hier das Vorbild,[61] da die fünfzehn Verfassungsrichter von den drei Gewalten, dem Parlament, dem Staatspräsidenten und dem Kassationshof, gewählt oder ernannt werden, wobei jede Institution fünf Personen aus einer Liste von zehn auswählt. Allerdings ist weder ersichtlich, wie diese Listen zustande kommen noch wie die berufliche Qualifizierung der Kandidaten bewertet wird. Anscheinend hat diese gemischte Ernennung die Politisierung keineswegs vermindert und auch die Unterbesetzung des serbischen Verfassungsgerichts nicht verhindert.[62] Gegenwärtig (2018) stellt sich das berufliche Profil als recht ausgeglichen dar, da sieben der Richterinnen und Richter aus Gerichten kommen, sieben aus akademischen Kreisen und eine aus einer Beamtenstellung in der Politik. Es ist also festzuhalten, dass keines dieser Wahlverfahren wirklich befriedigend erscheint: der Kontext von noch nicht konsolidierten Demokratien mit politischen „Unsitten“ aus rechtsnihilistischen Überbleibseln scheinen dem im Wege zu stehen. Dennoch sind Annäherungen an die Standards des europäischen Rechtsraums zu verzeichnen, obwohl auch hier zum Teil Verbesserungen wünschenswert wären.

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Im Hinblick auf das Richtermandat sind für die Unabhängigkeit des Verfassungsgerichts drei Faktoren erheblich: die Länge des Mandats, die Möglichkeit der Wiederwahl und einer vorzeitigen Beendigung.

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In den meisten der hier besprochenen Länder beträgt die Dauer des Richtermandats neun Jahre, in Kroatien nur acht, in Montenegro dagegen zwölf und in Bosnien-Herzegowina lebenslang, das heißt bis zum Alter von siebzig Jahren. Nur in Serbien und Kroatien ist eine Wiederwahl möglich. Die richterliche Unabhängigkeit soll des Weiteren dadurch geschützt werden, dass das Mandat nur aus wenigen abschließend aufgezählten Gründen vorzeitig enden kann. Diese sind Rücktritt, Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe oder Unfähigkeit, das Amt weiter zu bekleiden, wobei Unfähigkeit sowohl in einer Krankheit als auch in einer beruflichen Nachlässigkeit bestehen kann. Die serbische Verfassung nennt daneben auch Interessenskonflikte. Bisher sind diese Vorschriften nur in Bosnien-Herzegowina zur Anwendung gekommen.[63]

c) Ausführung der Verfassung durch ein Gesetz oder eine Geschäftsordnung des Gerichts?

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Die verfassungsrechtlichen Bestimmungen sind zwar ein guter Ausgangspunkt, aber meistens unzureichend, um die institutionelle Position eines Verfassungsgerichts ausreichend zu bestimmen. In den meisten westeuropäischen Staaten wie auch in der Mehrzahl der ehemals jugoslawischen Länder sind zu diesem Zweck Verfassungsgerichtsgesetze (VGG) erlassen worden. Oft beschließt außerdem das Verfassungsgericht eine Geschäftsordnung. In manchen Ländern hat man jedoch auf ein Gesetz verzichtet und dem Verfassungsgericht Regulierungsautonomie eingeräumt. Dies gilt für Mazedonien und Bosnien. Die Venedig-Kommission hat diese Lösung kritisiert mit dem Hinweis darauf, dass die Verfassungskonkretisierung normalerweise dem Gesetzgeber zusteht.[64] Gleichwohl ist zu bedenken, dass in diesen schwachen Übergangsstaaten der von einer parlamentarischen Mehrheit ausgehende Druck so stark sein kann, dass ein Verfassungsgerichtsgesetz die gerichtliche Unabhängigkeit empfindlich beeinträchtigen könnte.

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Was ist aus diesem institutionellen Arrangement zu schließen?[65] Wohl einerseits, dass zahlreiche Regelungen heutzutage viel detaillierter ausfallen als in der Vergangenheit und sich insofern den Standards des europäischen Rechtsraumes annähern. Andererseits aber garantieren auch diese Standards keine optimale Unabhängigkeit und schließlich bleibt jeweils zu fragen, ob und inwieweit europäische Standards für den post-jugoslawischen Kontext geeignet sind. Wenn das gespannte Verhältnis zwischen Legislative und Verfassungsgericht zum Hinausschieben von Richterwahlen, zum Kürzen des richterlichen Gehalts oder der finanziellen Mittel des Gerichts führt, dann ist die gerichtliche Unabhängigkeit und Legitimität unmittelbar bedroht.

2. Verfassungsgerichtliche Verfahrensarten

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Die verschiedenen Verfahren machen Aussagen über den angestrebten Umfang des Schutzes und die Ausstrahlung der Verfassung. Sie gestalten sowohl den Zugang zu den Gerichten als auch die Instrumente, mithilfe derer diese sich mehr oder weniger Macht, Einfluss oder Ansehen verschaffen können.[66] Im ehemaligen Jugoslawien dominierte die abstrakte Normenkontrolle (a.). In den Nachfolgestaaten haben sich neben speziellen Verfahren die konkrete Normenkontrolle (b.) und die Verfassungsbeschwerde (c.) etabliert.

a) Abstrakte Normenkontrolle

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Da die abstrakte Normenkontrolle die wichtigste Zuständigkeit des ehemaligen jugoslawischen Verfassungsgerichts ausmachte, scheint es geboten, den historischen Hintergrund kurz vor der Darstellung der gegenwärtigen Regelungen zu beleuchten.

aa) Der historische Hintergrund

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Die abstrakte Normenkontrolle, wichtigste Kompetenz des jugoslawischen Bundesverfassungsgerichts, betraf alle möglichen allgemeinen Akte der Staats-, Republik- und Selbstverwaltungsorgane, soweit das Bundesrecht den Prüfungsmaßstab bildete. Ging es hingegen um Probleme der Vereinbarkeit mit dem Recht der Republiken, so waren deren Verfassungsgerichte zuständig. Die sogenannten allgemeinen Akte umfassten sowohl Gesetze des Bundes, der Republiken und der Provinzen als auch Verordnungen der Exekutivorgane und die unzähligen Entscheidungen, Empfehlungen, Pläne, Resolutionen der Bundesversammlung und aller Selbstverwaltungsorgane. In der Praxis betrafen bei weitem die meisten Fälle Akte der Selbstverwaltungsorgane, wie Betriebsverfassungen oder Abgabensatzungen. Die Normenkontrolle erstreckte sich jedoch weder auf Verfassungs- oder Verfassungsänderungsgesetze noch auf individuelle Rechtsakte.[67]

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Auch die Antragsberechtigung war großzügig geregelt: alle höchsten Bundesorgane, die obersten Gerichte (auch außerhalb der konkreten Normenkontrolle), die Republikverfassungsgerichte sowie die Selbstverwaltungsorgane, soweit sie in ihren Rechten verletzt waren, konnten das Gericht anrufen. Außerdem stand es jedem Bürger zu, dem Gericht eine Prüfung „vorzuschlagen“. Letzteres entschied, ob es daraufhin ein Verfahren einleiten wollte oder nicht. Alternativ konnte es auch aus eigener Initiative tätig werden; das geschah gerade auch dann häufig, wenn Bürger eine Prüfung anregt hatten, ohne dass dies als direkte Reaktion auf die Anregung verstanden wurde.

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Neben der Normenkontrolle übte das Gericht Gutachter- und Beratungsfunktionen aus und nahm auf diese Weise am politischen Willensbildungsprozess teil. Es ist bezeichnend, dass die sensible Frage der Vereinbarkeit der Republikverfassungen mit der Bundesverfassung nicht in das Verfahren der Normenkontrolle aufgenommen, sondern im Wege eines dem Bundesparlament zugeleiteten, nicht bindenden Gutachtens des Verfassungsgerichts geklärt wurde. Das Verfassungsgericht war ebenfalls für Organstreitigkeiten und Kompetenzkonflikte zuständig. In der Praxis haben diese Verfahren jedoch nur eine untergeordnete Rolle gespielt.

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Zusammenfassend kann die jugoslawische Normenkontrolle als ein recht breit gefasstes, aber wenig differenziertes Verfahren bezeichnet werden. Dennoch wurden wichtige Teile davon in die Verfassungsgerichtsbarkeit der jugoslawischen Nachfolgestaaten übernommen.